Valentina Dinis
Das Guckkastenbild Vue perspective du Chateau de Noizi du côté de l’entrée proche Versailles ist besonders spannend hinsichtlich seiner Darstellung und kompositorischen Umsetzung (Abb.1).

Anders als viele Guckkastenbilder, die neben der Unterhaltung auch der Dokumentation oder Belehrung dienten, steht bei diesem Werk die visuelle Illusion im Vordergrund. Dargestellt ist das ehemalige Schloss in Noisy-le-Roi, das bereits 1732 abgerissen wurde. Durch die im Titel suggerierte Nähe zu Versailles, dessen Schloss im 18. Jahrhundert als Inbegriff absolutistischer Macht galt, wird die abgebildete Anlage symbolisch aufgewertet. Gerade dieser Blick in eine idealisierte, unerreichbare Welt dürfte für das damalige Bürgertum besonders reizvoll gewesen sein.
Die außergewöhnliche Strenge der Symmetrie hebt dieses Blatt von anderen Guckkastenbildern ab. Das Bild lässt sich entlang der Mittelsenkrechten nahezu vollständig spiegeln. Besonders die Architektur mit dem mittig gesetzten Tor, den axial ausgerichteten Gebäudeflügeln und der streng geometrischen Anlage verweist auf eine idealisierte Ordnung in Anlehnung an Versailles. Durch die überzogene Zentralperspektive und die klare Staffelung der Bildebenen erinnert die Darstellung an ein Bühnenbild mit Figuren im Vordergrund als Darstellern und der Architektur als Kulisse. Die Betrachtenden werden somit zu Zuschauenden einer höfischen Inszenierung und der Guckkasten selbst wird zur Bühne.
Im Gegensatz zu belebten Stadt- oder Marktszenen zeigt dieses Bild keine Handlung, sondern stellt die monumentale Architektur in den Mittelpunkt, die sinnbildlich für höfische Macht und Ordnung steht. Die Figuren dienen lediglich als Staffage und sind gleichmäßig über alle Bildebenen verteilt, ohne ersichtliche Interaktion mit der Umgebung. Ihre Anwesenheit verstärkt die Tiefenwirkung und unterstreicht die Größe der Schlossanlage.
Die ruhige, statische Darstellung eröffnet Raum für Imagination, insbesondere in Verbindung mit den Erzählungen der Guckkästner, die das Bild mit Leben füllen konnten. Ein denkbarer Auszug aus einer solchen Vorführung könnte lauten:
„Da seht ihr das prächtige Schloss, ganz in der Nähe von Versailles! Stellt euch vor wie der Adel hier lebt, Herrschaften schreiten durch die Gärten, Diener eilen durch die Gänge, Kutschen fahren ein und aus. Hier leuchten die Fenster und das Tor glitzert wie bei den prunkvollen höfischen Festen, die hier gefeiert werden.“
Solche Erzählungen konnten die Vorstellungskraft des Publikums aktivieren und ein statisch aufgebautes Werk mit Bewegung aufladen. Unterstützt wurde dies durch die optischen Effekte des Guckkastens selbst. Insbesondere durch die Lichtdurchbruchsstellen, wie sie auf der Rückseite des Blattes zu erkennen sind (Abb. 2).

Das Tor im Hintergrund wurde mit zahlreichen punktuell gesetzten Löchern versehen, die beim Bestrahlen einen glitzernden Effekt erzeugen. Auch Aussparungen an den Fenstern sind auf der Rückseite sichtbar. In Kombination mit Licht entsteht so der Eindruck eines belebten Schlosses voller Bewohner. Ihre Wirkung entfaltet sich vollständig erst im Zusammenspiel mit der Beleuchtung.
Dieses Blatt zeigt exemplarisch, wie entscheidend die Verbindung von Bild und Medium im Guckkasten ist. Die Blätter sind nicht als autonome Einzelwerke zu verstehen, sondern als Bestandteil eines inszenierten Sehprozesses. Erst durch die Wechselwirkung von Darstellung, Licht und Erzählung werden die Bilder zu einer eindrücklichen Erfahrung.