Kerstin Kessler
Das Blatt ist spiegelverkehrt übertitelt Les Pyramides de l’Egypte. – Die Pyramiden Ägyptens. Es ist um 1770 in der Augsburger Werkstatt des Kupferstechers Georg Balthasar Probst entstanden und hat die Maße 32 x 43 cm.[1] Es zeigt eine Ansicht verschiedener architektonischer Konstrukte im Mittelgrund, an deren Bau beteiligte Figuren in Vorder- und Mittelgrund, sowie eine Berglandschaft im Hintergrund. In der Mitte des Vordergrundes ist eine Gruppe Figuren zu sehen: Zwei männliche Figuren zeigen dem König eine architektonische Planungsskizze. Dieser betrachtet die Skizze und weist mit einem goldenen Stab auf das im Bau begriffene Gebäude links. Ein Kind und eine Frau sehen dabei zu. Die Szenen sind reich bevölkert. Die Menschen sind nicht in die Mode des 18. Jahrhunderts gekleidet, sondern in eine allgemein erscheinende, unaufdringliche Fantasietracht. Lediglich die Kleider des Königs sind mit Verzierungen ausgearbeitet. Dies hat den Effekt, dass die Szenen der Darstellung in ihrer Zeitlichkeit nicht eindeutig identifizierbar sind; vielmehr rückt die Kleidung die Darstellung in eine unbestimmte Vergangenheit.

Besonders bemerkenswert am vorliegenden Blatt sind die architektonischen Darstellungen: Unter heutigen Gegebenheiten haben wir klare visuelle Erwartungen an das Aussehen ägyptischer Pyramiden. Die hier vorliegenden Pyramiden erfüllen diese Erwartung nicht. Vier der sieben „Pyramiden“ haben die Form von Obelisken. Drei dieser Obelisken weisen Schriftzeichen auf, die Hieroglyphen imitieren. Einer der Obelisken hat die Form einer schmalen, gelängten Pyramide; sie ist hellgrau und hellgelb gestreift und verfügt über eine kleine Tür. Sixt von Kapff führt die Obeliskenform der hier vorliegenden Pyramiden darauf zurück, dass Cäsar Obelisken aus Ägypten mitgebracht hatte und sich hier die Begriffe vermischt haben.[2] Die übrigen beiden Bauwerke sind kegelförmig. Einer der Kegel wirkt, als würde er aus einem Felsmassiv aufragen. Das andere kegelförmige Bauwerk ist noch eine Baustelle. Es entspricht der Darstellungstradition des Turmbaus zu Babel: Typische Merkmale sind die Kegelform, sowie das nicht abgeschlossene Baustadium.[3] So lässt sich feststellen, dass die hier vorliegende Darstellung ein fantastisch überformtes Bild des antiken Ägyptens zeigt, dass die ägyptische mit der biblischen Geschichte des Turmbaus zu Babel verknüpft.
Unter der Darstellung ist in lateinischer, französischer, italienischer und deutscher Sprache vermerkt, was auf dem Blatt zu sehen ist. Dies ist ein Merkmal der Guckkastenbilder von Georg Balthasar Probst. Die deutsche Inschrift lautet Die Egyptischen Pyramiden, dritte Wunderwerck der Welt. Das vorliegende Blatt ist Teil einer Reihe von sieben Blättern, die jeweils eines der sieben Weltwunder zeigen sollen. Über die digitale Sammlung der Bibliothèque nationale de France sind sechs dieser sieben Blätter rekonstruierbar: Diese Sammlung verfügt neben dem vorliegenden Blatt über Darstellungen des Amphitheaters von Rom, des Koloss von Rhodos, der babylonischen Mauern, des Diana-Tempels von Ephesus und des Mausoleums von Halikarnassos. Das siebte Blatt zeigt den Leuchtturm Pharos von Alexandria; Sixt von Kapff integriert das Blatt in seinen Gesamtkatalog der Guckkastenbilder von Georg Balthasar Probst.[4] Er gibt außerdem an, dass vier der sieben Blätter auf Darstellungen der Weltwunder des Malers Maarten van Heemskerck (1498-1574) zurückgehen und von Philips Galle (1537-1612) gestochen wurden.[5] Dieser war befreundet mit Adrian de Jonghe (latinisiert: Hadrianus Junius, 1537-1612), der eine Liste der Weltwunder mit begleitenden Versen erstellt hatte. Sixt von Kapff betont eine „Renaissance der Sieben Weltwunder“ im 15. und 16. Jahrhundert, die hier aufgegriffen wird und während der verstärkt Versuche unternommen wurden die Weltwunder ins Bild zu setzen. Er schildert ferner, dass alle Vorzeichnungen zu den Sieben Weltwundern (die Kapff Probst selbst zuschreibt) erhalten geblieben sind.[6]
[1] Bei der Datierung folge ich der Bibliothèque nationale de France: https://images.bnf.fr/#/detail/458172/4 (Letzter Zugriff am 10.07.2024)
[2] Sixt von Kapff: Guckkastenbilder aus dem Verlag von Georg Balthasar Probst 1731-1801, Weißenhorn 2010, S. 526.
[3] Vgl. Ulrike B. Wegener: Die Faszination des Maßlosen. Der Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel bis Athanasius Kircher, Hildesheim 1995, S. 9-14.
[4] Vgl. Sixt von Kapff: Guckkastenbilder aus dem Verlag von Georg Balthasar Probst 1731-1801, Weißenhorn 2010, S. 532.
[5] Vgl. Ebd., S. 524.
[6] Sie befinden sich derzeit in Privatbesitz. Ebd.