Putins Normfeindschaft erinnert an Hitler: Andeutungen, ein Einsatz von Chemiewaffen werde vorbereitet, enthüllen eine zynische Einstellung zum Völkerrecht

Schockierend ist die unverhohlene Zerstörungslust von Putins Armee. Rätselhaft wirken derzeit noch die immer wieder vorkommenden Bezugnahmen auf chemische Waffen. Sie haben in der russischen Kriegspropaganda mittlerweile einen festen Platz, was ebenso verstörend wie interessant ist.

Wiederholt hat Moskau zuletzt behauptet, die Ukraine besitze chemische und biologische Waffen. Belege dafür blieb man schuldig. Die ukrainische Regierung, so eine weitere unbelegte Behauptung Russlands, bereite den Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung vor. Dieser Angriff solle dann Russland untergeschoben werden. Angeblich betreibe die Ukraine gemeinsam mit den Vereinigten Staaten biologische und chemische Waffenlabore. Diese sämtlich unsubstantiierten Behauptungen werden allgemein so gedeutet, dass Russland selbst einen Einsatz erwäge, aber ihn dem Gegner unterschieben wolle. Dabei wird davon ausgegangen, dass Russland trotz des Verbots in der Vergangenheit weiter an diesen Waffen geforscht hat, aktuelle Einsatzpläne besitzt und konkret darüber nachdenkt.

Auf die von einem Sprecher der ostukrainischen Separatisten im russischen Fernsehen geäußerte Forderung, dass Russland in Mariupol „chemische Kräfte“ zum Einsatz bringen solle, reagierte der ukrainische Präsident Selenskyj jetzt mit der Bewertung, damit werde „ein neues Stadium des Terrors gegen die Ukraine“ eingeleitet. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien haben Untersuchungen angekündigt, ob in Mariupol chemische Kampfstoffe womöglich schon verwendet worden sind.

Schon der rhetorische Umgang mit Chemiewaffen kann als politisches Handeln verstanden werden, und er lässt tief in die amoralische Vorstellungswelt des russischen Präsidenten Putin und seiner Parteigänger blicken. Sie ist gekennzeichnet von Völkerrechtsfeindschaft und verschleierter Völkerrechtsleugnung. Das zeigt ein Blick in die Geschichte der moralischen und rechtlichen Ächtung dieser Waffe.

Chemische Kampfmittel und Gifte sind durch Vertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht geächtet. Sie gelten als „einzigartig böse“, jeder Einsatz bedeutet einen Tabubruch – unabhängig von dem mit ihm verknüpften militärischen Zweck. Ausreden gelten nicht, und Rechtfertigungen gibt es keine. Das ist eine kriegsrechtliche Besonderheit. Sie gilt nur für ganz bestimmte Waffen. Dahinter steht aber eine allgemeine Idee: Ziel und Mittel von Gewalt unterliegen nicht der Willkür der Kriegführenden.

Denn das Kriegsvölkerrecht ist ein historisch gewachsenes Gebilde. Es hat aus moralisch empörenden Erfahrungen vergangener Konflikte Schlüsse gezogen und zu verbindlichen Normen formuliert. Gegen diese Verbote mag bisweilen verstoßen werden, und tatsächlich ist das in bewaffneten Konflikten oft der Fall. Es ändert aber genauso wenig an der Geltung der Norm, wie ein Verbrechen das Strafrecht abschaffen kann.

Das Kriegsrecht ist ein besonders alter Teil des Völkerrechts. Seit Jahrtausenden werden moralische Minima hochgehalten. Sie finden sich in historischen Erzählungen, religiösen Schriften und Rechtstexten. Darf man fruchttragende Bäume des Kriegsgegners abschlagen oder Gesandte töten? Manchmal sind die Normen verschieden, die man im historischen islamischen Völkerrecht und im westlichen Völkerrecht findet, aber in anderen Fällen stimmen politische und religiöse Gemeinschaften in ihnen überein. Immer geht es bei den Unterscheidungen zwischen Erlaubtem und Verbotenem um die Begrenzung des von jeher als prinzipiell schlimm begriffenen Kriegs.

Ächtung der verfluchten Mittel

Schon früh taucht das Gift als geächtete Waffe auf. Die Klassiker des Völkerrechts, Hugo Grotius und Emer de Vattel, leiten schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert das Verbot aus dem Naturrecht ab; de Vattel schreibt 1758: „Der Souverän, welcher diese verfluchten Mittel gebrauchet, muss als ein Feind des menschlichen Geschlechts angesehen werden, und alle Nationen haben wegen des gemeinsamen Wohlstandes der Menschen einen Beruf, sich gegen ihn zu vereinbaren, und ihn zu züchtigen gemeine Sache zu machen.“ Über die Zeit hinweg gab es sehr verschiedene Begründungen dieses Tabus. Manchmal wurde das Gift als unehrenhafte, da weibische Kampfmethode gebrandmarkt. Immanuel Kant verweist auf die Notwendigkeit, mit dem Kriegsgegner später vertrauensvollen Frieden schließen zu können. Solches verbiete den Einsatz heimtückischer Methoden.

Eine andere Begründungslinie gegen das Gift stellt auf das Verbot ab, Waffen einzusetzen, die unnötige Leiden verursachen und somit das Prinzip der Humanität verletzen. Diese Begründung macht das Kriegsrecht ebenso moralisch anziehend wie friedensethisch angreifbar. Denn es bedeutet in seiner unvermeidlichen Dialektik zugleich, dass Kriegführung damit prinzipiell erlaubt ist – und Krieg angesichts solcher Beschränkungen womöglich als noch führbarer wahrgenommen würde. Es ist ein Streit, der bis heute andauert, und noch jeder Fingerzeig auf Verbote und Verstöße muss sich kritische Rückfragen gefallen lassen.

Die Verbote wurden vom letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts an in Deklarationen und multilateralen Verträgen festgehalten. Auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 kam es schließlich zu ihrer verbindlichen Normierung, und Geschosse, die erstickende oder giftige Gase verwendeten, wurden ebenso geächtet wie Gift oder vergiftete Waffen.

Der Dammbruch, den der erste große erfolgreiche Giftgaseinsatz im Krieg bedeutete, ist der Welt im Gedächtnis geblieben. Am 22. April 1915 verwendete das deutsche Heer während der Zweiten Flandernschlacht nahe der Stadt Ypern Chlorgas. Die grausame Wirkung übertraf so sehr die Erwartungen der deutschen Kriegsmaschinerie, dass der militärische Vorteil nicht richtig ausgenutzt werden konnte. Nicht nur die Deutschen, auch ihre Kriegsgegner setzten in den folgenden Jahren, als jene technologisch mit diesen aufgeschlossen hatten, wiederholt Giftgas ein. Es ist zum Inbegriff des Horrors des Krieges geworden, festgehalten in Berichten, Gemälden, Kunstwerken und bekräftigt durch Spielfilme und Literatur. Das Giftgas tötete lautlos, unvorbereitet, heimtückisch und quälend; es hinterließ nicht nur Traumata, sondern auch schreckliche Wunden – selbst wenn man überlebte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Einsatz chemischer oder biologischer Waffen nun abermals durch die NATO als „inakzeptabel“ bezeichnet wird, unter Androhung „schwerwiegender Konsequenzen“.

Interessanterweise war das Stigma des Gifts so groß, dass es nicht nur im Ersten Weltkrieg die mit ihm erzielten militärischen Erfolge befleckte. In Wien verspottete Karl Kraus die „chlorreiche Offensive“, die zum Sieg an der Isonzofront geführt hatte. Von der offiziellen Seite wurde sein Einsatz beschwiegen und geleugnet. Wo Kriegsparteien seinen Einsatz rechtfertigten, griffen sie manchmal zur Lüge, dass es sich um eine erlaubte Repressalie gehandelt habe: die Gegenseite habe diese Waffe – angeblich – zuerst eingesetzt. Unter den Bedingungen staatlicher Zensur und gelenkter Presse mag das manchmal Resonanz unter heimischen Adressaten gefunden haben. International stieß man damit schnell an Grenzen.

Wiederholt sich diese Geschichte jetzt? Der Erste Weltkrieg wurde gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten seitens der Westmächte im Namen des Völkerrechts geführt. Deutschland galt nicht nur infolge des völkerrechtswidrigen Überfalls auf Neutrale zu Kriegsbeginn als Militärstaat, der das Völkerrecht leugnete, gering schätzte oder zu eigenen Gunsten verbog. Auch sein Einsatz geächteter Waffen passt in dieses Bild; bis heute ist unklar, ob völkerrechtliche Erwägungen vor dem Einsatz eine Rolle gespielt haben. Möglicherweise galt schlicht die machiavellistische Maxime: „Not kennt kein Gebot.“ Zugleich wurde nach außen – ähnlich wie bei Russland heute – offiziell eine Fassade der Normkonformität argumentativ aufrechterhalten.

Der Erste Weltkrieg unterbrach mit seiner Politisierung, Militarisierung und extremen Nationalisierung die Verrechtlichung des Krieges aber nicht dauerhaft. Aus solchen Erfahrungen lernend, hat die internationale Gemeinschaft sowohl in den Pariser Vorortverträgen bestimmte Waffen verboten als auch im Genfer Protokoll von 1925 noch einmal das Verbot chemischer Waffen festgehalten. Es hinderte nicht seinen Einsatz in spätkolonialen Kriegen in Nordmarokko und Äthiopien. Heute ist die Chemiewaffenkonvention von 1997 eine jener Normen, die zivilisatorische Mindeststandards der Kriegführung rechtsverbindlich festschreibt.

Morden im Auftrag des Staates

Russland hat eine unrühmliche Vorgeschichte in der praktischen diplomatischen Untergrabung dieses Tabus. Denn Chemiewaffen sind in den vergangenen Jahren insbesondere im Syrienkrieg eingesetzt worden. Das Assad-Regime hat sie produziert, gelagert und angewendet – gegen seine eigene Bevölkerung. Gegen eine Verurteilung im UN-Sicherheitsrat votierte stets noch Russland als die irrlichternde Schutzmacht des syrischen Diktators. Russland bezeichnete Assads Syrien sogar als „gewissenhaften“ Unterzeichnerstaat der internationalen Chemiewaffenkonvention; die Angriffe seien in Wahrheit von der Gegenseite erfolgt und Teil eines perfiden US-Plans.

Auch in diesem Fall sollen schlimmste, unzweifelhaft dokumentierte Kriegsverbrechen praktisch in den rechtsfreien Raum gestellt werden, indem man sie der politischen Gegenseite unterschiebt. An den russischen Einsatz heimtückischer, verbotener chemischer Kampfstoffe gegen heimische Oppositionspolitiker und „Verräter“ im Ausland wird man sich ebenfalls erinnern. Solcher Staatsmord spricht Bände über das Herrschaftsverständnis, das ihm zugrunde liegt.

Diese an den Nationalsozialismus erinnernde Normfeindschaft wiederholt sich nun im Angriffskrieg auf die Ukraine in zahlreichen Varianten. In den russischen Kriegsbegründungen wird eine Attrappe von Normkonformität entworfen. Die Propaganda ruft zur Rechtfertigung des Angriffs bewährte Formeln des heute geltenden, universellen Völkerrechts auf: Genozid, Selbstbestimmungsrecht, faschistische Bedrohung, humanitäre Intervention. Tatsächlich bleiben die Invasoren jeden Beweis für ihr tatsächliches Vorliegen schuldig und entziehen sich jeder ernsthaften Verantwortung. An anderen Stellen benennen die russischen Chefideologen ebenso wie ihr Meister selbst die vermutlich ihnen selbst einzig plausibel erscheinenden Kriegsgründe. Hier liest man von Geschichte, Imperium und geopolitischen Einflusssphären. Nichts davon ist völkerrechtlich akzeptiert, und umgekehrt fehlen staatliche Souveränität, Gleichheit, Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen. Am ähnlichsten klingt fatalerweise noch Carl Schmitts „Großraumtheorie“ von 1939.

Die russischen Fingerzeige auf angebliche chemische Waffen der Gegenseite könnten insofern ein weiteres Mal der Versuch sein, klassische Rechtfertigungsnarrative des anerkannten Völkerrechts zu eigenen politischen Zwecken aufzurufen. Sie evozieren Vorstellungen von legitimer und angemessener Selbstverteidigung Russlands: Unsere Gewalt möge als Gegengewalt legitim sein. Ebenso viel Stirnrunzeln verursacht Außenminister Lawrows Anschuldigung eines „totalen Kriegs“ des Westens gegen Russland.

Erkennbar werden weitere Dimensionen eines zynischen Spiels. Erstens findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, in welcher der Aggressor sich unverschuldet in einer Notwehrlage wiederfindet. Zweitens werden parallel zum Kriegsgeschehen politische Botschaften gesendet, die wie so oft bei der propagandistischen Informationspolitik zwischen Desinformation, Spaltungsversuchen und Anknüpfen an tatsächlichen Vorgängen oszillieren. Drittens soll in jedem Fall das Hintergrundszenario einer Ausweitung des Kampfgeschehens, des Kampfgebiets und der Kampfmethoden Angst schüren.

Gegen diesen propagandistisch-medialen Angriff mag die Rückbesinnung auf Normen und Werte des Völkerrechts fast zu nüchtern wirken. Interessanterweise wird aber gerade ihre Universalität und fortdauernde Geltung vom Aggressor rhetorisch nicht rundheraus abgestritten. Dass die Normen zur Verfolgung von Kriegsverbrechern einst auch von der Sowjetunion als einem der Sieger des Zweiten Weltkriegs geformt wurden, bleibt in der denunzierenden Rede vom „westlichen Völkerrecht“ allerdings ausgeblendet. MILOS VEC

Von Milos Vec. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.04.2022, Feuilleton (Feuilleton), Seite 11
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