Das Kino als Utopie.
Peter Kubelkas Unsichtbares Kino & Stan VanDerBeeks Movie-Drome
Film als ein Medium der zeitlich-räumlichen Artikulation ist bestens geeignet für die Darstellung und Erfahrbarmachung von Räumlichkeiten. Bei der Suche nach dem Ort des Filmes, gilt es nicht nur die räumlichen Konfigurationen, denen imFilm Ausdruck gegeben werden, zu beachten, sondern auch die architektonische Formation, in der Filme gezeigt werden – namentlich das Kino – zu untersuchen.[1]
In den 1960er und 70er Jahren analysierten ‚Apparatus-Theoretiker‘ wie z.B. Jean-Louis Baudry und Christian Metz die Verschränkungen zwischen Kinosaal-Architektur und der ideologischen und psychischen Konditionierung der Zuschauer:innen. Das von ihnen formulierte kinematografische Dispositiv beschreibt die klassische Kino-Konstellation als einen verdunkelten Saal, in dem die einzige Lichtquelle die vom Projektor beleuchtete Leinwand ist, und bewegungslose Zuschauer:innen in frontal-orientierten Sitzreihen in einen primordialen, halbtraum-ähnlichen Zustand versetzt werden. Die Kritik lautete, dass diese spezifische Anordnung der Unsichtbarmachung des Kino-Apparatus, der systematischen Verschleierung seiner technologischen und ideologischen Mechanismen diene.[2]
Das Unsichtbare Kino, Anthology Film Archives, 425 Lafayette Street, New York. 1970-1974. Quelle: Kubelka, Peter: The Invisible Cinema, in: Design Quarterly, 93 (1974).
Das von dem österreichischen Experimentalfilm-Künstler Peter Kubelka (*1934) entworfene Unsichtbare Kino könnte als eine beispielhafte Umsetzung dieses Dispositivs verstanden werden. Dabei handelt es sich um ein komplett schwarz eingekleidetes Kino, mit „muschel-formigen“ Sitzen und Sichtblenden ausgestattet, in dem die Wahrnehmung der Zuschauer:innen ausschließlich auf die Leinwand gelenkt wird, wodurch eine intensivierte Betrachtung erreicht werden soll.[3] Zunächst als Spielstätte für das Anthology Film Archives in New York und in einer späteren Version für das Österreichische Filmmuseum in Wien gebaut, verkörpert das Unsichtbare Kino das Ideal einer ‚puren‘ Kinoerfahrung, in der als ablenkend oder störend empfundene Elemente so weit wie möglich aufgehoben und die besten Bedingungen für ein vertieftes Sehen und Hören geschaffen werden.[4]
Bau des Movie-Drome. Stony Point, NY 1964. Quelle: MoMA (https://www.moma.org/magazine/articles/845).
Innenansicht des Movie-Drome mit VanDerBeek (rechts). Stony Point, NY 1964. Quelle: MoMA.
Mit dem immersiven Potenzial von Bewegtbild-Projektionen beschäftigte sich auch der US-amerikanische Medienkünstler Stan VanDerBeek (1927-1984). Sein Movie-Drome Projektrealisierte dieses jedoch auf eine radikal andere Art und Weise als Kubelkas Unsichtbares Kino. Anfang der 60er Jahre baute VanDerBeek einen neun Meter hohen metallischen Kuppelbau in seinem Garten in Stony Point, New York als Prototyp für eine Kommunikations-Architektur, die Teil seiner Vorstellung einer „‘experience machine‘ or a ‚culture-intercom‘“, eine Art globales Telekommunikations-Netzwerk, werden sollte.[5]
Führung durch den Movie-Drome anlässlich des New York Film Festivals, Stony Point, NY. Quelle: MoMA.
Innenansicht des Movie-Drome während einer Vorführung. Stony Point, NY. Quelle: Uroskie, Andrew: Between the Black Box and the White Cube. Expanded Cinema and Postwar Art, Chicago 2014.
Nachdem die Besucher:innen des Movie Drome durch eine Falltür kletterten und sich nebeneinander auf den Boden legten, wurden sie mit einer Flut von Lichtern, Bildern und Geräuschen konfrontiert. Die multidirektionale Projektion von ‚found-footage‘-Collagen, in denen Bild- und Tonfragmente aus den Nachrichten, der Werbung und der Populärkultur frei zusammengefügt wurden, sorgte für ein immersives Erlebnis.[6]
Die Erweiterung von Wahrnehmungsmöglichkeiten, die in den Movie-Drome- Vorführungen an erster Stelle stand, war ein Grundgedanke der Expanded Cinema- Bewegung zu der auch VanDerBeek gehörte. So auch Gene Youngblood in seinem 1970 erschienenen und wegweisenden Buch Expanded Cinema: „when we say expanded cinema we actually mean expanded consciousness.“[7] Das Expanded Cinema, das ein diverses Spektrum von medientheoretischen Überlegungen und Experimenten unter einem Begriff versammelte, ging es jedoch nicht nur um eine Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes, sondern auch um die Erfindung und Erschaffung von Alternativen zu den normativen Produktions- und Präsentationsweisen des kommerziellen Kinos.[8]
In Anbetracht dieser kritischen Auseinandersetzungen mit dem klassischen Kino-Dispositiv, erscheint Kubelkas Unsichtbares Kino eine gänzlich konservative Auffassung der Kino-Erfahrung zu vertreten. Für Andrew Uroskie steht Kubelkas Kinosaal exemplarisch für eine „idea of spectatorial discipline“, die jegliches kommunikatives und disruptives Potenzial des Zuschauerkollektivs unterdrücken würde.[9] Kubelka betont allerdings, dass eine subtile Wahrnehmung der anderen Zuschauer:innen auch im Unsichtbaren Kino ermöglicht werde und spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer „sympathetic community“.[10]
Die Gegenüberstellung von Kubelkas und VanDerBeeks Kino-Architekturen verdeutlicht zwei entgegengesetzte Konzeptionen vom Kino als Medium und Ort, die aber jeweils zum Ziel haben, einer Intensivierung der kinematografischen Erfahrung zuzuarbeiten. Dies kann jedoch nicht verhindern, wie Sheldon Renan formuliert, dass selbst unter den strengsten Vorgaben, jede Vorführsituation einen Raum für Kontingenz bereithält:
„For Renan, there could be no single overarching model of cinematic spectatorship because there was no single universalizable context of cinematic exhibition with which such a model would coincide … [he] understood every instance of cinematic projection as a singular event, fundamentally conditioned by the malleable dynamics of ist specific time and place.“[11]
Text: Mai Nguyen
Redaktion: Thomas Helbig
Anmerkungen
[1] „Moving images never merely represent place, they must always also take place – they must be produced and exhibited within material spaces that are themselves structured through social, institutional, and discursive vectors.“ (Uroskie 2014, S.6)
[2] „The arrangement of the different elements – projector, darkened hall, screen – in addition from reproducing in a striking way the mise-en-scène of Plato’s cave (prototypical set for all transcendence and the topological model of idealism) reconstructs the situation necessary to the release of the ‚mirror‘ stage discovered by Lacan.“ (Baudry 1974, S.45)
[3] Kubelka 1974, S.32.
[4] https://www.filmmuseum.at/ueber_uns/das_unsichtbare_kino (10.01.2024).
[5] VanDerBeek 1966, S. 16.
[6] Sutton 2003, S. 136.
[7] Youngblood 1970, S. 41.
[8] „The idea of expanded cinema that emerged between 1964 and 1966 in New York was not primarily a ‚consciousness raising‘ about sociopolitical conditions, nor was it a meditative inquiry into the interior of one’s own consciousness. Rather, it was an emerging consciousness of the paradoxical site specificity of cinematic practice: a growing awareness of the institutional conditions through which art’s exhibition was structured, and the concomitant understanding that a reinvention of these institutions would run parallel to any possible rejuvenation of the avant-garde project.“ (Uroskie 2014, S. 10f.)
[9] Ebd., S. 44.
[10] „[Y]ou could touch your neighbors and since there was not a complete partition, you always felt there was someone on your side … A sympathetic community was created, a community in which people liked each other.“ (Kubelka 1974, S. 34)
[11] Uroskie 2014, S. 38.
Literatur
Baudry, Jean-Louis: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus, übers. von Alan Williams, in: Film Quarterly, 28 (1974–1975), S. 39–47. [Online abrufbar unter: https://www.jstor.org/stable/1211632]
Kollektiv der Anthology Film Archives: Das unsichtbare Kino, in: Karsten Witte (Hg.), Theorien des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt/M. 1972, S. 250–255.
Kubelka, Peter: The Invisible Cinema, in: Design Quarterly, 93 (1974), S. 32–36. [Online abrufbar unter: https://www.jstor.org/stable/i386711]
Sutton, Gloria: Stan VanDerBeek’s Movie-Drome. Networking the Subject, in: Jeffrey Shaw und Peter Weibel (Hg.): Future Cinema. The Cinematic Imaginary after Film, Cambridge MA 2003, S. 136–143.
Tomicek, Harry: Das ‚Unsichtbare Kino‘. Überlegungen zum Wahrnehmungsraum des Films, in: Neue Zürcher Zeitung, 9.11.1989. [Online abrufbar unter: https://www.filmmuseum.at/jart/prj3/filmmuseum/data/uploads/Downloads/50JahreFM/fmsy21_DassichtbareKino_209ff.pdf]
Uroskie, Andrew: Between the Black Box and the White Cube. Expanded Cinema and Postwar Art, Chicago 2014. [Online abrufbar unter: https://www.proquest.com/docview/2134543191/2D0BA08828D3435EPQ/1?accountid=10957&sourcetype=Books]
VanDerBeek, Stan: CULTURE: Intercom and Expanded Cinema. A Proposal and Manifesto, in: Film Culture, 40 (1966), S. 15–18. [Online abrufbar unter: http://stanvanderbeek.com/]
VanDerBeek, Stan: Kinodrom, in: Karsten Witte (Hg.), Theorien des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt/M. 1972, S. 247–249.
Youngblood, Gene: Expanded Cinema, New York 1970.
Videothek
Wenngleich die Medien der VHS-Kassette (Video Home System) und der DVD (Digital Versatile Disc), sowie der damit verknüpfte Ort der Videothek heute beinahe vollends aus unserer Medienpraxis und dem Stadtbild verschwunden sind, stellen sie doch einen wichtigen Teil der Geschichte und der individuellen Erfahrung des Films sowie der Praxis seiner Rezeption dar. Mehr oder weniger lebendig im kollektiven Gedächtnis verankert und bereits während ihres Bestehens ständigem Wandel und starken Diskussionen ausgesetzt, lohnt sich der Blick auf die Videothek als spezifischer medialer Raum besonders im Sinne einer „Medienarchäologie“.[1]
Als Mittel zur Aufzeichnung, Speicherung und späteren Wiedergabe von audiovisuellen Signalen (weiter-)entwickelt, wurde die Videotechnik Ende der 1970er Jahre zunächst im Kontext des Fernsehens eingesetzt. Was ursprünglich lediglich als Ergänzung mit praktischem Nutzen innerhalb der Rundfunkanstalten gedacht war, sollte sich schnell zu einem neuen Medium emanzipieren, dessen technische Weiterentwicklung und Vereinheitlichung seit den frühen 1980er Jahren ausgehend von den USA auch in der BRD einen regelrechten Video-Boom nach sich ziehen sollte. Neben den partizipatorischen Aspekten, welche Videokamera und Videorecorder besonders im Privaten möglich gemacht hatten, war es neben dem Verkauf der Technik bald auch das Angebot von aufgezeichneten Fernsehprogrammen und Filmen mit der Möglichkeit des Abspielens im eigenen Heimkino, was das Medium Video ausmachen, zur Geburt der Videothek als Fachgeschäft beitragen und – wie häufig befürchtet, in Konkurrenz zu Kino und Fernsehen – den gesamten Mediensektor und die Erfahrung des Films verändern sollte.[2] Ob in den zunächst nicht selten von einzelnen Filmliebhabern geführten Videotheken oder in den bald entstehenden großen Discount-Ketten: Mit der Möglichkeit zum Erwerben oder Ausleihen von auf Video aufgezeichneten Filmen mittels einer Mitgliederkarte und der Zahlung einer Leihgebühr pro Tag und je nach Film standen den Konsumenten neue Möglichkeiten der Programmgestaltung in den eigenen vier Wänden offen – vom Film-Klassiker, über eine Vielzahl von B-, C- oder D-Filmen, bis hin zu den aktuellsten Neuerscheinungen, zwischen alternativem Autorenfilm und kommerziellem Blockbuster.
Die Videothek wird in dieser neuartigen Möglichkeit der Filmerfahrung zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen medialen Praxis, zu einem „transitorischen Raum“.[3] Filmplakate, Merchandising und auch Leuchtreklame erinnern dabei noch an das Erscheinungsbild des Kinos, dessen Besuch ebenso mit Ritualen verbunden zu sein scheint, wie – wenngleich verändert – es auch beim Gang in die Videothek der Fall ist.[4] Das Pendeln zwischen Öffentlichkeit und Anonymität erscheint als Leitfrage beider Räume. Wie das Kino ließe sich auch der Besuch der Videothek als gemeinschaftliche Erfahrung beschreiben, die nach dem Austausch beim Ausleihen der Medienträger jedoch (wie im lateinischen Singular der Bezeichnung video impliziert) zumeist einzeln und im privaten Wohnzimmer vollzogen wird.[5] Damit reiht sich die Videothek in die Gruppe anderer Räume des (alternativen) Filmkonsums wie dem Autokino ein.[6] Zusätzlich wird „die Form des Flanierens durch den Raum der Videothek, welches deren mediale Praxis kennzeichnet, […] durch das Zusammenspiel von Programm und Videorecorder zu einer Formation der virtuellen Filmgeschichte, die im Raum des Nutzers den Ort der Ausstellung des Films ergänzt und erst vervollständigt.“[7] Als Ort jener neuen medialen Praxis ist somit auch die räumliche Gestaltung der Videothek genauer zu betrachten. Die Regalreihen mit den zumeist nach Genre geordneten Filmen sowie die Cover (ergänzt um die schon erwähnten Plakate usw.) schaffen ihre eigene Ästhetik. Im Nebeneinander der präsentierten Filme und durch das greifbare Format der Kassette sind Fragen nach den Potenzialen und Möglichkeiten der vermeintlich ungefilterten Darstellung und Zugänglichkeit einer Filmgeschichte zu stellen, wobei die Videothek als eine Art filmhistorisches Gedächtnis zu verstehen wäre.[8] Als Besonderheit ist nochmals herauszustellen, dass die Konsumenten mit dem Video das Programm und die eigene filmhistorische Bildung (vermeintlich) selbst gestalten können und die Filmwahrnehmung über das kleinere Format und den privateren räumlichen Kontext im Vergleich zum Kino hinaus zusätzlich durch die Möglichkeit des Pausierens, Vor- und Zurückspulens beeinflussen können.
Das Image der Videothek ist heute besonders durch den Film-Nerd vor oder hinter dem Tresen geprägt, was sich anhand unzähliger Filmbeispiele nachvollziehen lässt.
Spätestens mit dem Auftritt von Streaming-Plattformen hat sich der Ort der Videothek komplett ins Virtuelle und ins Private verlagert. Was heute von der Videothek bleibt, ist vor allem ein nostalgischer Blick auf eine zunehmend historisch gewordene Medienpraxis, die unauslöschlich Teil der Filmgeschichte geworden ist.
Text: Philipp Hones
Redaktion: Thomas Helbig
Anmerkungen
[1] Haupts 2014, S. 11.
[2] Vgl. ebd., S. 24-30. S. 57 f., S. 60-65. Vgl. Greenberg 2008, S. 64-68. Vgl. Loest 1984, S. 5, S. 18-23, S. 61 f.
[3] Haupts, S. 17.
[4] Vgl. Greenberg 2008, S. 64, S. 81 f.
[5] Vgl. ebd., S. 97. Vgl. Herbert 2014, S. 17, S. 21.
[6] Haupts 2014, S. 23, S. 58, S. 271-281.
[7] Ebd., S. 337.
[8] Ebd., S. 337-346.
Literatur/Links
Greenberg, Joshua M.: From Betamax to Blockbuster. Video Stores and the Invention of Movies on Video, Cambridge, Mass., (u.a.) 2008
Haupts, Tobias: Die Videothek. Zur Geschichte und medialen Praxis einer kulturellen Institution, Bielefeld 2014
Herbert, Daniel: Videoland. Movie Culture at the American Video Store, Berkeley, Calif. (u.a.) 2014
Loest, Klaus-Georg: Die Videokassette – ein neues Medium etabliert sich. Videotheken aus bibliothekarischer Perspektive, Wiesbaden 1984
Schauz, Michael: Video-on-Demand. Bedrohung für das Verleihgeschäft der Videotheken, München 1997
Segeberg, Harro (Hg.): Film im Zeitalter Neuer Medien I. Fernsehen und Film, München 2011
Weitere Links:
https://www.filmgalerie451.de/de/content/ueber-uns
https://video-city.videotheken-online.com/news/
https://www.epd-film.de/themen/videotheken-hier-steht-filmgeschichte
Medienfassade
Zwischen all den funkelnd-leuchtenden Reklametafeln des Times Squares sorgen einzelne Bilder für Irritation: Langsam schiebt sich von unten das Gesicht einer blonden Frau ins Bild. Wie eingesperrt hinter den Grenzen des Displays, drückt sie Augen, Nase und Mund an einer Scheibe entlang, was ihre Mimik entgleisen lässt. Immer wilder werden die. Die Eindrücke sind ungeschönt echt. Es handelt sich hier um Open My Glade, eine Aktion der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist, die 2017 im Zuge ihrer Retrospektive Pixel Forrest im New Yorker New Museum gezeigt wurde.[1] Künstlerische Interventionen wie diese, nebst spektakulären Billboard-Werbungen, lassen sich in einem der zahlreichen 24 Stunden-Livestreams der Medienlandschaft des New Yorker Times Squares bestaunen. Dank Organisationen wie dem „Times Square Art“-Programm gehören Arbeiten zeitgenössischer Künstler*innen auf elektronischen Billboards längst zum alltäglichen Erscheinungsbild des berühmten Platzes.
Im Gewirr der Großstadt scheint sich eine neue Art des Kinos entwickelt zu haben: An gigantischen Billboards verschmelzen tänzelnde Bilder an Hochhausfassaden mit der stetigen Bewegung der Menschen- und Automassen. Anne Friedbergs flâneur/flâneuse [2] streift als moderner Betrachter durch das Zentrum des Manhattaner Theaterviertels, ob in Eile oder scheinbar ziellos, und saugt dabei die zahllosen Informationen seiner Umgebung auf.
Jedes Plakat, jede digitale Werbetafel schafft eine immersive Umgebung, in welcher der flâneur/ die flâneuse zum aktiven Beobachter wird. Die Medienfassaden öffnen ein (Schau-)Fenster in eine andere Welt.[3] Der Times Square wird zum neuen Freiluftkino.
Was Charles Baudelaire schon im 19. Jahrhundert als „transitiv, flüchtig, zufällig“[4] bezeichnet, findet später bei Walter Benjamin unter dem Begriff des „Konstruktiven Fragmentismus“[5] eine nähere Charakterisierung. Er beschreibt Phänomene, die uns die flimmernden Leuchtreklamen heutiger Metropolen einmal mehr vor Augen führen. Zahllose, kurzfilmartige Bewegtbilder setzen sich wie einzelne Fragmente zu einem reizüberflutenden Gesamtbild zusammen. Architekturen werden durch riesige Medientafeln nahezu entmaterialisiert und durch virtuelle Räume ersetzt. Die Fassade übernimmt nun eine kommunikative, d.h. mediale Aufgabe, die ihre eigentliche Funktion als Begrenzung von Innen- und Außenraum in den Hintergrund treten lässt. Das Digitale und Immaterielle trifft auf die gebaute Welt der Architektur.[6]
In dieser Synthese aus urbanem Spektakel und bewegten Bildern entsteht ein einzigartiges kinematografisches Erlebnis. Der flâneur/flâneuse wird zum Chronisten einer lebendigen, fragmentarischen Kinogeschichte, in der die Grenzen zwischen Film und Realität verschwimmen und der Stadtraum selbst zur Bühne wird. Nicht umsonst sind die Medienfassaden realer oder fiktionaler Großstadtszenografien längst zum Motiv und Protagonist des Kinos geworden.
Text: Josephina Heil
Anmerkungen
[1] Open My Glade wurde bereits 2000 im „Times Square Art“-Programm gezeigt. Aus Anlass der Ausstellung wurde die Arbeit auf mehreren Screen wiederaufgeführt: Siehe hierzu: http://arts.timessquarenyc.org/times-square-arts/index.aspx.
[2] Vgl. Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern, Berkeley 1994. Anne Friedberg benutzt den Begriff flâneur in Anlehnung an Charles Baudelaire und Walter Benjamin und prägt darüber hinaus den Begriff flâneuse.
[3] Friedberg geht nicht nur auf das Phänomen der Schaufenster ein, sie vergleicht sie auch mit der Kinoleinwand, die einen in andere Welten versetzt. Ähnlich fungieren hier auch die Bewegtbilder der New Yorker Billboards.
[4] Baudelaire in David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück 1999, S. 22. Zit. n. Tittel, Claudia: Medienfassaden. Die Stadt als Display, in: Kunsttexte.de (2012), S. 1.
[5] Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentismus. Form und Rezeptionsschriften Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1999.
[6] Vgl. Claudia Tittel: Medienfassaden. Die Stadt als Display, in: Kunsttexte.de (2012), S. 4.
Das Filmplakat
Das Filmplakat hat die Aufgabe die Betrachter*innen abzuholen, Ihnen alle nötigen Informationen zum Film, gebündelt, komprimiert in einem Bild zu präsentieren und sie, im besten Fall zu fesseln. Das Filmplakat vertritt den Film außerhalb des Kinos. Es hängt an Litfaßsäulen, in Videotheken, hängt in Bushaltestellen, in Gasthäusern und inzwischen auch in einigen Wohnungen. Das Filmplakat ist so vielseitig, dass es eine eigene Kunstform darstellt. Es kann agitativ sein, zurückhaltend, abstrakt oder konkret, eine Malerei, eine Fotomontage, es kann schnell in Vergessenheit geraten oder zu einer Ikone werden. Die folgenden Zeilen geben einen groben Überblick über die Entstehung und die Etablierung des Filmplakats an den Rändern des Kinos.
Das Plakat als Werbeträger taucht seit der Mitte des 19 Jahrhunderts im öffentlichen Raum und in den aus allen Nähten platzenden Metropolen auf. Durch Innovationen und neue Methoden in der Drucktechnik wie die Lithografie und später dem Offsetdruck. Durch die Lithografie waren die Drucker zum ersten Mal in der Lage große Mengen an farbigen Reproduktionen auf den Markt zu bringen.
Berühmte Beispiele für die frühe Plakatkunst sind in den 1870er bis 1890er Jahren die Werke der französischen Lithografen und Künstler Jules Chéret (Abb. 1) und Théophile-Alexandre Steinlen, dessen Plakatgestaltung für das Kabarett Le Chat Noir auf dem Montmartre in Paris in die Kunstgeschichte einzog und sich auch heute noch als Reproduktion einer großen Beliebtheit erfreut.[1] (Abb. 2)
Nur wenige Jahre später folgten so namhafte Plakatkünstler wie Henri Toulouse-Lautrec und Alfons Mucha. Filmplakate gibt es schon seit es das Kino gibt, um 1900, kurz nach Erfindung des Kinematografen, kamen erste Filmplakate im Stadtraum zum Einsatz. Auf ihnen machten die Filmschaffenden und Kinobetreiber via visueller Kommunikation auf ihre Filme aufmerksam. Doch bevor es um die Bewerbung oder Vermarktung eines speziellen Filmtitels ging, oder die Darstellungen mit Bezug auf den Film, zeigten die frühen Filmplakate eher die Vorführungspraxis. So zeigt ein frühes Filmplakat aus Frankreich aus dem Jahr 1895 von Marcellin Auzolle, welches den Film L’arroseur arrosé von den Gebrüdern Lumière bewerben sollte, das Publikum in einem Filmtheater bei der Betrachtung eines Films.[2] (Abb. 3) Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts engagierten Verleihfirmen, Filmgesellschaften oder auch die Kinos selbst einzelne Künstler*innen oder Werkstätten zur Gestaltung der Plakate. Das Marmorhaus am Kurfürstendamm in Berlin z.B. beauftragte den Künstler Josef Fenneker für exklusive Gestaltungen.[3] (Abb. 4)
Die Plakate entstanden in einer großen künstlerischen Vielfalt und orientierten sich auch bald am aktuellen künstlerischen Zeitgeschehen und rezipierten die zeittypischen Stile der Bildenden Kunst wie z.B. den Kubismus, den Expressionismus oder die Neue Sachlichkeit. Die verschiedenen Filmgenres wie Komödien, Western oder das Melodram waren bald anhand einer typischen Grundstimmung der Farbgebung der Schrift und in der Gestaltung der Protagonisten zu erkennen.[4]
Die Plakate, welche in der Stadt wie in einer öffentlichen Galerie hingen mussten visuell auf den Punkt und sofort verständlich sein. Historisch sowie regional konnte die Plakatgestaltung jeweils unterschiedliche Prägungen erhalten. So sahen die Plakate der russischen Konstruktivisten anders aus als die expressionistischen Stummfilmplakate zu einem Murnau-Film. Die russischen Plakate fokussierten sich viel mehr auf die Darstellung von Technik und wirkten grafischer und avantgardistischer, während die expressionistischen Filmplakate einen höheren Stellenwert auf die Darstellung der Expression von Gestik und Mimik legten.
Einen hohen Stellenwert nahm bald das Starplakat ein. Ein Beispiel hierfür ist das Plakat zum Film Der blaue Engel, von Heinz Bonné. Hier stehen die Protagonisten Marlene Dietrich und Emil Jannings als Stars im Vordergrund (Abb. 5).
Text: Dennis Bruns
Anmerkungen
[1] Münch, Valerie: Zur Geschichte des Filmplakats. in: Henry Keazor (Hg.): Film Plakat Kunst. Dietrich Lehmann und der Heidelberger Filmclub der 50er Jahre. Heidelberg 2017, S. 92-93.
[2 ]Münch, Valerie: Filmplakate als Gattung. in: Henry Keazor (Hg.): Film Plakat Kunst. Dietrich Lehmann und der Heidelberger Filmclub der 50er Jahre. Heidelberg 2017, S. 51-53.
[3] Neckelmann, Harald (Schüren): Lockruf des Kinos. Der Plakatkünstler Josef Fenneker, Marburg 2022. S. 24.
[4] Münch, Valerie: Zur Geschichte des Filmplakats. in: Henry Keazor (Hg.): Film Plakat Kunst. Dietrich Lehmann und der Heidelberger Filmclub der 50er Jahre. Heidelberg 2017, S. 92-93.