Ricarda Lederer und Jana Senftleber
Guckkastenbilder gaben Menschen, die sich das Reisen nicht leisten konnten, die Möglichkeit, unerreichbar ferne, aber berühmte Orte zu sehen. Doch wie genau nahmen es die Hersteller solcher Guckkastenbilder mit der Detailtreue des von ihnen Dargestellten, wenn es sich um reale Dinge wie Städte oder Wahrzeichen handelte? Schließlich konnten die wenigsten der Jahrmarktsbesucher:innen, die sich in Guckkästen jene Bilder ansahen, an die entsprechenden Orte reisen, um zu überprüfen, ob sie wirklich so aussahen wie dargestellt. Umso interessanter scheint es, Guckkastenbilder, die reale Orte zeigen, mit heutigen fotografischen Ansichten zu vergleichen.
Das Guckkastenbild „No. 82“ von Wickelmann u. Söhne aus Berlin zeigt eine prächtige Vedute der Piazza San Marco in Venedig (Abb. 1). Rechts im Bild ist die Biblioteca Marciana zu erkennen, links der Dogenpalast – beide eingebettet in eine symmetrisch komponierte Architekturkulisse. Unter anderem ist die bis heute als touristisches Ziel bekannte Seufzerbrücke und der Platz von San Marco mit dem Campanile, dem signifikanten Leuchtturm, zu sehen. Im Vordergrund befinden sich kleinere Schiffe und Ruderboote auf dem Wasser. Die Perspektive legt nahe, dass die Darstellung vom Wasser aus gezeichnet wurde – womöglich von einem Schiff, das ähnlich ausgesehen haben könnte, wie dasjenige, welches links oberhalb des bemannten Ruderbootes dargestellt ist.

Das hier beschriebene Blatt befindet sich im Depot der Graphischen Sammlung des Historischen Museums Frankfurt. Der genaue Entstehungszeitraum lässt sich nicht präzise datieren, die Gestaltung weist jedoch typische Merkmale der populären Vedutenblätter des späten 18. Jahrhunderts auf: dafür sprechen die Zentralperspektive, die kräftige Kolorierung und eine Vielzahl von Staffagefiguren[1].
Dieses Blatt ist nicht bloß ein Abbild der Lagunenstadt, es inszeniert Venedig als idealisierten Sehnsuchtsort. Die Architektur links und rechts des Kanals ist symmetrisch komponiert, reich ornamentiert und eindeutig lokalisierbar. Die Darstellung folgt eher einem Idealbild als einer dokumentarischen Realität. Gerade die Abweichung vom topografisch Exakten ist typisch für das Venedigbild jener Zeit[2]. Die Stadt fungiert als Bühne und das Bild als Rahmen dieser Bühne.
Betrachtet man die Szenerie, fällt denjenigen, die schon selbst in Venedig waren, sofort auf, dass sie spiegelverkehrt ist: Der Leuchtturm von San Marco, der im Bild zu sehen ist, befindet sich in Wirklichkeit vom Wasser aus gesehen auf der linken Seite des Dogenpalastes, während die Seufzerbrücke eigentlich auf seiner rechten Seite den Kanal überspannt. Es liegt nahe, dass der Guckkasten, für den dieses Bild gedacht war, mit einem Spiegel funktionierte. Zwar könnte man argumentieren, dass ohnehin keiner der Betrachter oder Betrachterinnen auf den Jahrmärkten weit entfernt von Venedig hätte wissen können, auf welcher Seite der Leuchtturm von San Marco steht, jedoch ist auch die erklärende Schrift unter dem Bild, die die Ansicht als jene von Venedig ausweist, spiegelverkehrt. Demnach scheint es wahrscheinlicher, dass das Bild für einen Guckkasten gemacht war, bei dem Betrachtende nur das Spiegelbild des eigentlichen Bildes sahen.
Was dieses Blatt besonders macht, ist seine Gestaltung für den Einsatz im Guckkasten und die Veränderung seiner Wirkung durch Licht. Betrachtet man es ohne optisches Gerät, dominieren die kräftigen Farben: Leuchtendes Blau für Himmel und Wasser, warme Ockertöne für die Architektur, ergänzt durch Akzente in Rot und Grün. Die räumliche Tiefe ist durch die Zentralperspektive angelegt, wirkt aber flächig.
Wird das Blatt im Guckkasten hinterleuchtet, ändert sich der Eindruck grundlegend (Abb. 2). Auf der Rückseite wurden ausgewählte Bildpartien mit durchscheinendem Papier hinterklebt – etwa Fenster oder Himmelsbereiche wie der Mond, die man bei Betrachtung des Bildes auf der Vorderseite bereits erkennen kann. Sobald Licht durch das Blatt fällt, beginnen diese Flächen zu leuchten. Sie erzeugen eine beinahe theatralische Stimmung, die das Bild zum Leben erweckt. Die Illusion von Bewegung entsteht nicht durch Animation, sondern durch das Wechselspiel von Licht und Fläche. Die ansonsten statische Szenerie wird so zur immersiven Stadtlandschaft, die die Betrachtenden unmittelbar einbezieht.

Foto: Jana Senftleber
Auch spielt die Möglichkeit, die Fenster der Gebäude zu erleuchten, eine Rolle für die Analyse des Guckkastenbildes. Das durchscheinende Licht verleiht dem ohne Beleuchtung recht farblos wirkenden Bild eine feierliche Stimmung. Gleichzeitig ermöglicht die Beleuchtung auch, die, wie ein Vergleich mit einem heutigen Foto zeigt (Abb. 3), übertrieben großen Fenster der Gebäude im Bild hervorzuheben: Jene, die erleuchtet sind, sind zum Teil doppelt so groß wie die gezeichneten und auch deutlich größer als die Fenster der realen Gebäude. Dies fällt besonders bei den Rundbogenfenstern des Dogenpalastes sowie bei jenen des Gebäudes vor dem Campanile auf, bei dem es sich um die ehemalige Münzdruckerei der Stadt handelt. Das dritte Gebäude, dessen erstes Stockwerk komplett erleuchtet wirkt, ist das Gefängnis der Stadt, weswegen die helle Beleuchtung eigentlich etwas verwundert. Bemerkenswert ist auch, dass der Campanile, also der Leuchtturm Venedigs, keinerlei Möglichkeit der Beleuchtung aufweist. Man könnte demnach überlegen, ob der- oder diejenige, welche:r die Fensteröffnungen ausgeschnitten hat, um sie hinterleuchten zu können, nicht um die jeweilige Funktion der dargestellten Gebäude wusste, sodass ein nicht gerade für seine Festlichkeit bekanntes Gefängnis erleuchtet wurde, während einem sich eigentlich darüber definierenden Leuchtturm das Licht fehlt.

Vergleicht man mit der heutigen Ansicht (Abb. 2), kann man zum Schluss kommen, dass der Zeichner des Guckkastenbildes auch ebenso gut auf der Insel San Giorgio Maggiore gestanden haben könnte, obwohl diese im Guckkastenbild nicht dargestellt wird. Die Entfernung vom Standort des Betrachters zum Ufer des Dogenpalastes passt erstaunlich gut zu einem möglichen Blickpunkt von San Giorgio Maggiore aus. Anders als bei anderen Guckkastenbildern, die etwa Schlösser oder breitgefasste Landansichten darstellen, handelt es sich bei dieser Ansicht Venedigs nicht um eine Vogelperspektive oder einen Blick von einem erhöhten Punkt aus. Vielmehr scheint sich die betrachtende Person auf Höhe des nicht allzu weit entfernten Ufers zu befinden.
Der Verlag Winckelmann u. Söhne, 1828 in Berlin gegründet, fokussierte sich auf populäre Bilddrucke – speziell Guckkastenbilder, Bilderbögen und Kinderbücher – die regelmäßig nummeriert und thematisch gegliedert veröffentlicht wurden[3]. Die Nummerierung des Blattes („No. 82“) verweist auf eine größere Serie von Guckkastenbildern, die vermutlich über Jahrmärkte oder den Buchhandel verbreitet wurde. Dass ein Berliner Verlag eine idealisierte Vedute von Venedig herstellt, zeigt den transnationalen Reiz solcher Motive. Venedig war ein europaweit begehrtes Sujet, unabhängig von geographischer Nähe oder Authentizität, im 18. und 19. Jahrhundert gehörte es zu den kanonischen Sujets.
Die Kombination aus romantisierender Bildsprache, raffinierter Lichttechnik und massenmedialer Verbreitung macht dieses Blatt zu einem typischen und zugleich besonderen Beispiel für visuelle Repräsentationen des Fremden um 1800. Es visualisiert einen imaginären Ort und erzeugt eine Illusion, die durch technische Raffinesse, insbesondere die rückseitige Lichtgestaltung, gesteigert wird. Zugleich steht es exemplarisch für die visuelle Konstruktion von Weltbildern seit der Vormoderne. Venedig wird hier nicht gezeigt, sondern erfunden. Und dieses „erfundene Venedig“ ist bis heute wirksam – als Bild, als Projektionsfläche, als Versprechen. Gleichzeitig sind die Gebäude, ihre Lage und ihre Fassaden – wenn auch spiegelverkehrt – sehr detailgetreu gezeichnet, und auch die Größenverhältnisse der Figuren zur Architektur wirken passend. Im Vergleich zu anderen Guckkastenbildern handelt es sich durchaus um ein qualitativ hochwertiges Guckkastenbild.
[1] Vgl. Kunstsammlungen & Museen Augsburg: Guckkastenbilder, URL: https://kunstsammlungen-museen.augsburg.de/guckkastenbilder (letzter Zugriff: 16.07.2025).
[2] Heiner Krellig: Menschen in der Stadt. Darstellungen städtischen Lebens auf venezianischen Veduten, Dissertation TU Berlin 2002, S. 380, abrufbar unter: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/7178/1/Krellig_Menschen_in_der_Stadt_2002.pdf (letzter Zugriff: 16.07.2025).
[3] Vgl. Sebastian Schmideler, Verlag Winckelmann & Söhne (1828–1934). In: Kurt Franz, Günter Lange, Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 45. Ergänzungslieferung, Mai 2012. Corian, Meitingen, 1–16.
