Provinzialisierung, Professionalisierung und Potenzial(isierung) (Jörg Niewöhner)

Provinzialisierung, Professionalisierung und Potenzial(isierung) (Jörg Niewöhner)

Jörg Niewöhner, HU Berlin

Wenn ich über Gisela Welz in Bezug auf die Europäische Ethnologie nachdenke, fallen mir sofort drei ‘Ps’ ein: PPP – damit meine ich nicht public-private-partnership, auch wenn ich diese Zeilen in einer etwas tragischen Koinzidenz aus Melbourne in Australien schreibe, wo neoliberale Reformen der letzten 20 Jahre nicht zuletzt mit dieser Art ‘Partnerships’ den öffentlichen Sektor und Raum vollständig ‘kapitalisiert’ haben. Mit PPP meine ich Provinzialisierung, Professionalisierung und Potenzial(isierung) – drei miteinander verwobene Leitmotive, die ich mit Giselas Umgang mit dem Fach verbinde: 

Provinzialisierung: Sicherlich könnte man unter dem Stichwort Provinzialisierung zunächst an Giselas Forschung auf Zypern denken und etwas über die Provinzialisierung Europas von seinen Rändern aus schreiben. Mir geht es aber um etwas anderes. Seit ich Gisela 2003/4 kennengelernt habe, hat mich immer überzeugt, dass und wie sie sich dafür eingesetzt hat, die Vielfalt des deutschsprachigen Fachs international zur Geltung zu bringen. Provincialising Anthropology ist natürlich eine breite und anerkannte Bewegung in der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie. Der deutschsprachige Raum spielt dabei aber keine große Rolle, denn Deutschland fällt nicht wirklich in den ‘Provinz slot’, der diese Bewegung vorantreibt. Daher ist das Fach in dieser Hinsicht häufig einem von zwei Pfaden gefolgt: Entweder ‘man spricht deutsch’ und entwickelt deutschsprachige Fachtraditionen und Genealogien an lokalen Feldern. Oder man ‘internationalisiert’, d.h. man positioniert sich in der internationalen Literatur und arbeitet auf Englisch, was es rasch zu aufwendig macht, die deutschsprachigen Forschungsstrecken zu übersetzen und mit einzubeziehen. Als Quereinsteiger aus einem anderen Fach und einem anderen Land (jedenfalls akademisch gesprochen), habe ich lange Zeit auch nur den zweiten Pfad gesehen. Gisela jedoch hat mich von Anfang an beeindruckt, weil sie sehr bewusst und übergangslos zwischen diesen beiden Pfaden hin- und herwechselt und sie dadurch zum Verschwinden bringt. Ihr ging es – nach meiner Wahrnehmung – niemals nur um die Sichtbarmachung von deutschsprachiger Forschung im internationalen Kontext. Einfache Übersetzung war und ist nicht das Ziel. Es ging immer schon um die Diffraktion (Haraway/Barad), d.h. das durcheinander Hindurch-Lesen von Forschungsarbeiten und Konzeptarbeit aus verschiedenen nationalen Traditionen, um mit den Differenzen analytisch zu arbeiten. Das ist voraussetzungsreich, das ist schwierig und es benötigt eine mir sehr sympathische Form von vorbehaltlosem Respekt gegenüber jeder Forschung – unabhängig davon, wer sie wo durchgeführt hat. Diese Herangehensweise vermittelt ein Verständnis vom ‘Fach’, das sich nicht mit Maßstabsfragen nach klein oder groß aufhält; das seinen Namen mit ‘shame and defiance’ (Welz 2019) trägt; und das seine Beiträge in die internationale Wissenschaft mit Bescheidenheit und Bestimmtheit vorträgt. Die große Selbstverständlichkeit, mit der Gisela dies betreibt, tut dem Fach gut.

Professionalisierung: Zu dieser Art der Provinzialisierung der Sozial- und Kulturanthropologie (und man könnte selbstverständlich hier auch die Sozialgeschichte, die cultural studies und vielleicht auch manche Felder der Literaturwissenschaften einsetzen) gehört allerdings auch ein klarer Anspruch an Professionalität. Provinz im einfachen Sinne des Wortes ist nicht gefragt. Dabei hat mich in den letzten 15 Jahren immer gefreut, dass Gisela meine häufig provinziellen Fragen immer ernstgenommen hat. Sie hat sich sicherlich ihren Teil gedacht, aber hat mir immer geholfen, mein fachfremdes und oft auch einfach planloses Denken im Forschungsstand zu verorten. Professionalisierung ist mir bei Gisela daher immer als Prozess vorgekommen und nicht als Attitude oder Aura. Professionalisierung muss aber natürlich auch den unermüdlichen wissenschaftspolitischen Einsatz für das Fach markieren. Ob DFG, durch Gutachten oder am eigenen Standort: Die Ernsthaftigkeit, mit der Gisela den Aufgaben nachkommt, die sie annimmt, ist bemerkenswert. Wenn man sich den Zustand des sozial- und kulturwissenschaftlichen Begutachtungswesens weltweit anschaut, kann man ermessen, wie das Fach in Deutschland davon profitiert hat und profitiert. Dabei möchte ich herausheben, dass auch hier Vielfalt eine wichtige Rolle spielt. Denn es wäre sehr einfach, der Vielfalt des Fachs mit eigenen Ordnungsvorstellungen zu begegnen und es so nach eigenem Gusto zu formen. Dies wäre ganz im Sinne heutiger politischer Führungsstile. Stattdessen haben wir mit Gisela in den letzten Jahren eher eine Form der ‘föderalen Epistemik’ erlebt: Im Sinne eines Subsidiaritätsprinzips hat Professionalisierung immer Vielfalt und Dezentralität gefördert, außer an den Stellen, wo gemeinsame Schlagkraft nötig war – zum Beispiel bei der DFG. Es wird unter den zunehmend naturwissenschaftlichen institionellen Bedingungen in Zukunft nicht einfacher werden, diesen Stil fortzuführen.

Potenzial(isierung): Der dänische Anthropologe Frank Sejersen spricht von potentiality, um die future-making practices der indigenen Gruppen Grönlands in ihren Aushandlungsprozessen zwischen Klimawandel und Entwicklungstrajektorien zu beschreiben. In diesem Sinne meine ich Potenzialität und Potenzialisierung. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir uns nicht genug um die Zukunft des Fachs sorgen. Das Klima an den Universitäten ist derzeit nicht dazu angetan, kleine Fächer einfach so durch Generationswechsel gehen zu lassen. Die Begehrlichkeiten sind groß und eine kritische Masse, die institutionelles Gewicht tragen kann, ist schnell verloren. Umso wichtiger sind strategische Projekte, wie der neue Science and Technology Studies Studiengang in Frankfurt am Main, den Gisela maßgeblich mit aufgebaut hat. Er verbindet auf glückliche Weise drei Ebenen: Erstens Nachwuchsförderung, zweitens Vermittlung von deutschsprachigen Perspektiven an eine internationale Studierendenschaft, drittens strategische interdisziplinäre Verknüpfung des Fachs. Gerade der letzte Aspekt scheint mir von äußerster Dringlichkeit. An vielen Standorten ist die Zahl der ‘reinen’ Fachprofessuren überschaubar. Es ist daher nötig, in den Schnittfeldern in die Geographie, die Soziologie, die Geschichte und in viele andere Fächer, Europäisch Ethnologisches Denken zu installieren oder doch zumindest Kenntnis von und Respekt vor unseren Denkstilen. 

Was will ich nun mit PPP sagen? Eigentlich nur ein sehr persönliches Dankeschön an Dich, liebe Gisela, dass Du mir geholfen hast, das Fach mit Deinen Augen in seinen Möglichkeiten zu sehen. Und auch – soweit mir das zusteht – ein fachliches Dankeschön. Solltest Du in Zukunft beginnen, ein wenig kürzer zu treten, werden wir uns bemühen, den Geist der drei P am Leben zu erhalten. 

Jörg Niewöhner, Melbourne, Januar 2020

View from the Great Ocean Walk near Apollo Bay (2020 Jörg Niewöhner)

Welz, Gisela. 2019. More-than-human Futures: Towards a Relational Anthropology in/of the Anthropocene. Plenarvortrag im Rahmen der dgv Tagung Welt.Wissen.Gestalten. in Hamburg.
Sejersen, Frank. 2015. Rethinking greenland and the arctic in the era of climate change: new northern horizons: Routledge.