Als sich unsere Wege Anfang der 1990er Jahre am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut kreuzten, konnte ich nicht ahnen, wie prägend Deine Person für mein kulturanthropologisches Fragen und Forschen in der Zukunft noch werden würde. Denn meine regulären Seminare im Grund- und Hauptstudium als auch das Studienprojekt belegte ich fast ausschließlich bei den anderen Dozentinnen und Dozenten des Instituts.
Dann hörte ich im Sommersemester 1993 jedoch Deinen Vortrag im Institutskolloquium, in dem Du sehr anschaulich anhand von Beispielen aus Frankfurt und New York City über „Kulturelle Differenzierungen in der Großstadt“ sprachst. Und ich nahm an dem Blockseminar „Postfordismus kulturwissenschaftlich“ teil, das mir jenseits Deiner inhaltlichen Interessen auch Deinen Anspruch an Deine Lehre wie an uns Studierende verdeutlichte. Es galt, die knappe Zeit der drei Blöcke (zwei Samstage im Juni und eine Abschlusssitzung) als Diskussionsrahmen klug zu nutzen. Zuvor erhielten wir ein Papier mit Ausführungen zum Thema und dessen Relevanz für die EKW als auch zur Arbeitsweise. Ziel war nichts weniger als die „Konturierung eines kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldes“. Auf die kritische Lektüre einschlägiger Postfordismus-Theorien folgte die Auseinandersetzung mit exemplarischen Untersuchungen mit kulturwissenschaftlichem Zugang. Die Arbeitsaufträge waren detailliert beschrieben und anhand von Leitfragen strukturiert. Welchen Wert Du auf eine gründliche Vorbereitung, die fristgerechte Ablieferung unserer schriftlichen „Papers“ und die Berücksichtigung Deiner Vorgaben für die Abfassung der mündlichen Referate legtest, wurde noch dadurch unterstrichen, dass Du uns zusätzlich einen Brief nach Hause schicktest. An dessen Ende batst Du um Nachsicht für „den ermahnenden Lehrerinnen-Zeigefinger“ und erinnertest zugleich an die geplanten geselligen Programmpunkte im Anschluss an die „Diskussions-Intensiv-Tage“ wie z.B. das Schauen des Films Blade Runner von Ridley Scott. Dieses Seminar, das mir erstmals u.a. die Schriften von Ulrich Beck, Anthony Giddens und Manuel Castells nahebrachte, war nicht nur inhaltlich, sondern auch persönlich ein besonderer Gewinn für mich. Denn es nahmen neben Studierenden im gleichen Semester, darunter Sabine Hess, auch einige fortgeschrittene Studierende und Doktoranden des Instituts teil. Zusammen mit Andreas Wittel, Gerhard Keim und Stefan Beck in einem Kurs zu diskutieren, fand ich aufregend. Und die dadurch vertieften Kontakte zu Dir und Stefan sollten sich in den folgenden Jahren als maßgeblich für mein Magisterstudium und dessen Abschluss erweisen.
Aufgrund meines vorangegangenen Studienjahres in den USA gehörte ich zu den wenigen Studierenden in Tübingen, die an der Universität bereits eine Nutzeradresse für das Internet beantragt hatten. Ich war fasziniert von den Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten, die sich mir darüber eröffneten und verbrachte zunehmend mehr Zeit im Rechenzentrum. Ich staunte nicht nur über mich und mein eigenes Verhalten, sondern auch über die Erfahrungen, von denen die Kommilitonen an den Terminals links und rechts von mir berichteten. So entstand schließlich der Wunsch, die Aktivitäten in den virtuellen Räumen des Internet zum Thema meiner Magisterarbeit zu machen. Ich begann mit sporadischen Interviews und stellte erste Ideen zur Ausrichtung der Arbeit im Magisterkolloquium vor. Im Anschluss kamst Du zu meiner großen Überraschung auf mich zu und fragtest, ob Du mich betreuen dürftest? Tatsächlich hatte ich – trotz fehlender thematischer Nähe – für die Betreuung eher an einen der lang etablierten Professoren im Haspelturm gedacht. Du warst mir aufgrund Deines jungen Alters und formalen Status gar nicht in den Sinn gekommen. Dein Angebot jedoch empfand ich als große Auszeichnung, und damit war die Sache entschieden. Und so kam es, dass ich – neben Sabine Hess – die erste wurde, die bei Dir eine Magisterprüfung ablegte.
Welches Privileg ich durch Deine sorgfältige Betreuung genoss, kann ich nicht oft genug betonen. Du leitetest mich systematisch bei der Eingrenzung der Fragestellung, der Auswahl und Aufbereitung der theoretischen Literatur, der Entwicklung des Exposés und insbesondere bei der Verdichtung und Auswertung der einzelnen Interviewtranskripte an. Die Einübung dieser Arbeitsschritte prägt meinen Umgang mit qualitativen Interviews bis heute. Und die Vielfalt Deiner thematischen Impulse dokumentiert beispielhaft auch diese Anzeigenkopie aus der Village Voice, die Du mir im April 1995 gabst.
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Deine Rückmeldungen halfen mir, meine intellektuellen Stärken nicht nur gezielt einzusetzen, sondern überhaupt als solche zu erkennen, mein Denken zu ermutigen. Zugleich hattest Du viel Verständnis, dass ich meine Nase neben der Forschung immer noch in vielfältige andere Aktivitäten steckte. Irgendwann riss aber auch Dir der Geduldsfaden: Ich hatte eine Einladung zu einer internationalen Jugendkonferenz in Istanbul erhalten. Du hieltest mir entgegen, wieviel Energie und Zeit ich durch diese Unterbrechung erneut verlieren würde. Schließlich kündigtest Du an, mich nicht weiter zu betreuen, sollte ich diese Reise antreten. In meiner Erinnerung ist daraus das Ultimatum „Ich oder Istanbul!“ geworden, und mich diesem zu fügen, brachte den nötigen Wendepunkt. So gelang es mir letztlich eine Magisterarbeit zu Papier zu bringen, mit der nicht nur die Prüfer*innen und ich sehr glücklich waren, sondern die auch als unmittelbare Buchveröffentlichung ein großer Erfolg wurde (Zwischen On- und Offline).
Trotz dieser guten Ergebnisse blieb ich der Universität nach Studienabschluss nicht lange erhalten, sondern ging beruflich erstmal andere Wege. Einige Jahre weiter aber war der Wunsch nach einer forschenden Auseinandersetzung mit dem, was mir – nun in der Berufsbildung – begegnete, wieder so groß, dass ich den Plan für eine Promotion fasste. Und wieder stieß ich mit meinem Anliegen bei Dir auf offene Ohren. Nun begann eine lange Phase, in der ich regelmäßig an den Doktorandenkolloquien des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt teilnahm, ohne jedoch wirklich zu Potte zu kommen. Das änderte sich erst allmählich, und daran hatte das von Dir entwickelte Format der Wochenend-Workshops für uns Doktoranden einen wichtigen Anteil.
Ähnlich wie in dem Blockseminar von einst, halfen mir die gut geplanten Einheiten, wieder soliden theoretischen Grund unter die Füße und Anschluss an die aktuellen Debatten des Fachs zu bekommen. Deine Offenheit für die Fragestellungen insbesondere der vielen berufsbegleitend Promovierenden in unserer Gruppe war bemerkenswert, und ich habe dieses intervallartige kleine Promotionsstudium sehr genossen. Diesmal jedoch stelltest Du mir kein Ultimatum mehr, und ich musste mich selbst aus dem Schlamassel ziehen. Im Ergebnis sind zwischen Magisterarbeit und Promotion nicht weniger als zwanzig Jahre vergangen… Aber auch hier kann sich das Ergebnis Dank Deinem Beharren auf einem stimmigen Exposé bis hin zu letzten Empfehlungen für die Abfassung der Veröffentlichung sehen lassen (Die professionelle Praxis der Ausbilder).
Bekanntlich hat ja jedes frei gewählte Forschungsthema viel mit einem selbst zu tun. Mich hat bewegt, was eigentlich passiert, wenn ein Mensch von einem anderen lernt. Was die Dynamik der ‚Weitergabe von Wissen‘ im persönlichen Kontakt ausmacht, warum manche Menschen begnadete Ausbilder*innen sind und junge Menschen durch sie vieles lernen und verstehen. Du bist für mich eine begnadete Hochschullehrerin. Du hast das individuelle Potenzial in mir gesehen und mich wiederholt und geduldig auf Theorien und Fragestellungen hingewiesen, die mir letztlich voll entsprachen und die Forschung zu einer inspirierenden Reise für mich machten. Wie wenig selbstverständlich es ist, im Wissenschaftsbetrieb tatsächlich gesehen zu werden und mit seinen Neigungen und Fähigkeiten nicht für die Zwecke anderer instrumentalisiert zu werden, zeigte mir das Leben an anderer Stelle.
Meine Dissertation habe ich allen gewidmet, „die sich mit Herzblut in der Ausbildung des Nachwuchses engagieren“ und somit auch Dir. Unten siehst Du mich in dem stolzen Moment, in dem wir gemeinsam die Torte zur Feier meiner Promotion anschneiden. Leider ist die Torte selbst auf dem Foto gar nicht zu erkennen. Aber so fällt es leicht, sich einfach vorzustellen, dass eine große 60 darauf prangt und wir nun DICH feiern: Herzlichen Glückwunsch!!
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