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Ethnographie des Vertrauten
Sven Sauter
Vor mir liegt der Notizenband Nr. 28 „Kulturkontakt – Kulturkonflikt“. Die beiden dicken Bände aus der Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie versammeln die vielfältigen Beiträge des 26. Deutschen Volkskundekongresses vom Herbst 1987. Er fand in Frankfurt statt. Damals war ich in der studentischen Redaktionsgruppe und ebenfalls in der Projektgruppe zu Urbanität und Spiritualität. Es war eine charakteristische Besonderheit, dass die Studierenden im Frankfurter Institut für Kulturanthropologie ganz stark an den Präsentationen der Forschungsergebnisse beteiligt waren. Dazu gab es gute Gründe, denn das handwerkliche Geschick des ethnographischen Forschens haben wir gründlich gelernt. So auch in Giselas Seminar zu den Methoden der Stadtanthropologie, in dem wir die eigenen Forschungen im Projektkontext vorbereiteten. Alles, was an Methoden, Impulsen und Texten aus der US-amerikanischen Cultural Anthropology oder der sich damals gerade abzeichnenden deutschen Forschungen der Stadtanthropologie von Gisela eingebracht wurde, sogen wir hungrig nach Methodenwissen und -können auf, um die eigene Forschung gut machen zu können. Einige aus der studentischen Forschungsgruppe (Christine Blaser, Christel Gärtner, Regina Koy, Monika Neuhoff, Cornelia Rohe, Katja Werthmann) berichteten auch in einem Werkstattbericht im Rahmen des Volkskundekongresses sowie im Notizenband 28 über die Muster der Raumaneignung aus dem laufenden Projekt.
Der unschätzbare Wert dieser soliden Kenntnis der Forschungsmethoden hat mich lange getragen und seitdem die Unplanbarkeit akademischer Wege mich in die Disziplin der Erziehungswissenschaft brachte, habe ich noch immer einen ethnographischen Blick. Er kann nicht verlernt werden, ganz im Gegenteil schärft er sich immer weiter aus. So fällt mir mehr auf und ich behaupte anders sehen und dadurch auch verstehen zu können. So wie bei Farhad. Ich hatte ihn im Rahmen eines studentischen Lehr- und Lernforschungsprojekts kennen gelernt (auch die Methode des Forschenden Lernens habe ich gewissermaßen aus der Frankfurter Kulturanthropologie mitgenommen). Farhad kam als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland. Im Südwesten der Republik angekommen sorgten das Migrations- und das Bildungsregime gemeinsam dafür, dass er einen Platz im geteilten Bildungsraum zugewiesen bekam: Aufgrund seiner damals noch unzureichenden Kenntnisse der deutschen Sprache und weil er schlicht das Pech hatte, eine seltene Stoffwechselerkrankung zu haben, wurde er an einer so genannten Schule für „Geistigbehinderte“ unterrichtet. Im Projekt hatte Farhad mit den anderen Teilnehmenden unter anderem die Geschichte der Einrichtung, an der er nun lernte, untersucht und Bildungsmaterial für den Besuch einer Gedenkstätte erstellt, an der die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen auch an den damaligen Schülerinnen und Schülern aus dieser Einrichtung verübt wurden. Wir schauten uns gemeinsam die Bilder aus dem Projekt und die Ergebnisse auf einer Wandzeitung an. Farhad sagte zu mir, dass es doch ungerecht sei, dass er auf dieser Schule nichts lerne. Er habe die Bildungspläne der Sonderschule mit denen der anderen Schulen verglichen. Wieso ist das Thema Nationalsozialismus ausgespart, so fragte er mich. Wir sprachen lange. In diesem Moment wurde mir klar, dass Farhad die Antwort längst wusste. Aber was sollte ich ihm antworten?
Immer mehr wird mir das Bildungssystem zur Frage und der scheinbar vertraute Ort von Schule fremd. Was dort an unbeobachteten sozialen Platzanweisungen und kulturellen Praktiken stattfindet, das sehen die Lehrkräfte in aller Regel nicht, weil sie daran beteiligt sind. Aber auch nicht, weil sie keinen Blick dafür haben. Eine Ethnographie der Schule war im Kongressband Kulturkontakt-Kulturkonflikt von 1988 noch kein Thema. Ich arbeite nun daran…