„Weltstadt Frankfurt am Main?“
Eine Anknüpfung
von Bernd Jürgen Warneken
Vor 30 Jahren und mit 30 Jahren begann Gisela Welz am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft das Studienprojekt „Neue Urbanität und Multikultur“. Es beschäftigte sich, reaktionsschnell, mit der Arbeit des ein Jahr vorher in Frankfurt eingerichteten „Amtes für multikulturelle Angelegenheiten“ (AMKA). Die Projektergebnisse, in der bewusst unakademischen Form eines Journals veröffentlicht („Weltstadt Frankfurt am Main?“ Tübingen 1992), kritisierten den Denkansatz der Frankfurter Multikulturpolitik und hievten die Tübinger Kulturwissenschaft auf den stand of the art der einschlägigen internationalen Forschung.
Eines der Essentials dieses Projekts ist, dass migrantische Kulturen nicht – wozu das AMKA tendiere – als translozierte Herkunftskulturen gesehen werden dürften, sondern in sich bewegliche und nach außen offene Lebensweisen darstellten: „Gelebte Multikulturalität in Frankfurt: das sind alltägliche Praxen von Migranten, die aus der Auseinandersetzung mit der Lebenssituation in der Stadt entstehen und nicht einlinig auf mitgebrachte ethnische Traditionen zurückzuführen sind“. (S. 9 f.) Des Weiteren wurde ein zu enges Kulturverständnis des AMKA moniert: eine zu sehr auf „Kultureinrichtungen“ und „Kulturveranstaltungen“ fokussierte Politik, welche Fragen der interethnischen Alltagsbeziehungen und der interethnischen Gleichstellung eher ausblende. „Multikulturalität“, sagt dazu ein Interviewpartner von „SOS Rassismus“, „wird in Frankfurt so gezeigt: Wie viele kulturelle Zentren, Kultureinrichtungen und Galerien wir hier haben. Aber das ist nicht die Multikultur, die wir meinen!“ Und der Leiter des Frankfurter Einwanderungszentrums e.V. meint: „Wenn man sagt, Frankfurt ist eine multikulturelle Stadt, frage ich mich, was heißt das überhaupt? Alles ist schön bunt und exotisch, aber für uns ist das alltägliche Leben immer noch bestimmt von der alltäglichen Diskriminierung und dem alltäglichen Rassismus.“ (S. 15) Konsequenterweise überschreiten denn auch mehrere Beiträge des Journals den Themenkreis von Kulturpolitik und Kulturveranstaltungen, berichten über Anerkennungsprobleme türkischstämmigen Migrantinnen in ihrem Stadtteil oder migrantische und multiethnische Streetgangs, die offensiv und z.T. kriminell auf fehlende Chancengleichheit reagieren. Das alles versammelt sich zu einer frühen Kritik am kulturwissenschaftlichen „Kulturalismus“, der ökonomische, soziale, politische Voraussetzungen von Lebens- und Denkweisen viel zu wenig beachte und folgerichtig zu dem Fehler neige, dass „gesellschaftliche Ungleichheit (…) in kulturelle Differenz umgedeutet“ wird. (S. 9) Einer der Beiträge endet mit der Frage: „Ist nicht ein Gleichstellungsdiskurs, verbunden mit einer konsequenten Politik der rechtlichen und sozialen Gleichstellung, als Alternative zum Multikulturdiskurs sinnvoller (…)?“ (S. 17)
Und heute? Ein Forschungsvorschlag
In den fast 30 Jahren, die seither verstrichen sind, hat sich der wissenschaftliche Diskurs über migrantische und postmigrantische Lebenslagen und Lebensweisen vielfach den seinerzeit von Welz&Co. vertretenen Positionen angeschlossen. Essentialistische und folkloristische Herangehensweisen an Migrantenkulturen wurden wenngleich nicht überwunden, so doch zurückgedrängt, statt vorwiegend herkunftskultureller wurden mehr und mehr aktuell-soziale Ursachen für Integrations- oder besser Teilhabedefizite ins Visier genommen – was teilweise auch für die kommunalen (u.a. die Frankfurter) Kultur- und Sozialkonzepte gilt. Gleichzeitig hat sich die einschlägige internationale, transnationale und nationale Forschung vervielfacht; stadtethnographische Studien, auch aus der Europäischen Ethnologie und Kulturanthropologie, spielen dabei eine wichtige Rolle. Dennoch gibt es natürlich, allein schon der begrenzten Ressourcen dieser Fächer wegen, für viele Teilbereiche der interethnischen Verhältnisse und Verhaltensweisen in migrantenreichen Städten noch wenige oder sehr ausschnitthafte, oft eher explorative Untersuchungen – über deutsche noch weit weniger als z.B. über US-amerikanische Städte. Einer der Bereiche, bei denen noch viele Fragen offen sind, sei hier exemplarisch herausgegriffen – nicht zuletzt, weil es ein Forschungsfeld ist, das Feldforschung erfordert und deshalb unserem Fach methodologisch naheliegt (und auch, weil ich gerade am Beispiel Berlin zu einem ähnlichen Thema recherchiere): die Quantität und Qualität von interethnischen Fremdenkontakten im öffentlichen Raum.
Mit dem öffentlichen Stadtraum und insbesondere Großstadtraum verbindet sich ja seit langem das Versprechen von Freiheit und Gleichheit und, wie man bei aller Vorsicht wohl doch sagen darf, zumindest partiell auch die Realität eines intersozialen Umgangs, der weniger von festen Hierarchien geprägt ist und mehr gleichrangige Teilhabe erlaubt als viele andere Handlungsbereiche und zudem ermöglicht – nicht garantiert! –, dass unter einander Fremden Kommunikation und Arrangement, z.B. Kooperation, zustande kommt. Hierbei geht es nicht nur um im genauen Wortsinn transitorische und „oberflächliche“ Kontakte, sondern teilweise – vor allem bei Freizeitaktivitäten – auch ein längeres Zusammensein und sogar das gemeinsame Verfolgen gleicher Interessen – sei’s als Publikum bei einer open-air-Veranstaltung, sei’s als Teilnehmer*in einer Demonstration. Der alltagspraktische Stellenwert der pluralistischen Kopräsenz und Kommunikation im öffentlichen Stadtraum ist im 20. Jahrhundert bekanntlich durch vielerlei Prozesse gemindert worden, etwa die Belegung von Straßen und Plätzen durch das Auto oder größere Wohnungen (das Kinderzimmer!) und deren Armierung mit Unterhaltungsinventar. Zu Recht wird jedoch seit einiger Zeit auf Gegenentwicklungen und -maßnahmen hingewiesen, welche die Innenstädte mit mehr Leben erfüllen: die Ausbreitung von Fußgängerzonen, die Zunahme von open-air-Gastronomie, Stadtstrände, Public Viewing, Straßen-, Stadtteil- und Stadtfeste, nicht zu vergessen die Vervielfachung von Straßendemonstrationen. Dies alles sind Ursachen und Folgen eines neu- oder wiedererwachten Interesses am stadtöffentlichen Leben, an einer zeitweise Überwindung des um sich greifenden Single-Daseins, der mal eher passiven, mal aktiven Teilhabe am „bunten Treiben der Großstadt“.
Wie aber, ist nun zu fragen, steht es um die Teilhabe und, genauer, um eine gleichberechtigte, tolerierte, ja erwünschte Teilhabe der migrantischen und postmigrantischen Bevölkerung an diesem Treiben? Kein Zweifel besteht an der Zunahme migrantischer Kopräsenz als innerstädtische Verkehrsteilnehmer*in und Kund*in (wozu zahlreiche Verkäufer*innen und Dienstleister*innen in halböffentlichen Settings kommen), die ganz basal mit vermehrter Einwanderung zu tun hat; und auch bei freizeitlichen Betätigungen trifft man auf ein häufigeres öffentliches Neben- und manchmal Miteinander – etwa in Parks, in Freibädern, auf Spiel- und Sportplätzen. Mit größerer Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit als die erste Generation von Arbeitsmigrant*innen nutzen deren Nachfahren die städtischen Zentren – zum Shoppen, zum Kino- oder Cafébesuch, zum Aufmerksamkeit heischenden Auftritt. Zitat aus einer Berliner Senatsbroschüre: „Die unterwürfige und verhuschte Türkin ist nichts weiter als eine liebgewonnene Projektion. Die Straßen Berlins belebt ein anderer Typus – cool-lässige Jungs und aufgehübschte Mädchen. Laut, auffällig und selbstbewusst, das Handy stets am Ohr.“ (Der Beauftragte des Senats für Integration und Migration, Hg.: Stadt der Vielfalt. Das Entstehen des neuen Berlin durch Migration. Berlin 2009, S. 61) Diese vermehrte Partizipation an der urbanen Öffentlichkeit und vor allem der erkennbare Anspruch, dort nicht in einer subalternen Rolle, sondern gleichberechtigt agieren zu können, stößt ähnlich wie frühere Emanzipationsbestrebungen von Unterprivilegierten, welche Freiheit und Gleichheit in öffentlichen Räumen einschlossen – man denke an Juden, an die Arbeiterschaft, an Frauen –, bei Vertreter*innen der dort bisher dominierenden Gruppen häufig auf Unwillen. (Bekannte Berliner Beispiele: der langjährige Kampf gegen türkische Grill-Parties im Tiergarten oder die Anwohnerkritik am expandierenden Thaimarkt im Preußenpark.) Eroberungs- und Verteidigungsbestrebungen verschärfen die eh vorhandenen Regel- und Rangordnungskonflikte.
Zu den Umgangsweisen im großstädtischen Raum existieren viele Untersuchungen, doch stehen dabei oft – in der Tradition von Georg Simmel – allgemein- großstädtische Kulturmuster („Indifferenz“ u.ä.) im Vordergrund, während die Spezifika von Oben-Unten- und Mehrheit-Minderheiten-Begegnungen weniger beachtet werden. Arbeiten dazu gibt es zwar durchaus, z.B. in der Forschungsrichtung der „Geographies of Encounter“ . Doch nach wie vor gibt es u.a. für deutsche Städte einen Bedarf an notwendigerweise mikro-ethnographischen und wünschenswerterweise empirisch breit angelegten Studien zu Fragen wie:
- Welche öffentlichen und halböffentlichen Orte sind häufige Schauplätze interethnischer „encounters“?
- In welchen Rollen begegnen sich die Beteiligten?
- Was sind die hauptsächlichen Anlässe dafür, dass aus Kopräsenz hier prosoziale Kommunikation, dort Konflikte entstehen?
- Wie häufig werden Begegnungen als neutral, als freundlich, als angespannt, als ängstigend erlebt? (Wobei weiterführend gefragt werden könnte: Unterscheiden sich hier die Beteiligtenaussagen und die massenmediale Berichterstattung?) Welche subjektiven Dispositionen und objektiven Situationskontexte spielen dabei herein?
- Wie beeinflussen mitgebrachte Fremdbilder („imaginiertes Wissen“ ) den Verlauf einer Begegnung – bis hin zur offensichtlichen Fehldeutung der Handlungsgründe und -absichten des Gegenübers?
- Aber auch: Gehen positive Fremdbilder tatsächlich mit einer größeren und negative mit einer geringeren Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft zusammen? (Man denke an Mitglieder der Neuen Mittelschichten, von denen es immer wieder heißt, sie dächten antirassistisch und migrantenfreundlich, handelten aber häufig segregativ.)
- Bestätigen oder verändern (erweitern, differenzieren, verbessern, verschlechtern) sich die eigenen Bilder vom Anderen durch die Begegnung? Wozu die Frage gehört, ob als negativ erlebte Begegnungen – wie einige Studien nahelegen – prinzipiell nachhaltiger als andere wirken.
- Wie häufig folgt die Kommunikation dem Muster vom „Konflikt als Kontakt“, d.h.: Wie häufig ist ein Zusammenstoß (ein Rempler, ein Schmähruf) Auslöser einer Interaktion, an deren Ende eine Übereinkunft bzw. eine längere freundliche Unterhaltung und dadurch eine kenntnisreichere und u.U. positivere Einschätzung des Anderen entsteht?
Methodologisch ist die hier skizzierte Aufgabenstellung natürlich komplex. Zum einen müssen bei dieser nicht nur auf allgemeine Großstadtmuster, sondern auf spezifische ethnosoziale Beziehungen ausgerichteten Fragerichtung ziemlich viele Untersuchtengruppen gebildet werden; sie müssen nach Schichtzugehörigkeit und ethnischer bzw. interethnischer Verortung und gewiss auch nach Gender und Alter differenziert werden, was angesichts multipler und fluider Identitäten eine Vielzahl von Kategorisierungen erfordert. Zum andern ist natürlich zu beachten, dass in intersozialen Beziehungen nicht tatsächliche, sondern zugeschriebene (was nicht heißen muss: nichtexistente) Gruppenzugehörigkeiten wirksam sind, und hierbei wiederum, dass bei transitorischen Begegnungen mit Fremden eine ethnosoziale Zuordnung des Gegenübers u.U. gar nicht stattfindet bzw. mit Fehlverortungen zu rechnen ist – auch bei Forscher*innen, die sich auf Feldbeobachtungen beschränken.
Eine einerseits forschungspragmatische, andererseits thematisch plausible Verschlankung dieses vielgliedrigen Untersuchungsdesigns könnte darin bestehen, den Fokus auf Begegnungen zwischen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und jugendlichen Postmigrant*innen u Migrant*innen zu richten. Diese Letzteren sind zum einen die größte und natürlich die zukunfts-relevanteste (post-)migrantische Altersgruppe, zum andern wird gerade ihr Verhalten in Medien und Bevölkerung ständig diskutiert und skandalisiert – wobei übrigens meist über junge Männer und viel zu wenig über die ja weit weniger „verhaltensauffälligen“ jungen Frauen geredet wird. Überhaupt wäre zu prüfen, wie realistisch das verbreitete Vorstellung von einem weithin durch Rücksichtslosigkeit, Feindseligkeit, Aggressivität geprägten Umgang im anonymen öffentlichen Raum ist. Die Alltagserfahrung und etliche Großstadtstudien kennen ja Beispiele von gar nicht so seltener (aber selten genutzter) Kontaktbereitschaft, von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die auch interethnisches Verhalten betreffen – man denke nur an die von älteren ÖPNV-Fahrgästen des Öfteren zu hörende Meinung, dass türkische oder arabische Jugendliche höflicher seien als „biodeutsche“. Mit diesem Hinweis soll jedoch keiner Beschwichtigungspolitik das Wort geredet werden. Genauso gilt es, auf der einen Seite alte und neue Formen stadträumlicher Ausgrenzung und diskriminierender Umgangsformen und auf der anderen Seite öffentliches Dominanz- und Drohgebaren von migrantischen Jugendgruppen zu beachten (Hartmut Häußermann sprach von „Ersatzpositionierung für ausbleibende gesellschaftliche Positionierung und Anerkennung“), die auszublenden oder schönzureden ein Schönreden von deren teilweise depravierender sozialer Situation bedeuten würde.
Besonders wertvoll wären inner- und international vergleichende Studien (man erinnere sich an Gisela Welz‘ Habilitationsschrift „Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt/Main und New York City“ von 1996) – zur Vermeidung voreiliger Übertragungen z.B. von Ergebnissen der US-amerikanischen Großstadtforschung auf europäische Verhältnisse und allgemein zur genaueren Bestimmung kongruenter und divergenter Entwicklungen. Von Einzelnen sind solche thematisch und methodisch parallelen Untersuchungen natürlich nur in Ausnahmefällen leistbar. Selbst die Kapazitäten von Studien- und Drittmittelprojekten dürften hier im Regelfall kaum ausreichen. Deshalb ende ich auch diesmal mit meinem schon öfters verlautbarten ceterum censeo: einem Plädoyer für mehr längerfristige Schwerpunktbildung an Instituten und mehr Kooperationsprojekte von Instituten, was die Akkumulation spezifischer Kompetenzen und damit die außeruniversitäre Wahrnehmung unseres Faches sicherlich fördern würde.