Waren die Kolonialverbrechen ursprünglicher als Auschwitz? In der Nationalbibliothek weisen Historiker den Angriff Dirk Moses‘ auf Forschung und Erinnerungskultur eloquent zurück – und lassen anderes außen vor.

Von Manfred Köhler

Mit dem Abstand von mehr als drei Jahrzehnten erscheint der Historikerstreit Mitte der Achtzigerjahre als geradezu gemütlich. Es ging zwar um nicht weniger als die Einordnung des Holocausts in die Geschichte, aber es war klar, auf welchem Grund sich die Gegner trafen: Das waren genuin historische Fragestellungen einerseits und solche des nationalen Selbstverständnisses andererseits, ein schon zuvor lange beackertes und genau bemessenes Feld.

Das ist in der neuen Auseinandersetzung um die Einordnung der Judenvernichtung anders. Während die zeitgeschichtliche Forschung auf hohem Niveau weiter der Aufgabe nachgeht, den Nationalsozialismus und seine mörderische Kraft zu verstehen, hat 2021 der bis dahin wenig bekannte australische Historiker Dirk Moses, der in den USA lehrt, einen regelrechten Generalangriff auf diese Zunft und die Geschichtspolitik der Deutschen unternommen; er wirft ihnen in einem Beitrag vor, der Holocaust sei für sie ein „heiliges Trauma“, sieht „Hüter der erinnerungspolitischen Orthodoxie“ am Werke und „priesterliche Zensoren“. Deutsche Eliten instrumentalisierten den Holocaust, um andere Verbrechen namentlich in den einstigen Kolonien auszublenden.

Die Argumentation Moses‘ hat einigen Widerspruch ausgelöst, nicht so viel, dass sich wirklich von einem zweiten Historikerstreit sprechen ließe, aber natürlich fühlt sich jeder an den Großkonflikt von 1986/87 erinnert. Wichtige Gegenargumente zu Moses finden sich in einem schmalen Band des Beck-Verlags mit dem Titel „Ein Verbrechen ohne Namen“, der jetzt vom Fritz-Bauer-Institut gemeinsam mit dem Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität in der Deutschen Nationalbibliothek vorgestellt worden ist.

Der Historiker Norbert Frei, Seniorprofessor in Jena und einer der Autoren des Sammelbands, legte dar, dass die Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik mitnichten „von oben“ gesteuert worden sei, wie es Moses suggeriert. Spätestens nach dem Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 sei die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik kein Oktroi ominöser „Eliten“ mehr gewesen, sondern Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Selbstverständigungsbedürfnisse, wie es der Wissenschaftler formulierte. Frei verwies in der von Rebecca Schmidt, Geschäftsführerin des Forschungsverbunds, moderierten Veranstaltung etwa auf die lebhaften öffentlichen Diskussionen in den Jahren nach der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985. Von einem den Deutschen verordneten „Katechismus“ zum Umgang mit den Holocaust und sogar einer Disziplinierung der Bevölkerung, von der Moses schreibt, könne überhaupt nicht die Rede sein.

Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, widersprach einem weiteren Argument Moses‘: Die Judenvernichtung sei für die Deutschen derart einzigartig, dass sie sich Vergleiche mit anderen Genoziden verböten. Der auch in einem Beitrag in der Wochenzeitung „Die Zeit“ formulierte Appell, den Vergleich des Holocausts mit anderen Verbrechen zu enttabuisieren, gehe ins Leere, sagte Steinbacher, denn das Tabu gebe es nicht in der Geschichtswissenschaft, Vergleichen sei eine ihrer gängigen Methoden. Und wenn zudem gefordert werde, sich mit Verbindungen zwischen der deutschen Kolonialpolitik und dem Nationalsozialismus zu befassen, sei auch dies keine neue Fragestellung; allzu viele Bezüge zwischen der Kolonialgeschichte und den Nationalsozialisten seien im Übrigen nicht nachweisbar.

Dass sich die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik auch bisher schon mit dem Kolonialismus befasst habe, unterstrich Dan Diner, der dritte anwesende Autor des Buches; er selbst habe in Essen eineinhalb Jahrzehnte Kolonialgeschichte gelehrt. Diner, heute an den Universitäten Jerusalem und Leipzig tätig, liest aus dem Aufsatz Moses‘ heraus, dass dieser der deutschen Geschichtsschreibung Parteilichkeit unterstelle. Diner arbeitete eine Parallelität zwischen dem Historikerstreit 1986/1987 und der jüngsten Auseinandersetzung heraus; wieder gehe es darum, ob ein Verbrechen „ursprünglicher“ sei als Auschwitz, damals war es der „Klassenmord der Bolschewiki“, wie Ernst Nolte fragend nahelegte, diesmal sind es die Kolonialverbrechen. Doch handele es sich beim Holocaust nicht um eine bestimmte Gestalt kolonialer Gewalt: „Kolonialgewalt ist Gewalt eigenen Rechts“, so Diner.

So eloquent die drei Autoren die historischen und geschichtspolitischen Einlassungen Moses‘ zurückwiesen, so wenig wussten sie mit dem weitergehenden Argumenten des abwesenden Provokateurs anzufangen. Denn von seinem Angriff auf die herausgehobene Rolle des Holocausts in der deutschen Erinnerungskultur kommt Moses ohne Umschweife einerseits auf das Selbstverständnis der Bundesrepublik zu sprechen, für die Sicherheit Israels eine besondere Verantwortung zu tragen, was für ihn Anlass zu allerhand Polemik etwa über den BDS-Beschluss des Bundestages ist, andererseits zur Forderung nach einer Neuausrichtung jener Erinnerungskultur angesichts einer zunehmend international geprägten Bevölkerung.

Frei sprach vage von der Notwendigkeit von Anpassungs- und Übersetzungsleistungen angesichts eines wachsenden Migrantenanteils, Diner beklagte die Unbestimmtheit von Begriffen wie Rassismus und Kolonialismus. Aber die eigene Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens durch Moses, die er doch zugleich den Deutschen vorwirft, blieb unerörtert. Im Grunde müssen sich Historiker auch nicht zu Debatten äußern, die außerhalb ihres Spielfelds lokalisiert sind, das sie an diesem Abend nicht verließen. Sie dürfen es allerdings schon; ihr ferner Berufskollege Moses tut es ja auch.

Die unheilige Verknüpfung der nachvollziehbaren Forderung nach einem noch stärkeren Beachten der deutschen Kolonialgeschichte mit einer Delegitimierung Israels, das in solchen Diskursen auf einmal selbst als Kolonialmacht auf der Bühne erscheint, worauf man ja erst einmal kommen muss, wäre glatt noch einen zweiten Band wert. Vielleicht erlaubt dann bei einer neuerlichen Vorstellung in der Nationalbibliothek der Stand der Corona-Pandemie, das Publikum Fragen stellen zu lassen, das diesmal schweigend entlassen wurde.

Von Manfred Köhler. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.04.2022, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 40
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