03 Ursachen und Dimensionen des Artensterbens

Autor: Niklas Vogel

Schlussstrich für die Sinfonie des Lebens?

Wenn uns Tiere so nahestehen – warum machen wir ihnen das Leben so schwer? Laut Weltbiodiversitätsrat sind bis zu 1 Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, etwa ein Achtel der angenommenen Gesamtartenzahl. Manche Wissenschaftler*innen sprechen vom sechsten großen Massenaussterben – das fünfte bedeutete vor 65 Millionen Jahren das Ende der typischen Dinosaurier. Zwar erholen sich die Bestände mancher Arten – wie Finnwal, Berggorilla und Waldrapp-Ibis –, andererseits verschärft sich die Lage gar für „Allerweltstiere“: So steht etwa die Hälfte der hessischen Schmetterlings- und Wildbienenarten auf Roten Listen als bestandsgefährdet.

Was bedeutet es, wenn immer mehr Arten fehlen?

Nie in der Menschheitsgeschichte starben Arten rasanter aus als heute, korrekter: Nie wurden sie rasanter ausgerottet. Und daraus ergeben sich zahlreiche Fragen, die auch unsere Zukunft betreffen. Denn die Stabilität und das Gleichgewicht der Ökosysteme sind die Grundlage auch unseres Überlebens. Sie beeinflussen etwa unsere Gesundheit und unsere wirtschaftlichen Perspektiven. Dahinter steckt ein unendlich komplex verflochtenes Miteinander aller Lebewesen. Was bedeutet es, wenn in diesem Geflecht immer mehr Arten fehlen? Warum fällt es uns so schwer, die Ruder herumzureißen, wenn es um den Schutz der Tierarten geht? Rigorose Einschnitte greifen in Fällen wie der Corona-Pandemie ja auch und zwar kurzfristig – wohingegen das Artensterben schon seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten bekannt ist.

Wie ist es um unsere Tierliebe bestellt, dass sie in so einer existenziellen Situation nicht zum weltweiten Aufschrei führt? Flüchten wir uns lieber in Idealwelten? Versagen internationale Übereinkommen und Regelwerke wie das Washingtoner Artenschutzabkommen? Was sind die wichtigsten Ursachen der aktuellen Ausrottungswelle? Und an welchen Stellen können wir etwas verändern?

Folge 3 anhören:

Sendung in hr-iNFO: 19.12.2020, 11:30 Uhr

Gesprächspartner*innen dieser Folge

  • Prof. Dr. Angelika Brandt, Meeresbiologin (Schwerpunkt: Krebstiere und Tiefsee) Senckenberg Naturmuseum und Forschungsinstitut Frankfurt, Goethe-Universität Frankfurt
  • Prof. Dr. Thomas Hickler, Biogeograph (Schwerpunkt: Quantitative Biogeographie und Ökosystemforschung), Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (BiK-F), Goethe-Universität Frankfurt
  • Dr. Ulrich Frommer, Insektenforscher, Gießen Arbeitsgemeinschaft Hessischer Hymenopterologen
  • Dr. Kai Füldner, Direktor (Zoologe und Forstwissenschaftler) Naturkundemuseum im Ottoneum, Kassel
  • Thomas Norgall, stv. Geschäftsführer und Naturschutzreferent BUND Hessen
  • Prof. Dr. Gerhard Reese, Sozial- und Umweltpsychologe Universität Koblenz-Landau
  • Dr. Andreas Segerer, Schmetterlingsforscher, Zoologische Staatssammlung München

Zusatzmaterial

  1. Die Argehehym
  2. Ursprung der „Roten Liste“
  3. Aussterben, ein alltäglicher Prozess
  4. Der Mensch und das Insektensterben
  5. Krefelder Studie
  6. Biodiversität
  7. Ökologische Nische
  8. Massenaussterben der Geschichte
  9. Strukturelle Veränderungen der Landschaft
  10. Fichtensterben
  11. Buchtipp

1. Die Argehehym

Die Arbeitsgemeinschaft Hessischer Hymenopterologen (Argehehym) wurde 1996 als Teil der Akademie für Natur- und Umweltschutz (NZH) in Wetzlar ins Leben gerufen. Sie dient Fachleuten und interessierten als Informations- und Austauschstelle rund um die Tiergruppe Hymenoptera, zu der etwa Bienen, Wespen und Ameisen zählen.

https://arbeitsgemeinschafthessischerhymenopterologen.wordpress.com/

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2. Ursprung der „Roten Liste“

Die Rote Liste der gefährdeten Arten wurde 1964 von der Nichtregierungsorganisation IUCN („International Union for Conservation of Nature“, deutsch etwa: „Internationale Union zur Erhaltung der Natur“, kurz auch: „Weltnaturschutzorganisation“) ins Leben gerufen. Sie bewertet die Gefährdung von Arten nach streng wissenschaftlichen Kriterien in einer Spanne von „nicht gefährdet“ bis „ausgestorben“ und berücksichtigt dabei Aspekte wie die Gefährdung des Lebensraumes oder eventuell laufende Schutzmaßnahmen. Bisher wurden etwa 120.000 der fast 2 Millionen bekannten Arten von der IUCN erfasst. Weltweit wird die „Rote Liste“ von Regierungen und Organisationen als Informationsquelle herangezogen.

https://www.iucnredlist.org/

Rote Listen für Deutschlands gefährdete Tier- und Pflanzenarten, Biotoptypen sowie Pflanzengesellschaften werden vom Bundesamt für Naturschutz herausgegeben:

https://www.bfn.de/themen/rote-liste.html

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3. Aussterben, ein alltäglicher Prozess

Das Aussterben und die Entstehung von Arten sind alltägliche Prozesse und eine natürliche Folge der Evolution. Die sich ständig verändernden Umweltbedingungen stellen die Lebewesen der Erde kontinuierlich auf die Überlebensprobe. Dabei hängt das Überleben einer Art davon ab, ob sie Veränderungen tolerieren oder in Lebensräume mit vorteilhafteren Bedingungen auswandern kann. Ist dies nicht der Fall, können die Individuen der Art nicht überleben und ihre Gene nicht weitergeben. Jedoch schaffen neue Bedingungen und Anpassungen durch natürliche Selektion die Grundlage für die Entstehung neuer Arten.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/selektion/60907

Ein bekanntes Beispiel für die erfolgte Anpassung einer Art an veränderte Umweltbedingungen ist der Birkenspanner (Biston betularia). Dies wird im folgenden Artikel ausführlich erläutert.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/birkenspanner/8913

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4. Der Mensch und das Insektensterben

Die Zerstörung natürlicher Lebensräume durch intensive landwirtschaftliche Nutzung ist nach Ansicht der meisten Expert*innen die entscheidende Triebkraft für das Insektensterben. Neben dem Verlust weiterer Habitate durch den Flächenbedarf für Wohnraum, Gewerbe und Infrastruktur, spielen Faktoren wie Umweltgifte oder die globale Erwärmung ebenfalls eine große Rolle. Zudem stören Lichter von Städten und Siedlungen die Orientierung nachaktiver Insekten und somit deren Suche nach Nahrung sowie Fortpflanzungspartnern – man spricht von Lichtverschmutzung.

Entscheidend für die hohe Anfälligkeit der Insekten ist, dass sie viel stärker von Pflanzen und deren Beeinflussung durch den Menschen abhängen als andere Tiergruppen. Manche Dünge- und Pflanzenschutzmittel können beispielsweise durch Auswaschung in andere Lebensräume gelangen und dort sowohl Pflanzen als Nahrungsgrundlage und Lebensraum von Insekten als auch die Tiere selbst beeinflussen. Doch auch in Agrarkulturen wirken diese Mittel nicht nur auf die „Schädlinge“. Bei Bestäubern wie den Bienen (Apidae) wurde nachgewiesen, dass manche Pflanzenschutzmittel Orientierungssinn und Verhalten beeinflussen können.

https://www.bfn.de/themen/insektenrueckgang-daten-fakten-und-handlungsbedarf/gefaehrdungsursachen-und-handlungsbedarf.html

Über das Insektensterben berichtet außerdem hr-iNFO-Wissenswert in der Podcastfolge „Vermisst und dringend gebraucht – wo sind die Insekten?„.

Auch „Quarks“ beschäftigt sich in einem Beitrag mit dem Thema.

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5. Krefelder Studie

Die Krefelder Studie führte 2017 dazu, dass das Thema „Insektensterben“ einer großen Öffentlichkeit bewusst wurde. Zurückgehend auf die Aktivitäten des Entomologischen Vereins Krefeld umfasst sie mehrere kurze Einzeluntersuchungen an 96 Standorten in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, die später in einer Arbeit zusammengefasst und analysiert wurden. In den Einzeluntersuchungen wurde in bis zu vier Jahren die Biomasse der lokalen Fluginsekten erfasst, wobei die Untersuchungen einen Zeitraum von insgesamt 27 Jahren abdecken. Zusätzlich wurden Wetterdaten, Daten der Pflanzenkultur sowie zu den umgebenden Landschaftsbedingungen erhoben.

Die im Zuge der Studie bislang veröffentlichten Daten lassen auf einen drastischen Rückgang der Masse von Fluginsekten schließen. Aussagen zur Bestandsentwicklung einzelner Arten können jedoch nicht getroffen werden, da die Auswertung noch nicht abgeschlossen ist. Auch wenn die Beschränkung auf Gewichtserhebungen an Fluginsekten und die statistischen Voraussetzungen der Studie gelegentlich kritisiert wurden, so ließen sich doch die grundlegenden Befunde inzwischen vielfach bestätigen. Dies bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für die zukünftige Biodiversitätsforschung in Deutschland.

https://www.nabu.de/news/2017/10/23291.html
https://www.deutschlandfunk.de/krefelder-studie-insektensterben-betrifft-nicht-alle-arten.676.de.html?dram:article_id=432715
https://www.vbio.de/themenspektrum/biodiversitaet/insektenschwund/die-krefelder-studie/

Nachfolgend ein sehenswerter Beitrag von „Quarks“ zu diesem Thema.

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6. Biodiversität

Biodiversität beschreibt die Vielfalt der Natur auf allen Organisationsstufen (genetische Vielfalt, Artenvielfalt, Ökosystemvielfalt). Dieser Begriff wurde Anfang der 1990er Jahre neu geschaffen, um zu berücksichtigen, dass Arten nur erhalten werden können, wenn man nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Lebensräume und innerartliche Variabilität erhält. Weiterführende Informationen zur biologischen Vielfalt und den Folgen einer Abnahme der Biodiversität finden Sie unter den nachfolgenden Links.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/biodiversitaet/8597
https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/dossier-umwelt/61282/artenvielfalt

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7. Ökologische Nische

Der Begriff „ökologische Nische“ beschreibt die Anpassung einer Art an die Gesamtheit der Umweltfaktoren und Ressourcen. Die ökologische Nische ist also kein Raum, sondern das evolutionsbiologische Gegenstück zum Habitat: Eine Art kann überall dort leben, wo die Bedingungen ihrer ökologischen Nische gegeben sind. Dabei geht es nicht nur um morphologische und physiologische Anpassungen, sondern auch um das Verhalten, das Potenzial, die eigene Umgebung zu verändern, oder die Stellung einer Art in der Gemeinschaft mit anderen Arten. Der von dem US-amerikanischen Ökologen Eugene P. ODUM (im folgenden Link) für diesen Sachverhalt gewählte Ausdruck „Beruf“ einer Art ist in diesem Zusammenhang etwas verwirrend.

https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/oekologische-nische/47465

Manche Arten haben einen so starken Einfluss auf die Lebensbedingungen anderer Arten (d. h. deren Möglichkeit, ihre Nische zu realisieren), dass ihnen eine Schlüsselfunktionen zukommt. Fallen diese „Schlüsselarten“ weg, wird das jeweilige Ökosystem entscheidend destabilisiert. Wie der Verlust solcher Arten zum Aussterben anderer Arten führen kann, beschreibt der folgende Artikel eindrücklich.

https://www.mpg.de/8272598/kettenreaktion_artensterben

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8. Massenaussterben der Geschichte

Seit dem Auftreten der ersten Lebewesen vor fast vier Milliarden Jahren erschütterten verschiedene erdgeschichtliche Ereignisse unseren Planeten. Diese zogen radikale Klima- und Umweltveränderungen nach sich, die das Leben auf der Erde stark dezimierten. Besonders hervorgehoben werden meist die fünf Perioden des stärksten Massenaussterbens. Doch immer entstanden danach, langsam und an die veränderten Lebensbedingungen angepasst, neue Arten und eine größere Artenvielfalt als zuvor.

https://www.geo.de/natur/10077-rtkl-vom-sternenstaub-zur-entstehung-des-lebens
https://www.faz.net/aktuell/wissen/massenaussterben-fuenfmal-ging-die-welt-schon-unter-14424429.html

Der Mensch hat sich in jüngster Erdgeschichte selbst zu einem massiven Umweltfaktor entwickelt. Global hat er in kürzester Zeit nahezu jeden Lebensraum geprägt, das Klima beeinflusst und ein neues Massenaussterben ausgelöst. Dieses sogenannte „sechste Massenaussterben“ verläuft mit einer viel größeren Geschwindigkeit als alle Aussterbeereignisse zuvor. Das Zeitalter des Menschen besitzt nach Ansicht vieler Wissenschaftler*innen Eigenschaften, die die Bezeichnung „Anthropozän“ als neue geologische Epoche rechtfertigen.

https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/anthropoz%C3%A4n-das-sechste-massenaussterben-r%C3%BCckt-n%C3%A4her
https://www.nationalgeographic.de/umwelt/2017/03/wird-die-menschheit-das-sechste-grosse-massenaussterben-ueberleben

Darüber, wie der Klimawandel die Überlebenschancen von Arten beeinflusst, berichtet hr-iNFO-Wissenswert unter anderem in der Podcastfolge „Eisbär ohne Eis? Wie der Klimawandel den ‚weißen Riesen‘ zusetzt„.

Weiterhin setzt sich der Bayerische Rundfunk in seiner Sendung „Unkraut“ mit dem Thema auseinander.

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9. Strukturelle Veränderungen der Landschaft

Fast überall auf der Welt nimmt der Mensch immer mehr Raum für sich in Anspruch und greift in die natürlichen Lebensräume (Habitate) von Tieren und Pflanzen ein. Die Gleichmachung (Homogenisierung) der Landschaft führt dazu, dass vorher vernetzte Lebensräume voneinander getrennt werden (Fragmentierung). Doch auch das weitreichende Straßennetz sowie die Verbindung von Wohn- und Industriegebieten führen zur Fragmentierung von Lebensräumen. Als Folge werden Lebensräume zunehmend verkleinert und isoliert, aber auch wichtige Wanderrouten unterbrochen. Geringer Austausch von Individuen zwischen verschiedenen Habitaten oder zu kleine Habitate führen zum lokalen Aussterben oder zur genetischen Verarmung von Arten und so zur Abnahme der Biodiversität. Die Folgen betreffen unter anderem die Überlebensmöglichkeiten der Insekten und der Singvögel.

https://www.bfn.de/themen/planung/eingriffe/wirkungsprognosen/zerschneidung-wiedervernetzung.html
https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/die-zerstueckelung-der-waelder/

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10. Fichtensterben

Der hessische Wald ist in keinem guten Zustand. Am eindrucksvollsten lässt sich dies an den vielen abgestorbenen Fichten (Picea abies) erkennen. Sie sind meist Borkenkäfern (Scolytinae) erlegen, die als Parasiten die Bäume schwächen und zum Absterben bringen können. Trockene Sommer haben die feucht-kühles Klima bevorzugenden Fichten anfälliger gegenüber einem Befall gemacht. Durch die aus ökonomischen Gründen angelegten Monokulturen der in Hessen von Natur aus nicht vorkommenden und deshalb nicht an die Standortbedingungen angepassten Baumart wurde die Ausbreitung des Käfers begünstigt. Knapp 40.000 Hektar der deutschen Waldfläche sind in den letzten 20 Jahren durch Borkenkäfer abgestorben. Als Folge des Fichtesterbens ist man bestrebt, die betroffenen Flächen mit widerstandsfähigeren und naturnahen Mischwäldern wieder aufzuforsten.

https://www.dw.com/de/der-wald-im-ausnahmezustand-klimawandel/a-49740159

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11. Buchtipp

  • GLAUBRECHT, Matthias (2019): Das Ende der Evolution. München: C. Bertelsmann Verlag, EUR 38. ISBN: 978-3-570-10241-1
  • SEGERER, Andreas & ROSENKRANZ, Eva (2018): Ds große Insektensterben. München: oekom Verlag, EUR 20. ISBN: 978-3-962-38049-6

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Interessierte Hörerinnen und Hörer finden auf dieser Seite weiterführende Informationen zu den einzelnen Sendungsthemen als Zusatzmaterial.

Die Zusatzmaterialien werden in der Reihenfolge gelistet, in der die Stichworte in der Sendung Erwähnung gefunden haben. Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 14.12.2020 erstellt von:
M.Sc. Biol. Karl Trüller