Als Erster in der Familie auf dem Gymnasium, heute ein Weltendeuter: Philosophen können über alles nachdenken, sagt Rainer Forst.

Von Constanze Kleis

Immer denkend, immer nachdenkend, so hat sich Jürgen Habermas einmal an seinen Lehrer Theodor W. Adorno erinnert. Ähnliches lässt sich auch bei Rainer Forst vermuten. Die Indizien jedenfalls sind erdrückend. Die enormen Bücher- und Manuskriptstapel aus dem Großraum politische Philosophie in seinem Büro, die Liste seiner Auszeichnungen und Aufgaben. Eine unvollständige Aufzählung: Der Professor für Politische Theorie und Philosophie ist Mitbegründer und Ko-Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen an der Goethe-Universität. Er ist Direktor des Justitia Center for Advanced Studies und Ko-Sprecher einer vom Land Hessen geförderten Forschungsinitiative, die sich mit Vertrauensfragen befasst. Er ist beteiligt am nationalen Institut zur Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Achtundfünfzigjährige ist Träger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises, Mitglied diverser Akademien. Man könnte gegenüber einem so ausgewiesen klugen Kopf ein wenig von dem verspüren, was in der Psychologie Schwellenangst genannt wird. Braucht man aber nicht.

Forst hat die bemerkenswerte Fähigkeit, das manchmal so sperrige Terrain der politischen Philosophie auch für ein Publikum außerhalb des Wissenschaftsbetriebs nicht nur gangbar, sondern spannend zu machen. Wie das gelingt – auch darüber denkt er nach. Genauso über Freiheit und Gerechtigkeit, über Toleranz und Teilhabe, über Rechte und Prinzipien. Und gelegentlich auch darüber, wie das nächste Heimspiel der Eintracht Frankfurt in den meist übervollen Terminkalender passt.

„Wann immer es geht, treffe ich mich mit meinem Sohn im Stadion“, sagt er. Forst, ein großer Fan, mit dem entsprechenden Erregungsniveau und selbstverständlich im Besitz einer Dauerkarte, erzählt, wie er als Kind davon träumte, Fußballstar zu werden. Damals, in Niederseelbach im Taunus, wo er mit einer älteren Schwester als Sohn eines Schmiedemeisters und einer Sekretärin aufwuchs. „Ich war ein typisches Siebziger-Jahre-Bildungsreform-Kind. Der Erste aus der Familie, der aufs Gymnasium ging.“

Wissenshungrig und neugierig

Mit sechzehn, mitten in den hochpolitisierten Achtzigerjahren, wird er von der Friedens- und Ökologiebewegung zu den großen Fragen des Lebens gebracht. „Wenn man sich für eine gerechtere Gesellschaft engagiert, was bedeutet das dann eigentlich genau? Die Frage beschäftigt mich bis heute“, sagt er. Logische Konsequenz damals: Er liest die Frankfurter Schule und Bloch. Und beginnt, nach dem Zivildienst in einer Schule für behinderte Kinder, Philosophie, Politikwissenschaften und Amerikanistik zu studieren. In Frankfurt, aber auch in New York. Gefördert von Stipendien und vom Vertrauen seiner Eltern.

Jürgen Habermas, den er „einen grandiosen Professor“ nennt, hielt offenbar viel von seinem Studenten Rainer Forst. „Er ist mir von Anfang an mit großer Wertschätzung begegnet und hat mir viele Möglichkeiten eröffnet, auch als ich den Plan fasste, nach Harvard zu John Rawls zu gehen.“ Bei Rawls (1921- 2002) lernt Forst dessen Auffassung der politischen Philosophie als Theorie der Gerechtigkeit aus nächster Nähe kennen. „Was Rawls trug und auch sein Werk prägt, war eine tiefe Überzeugung nicht nur von der gleichen Würde aller Menschen, sondern auch davon, dass es eine Anmaßung sei, hervorstechen zu wollen.“

Diesen Eindruck bringt Forst mit zurück nach Deutschland und, wie er heute sagt, auch „eine ganze Reihe interessanter Diskussionen“. Darunter die um den Kommunitarismus, aus der dann bei Habermas eine Dissertation entsteht 1993 promoviert Forst über „Kontexte der Gerechtigkeit“. Seine Arbeit wird bei Suhrkamp als Buch veröffentlicht. Es ist das erste von vielen, die noch folgen werden, in viele Sprachen übersetzt und selbst der Gegenstand einer Reihe von Diskussionsbänden. Zum Zeitpunkt der Promotion ist Forst seit vier Jahren verheiratet. Fünf Jahre später wird das Paar Eltern der Zwillinge Jonathan und Sophie. Forst ist damals wissenschaftlicher Assistent und Gastprofessor in Berlin, Frankfurt und an der New School for Social Research in New York und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Toleranz.

Mit Frankfurt verbunden

„Damals gab es eine große Diskussion zur Frage ‚Gehört der Islam zu Deutschland?'“ Ins Thema hat er sich nicht bloß knie-, sondern gleich marianengrabentief eingearbeitet, findet die Vorläufer moderner Argumente für und gegen Toleranz bei den Kirchenvätern, in der Antike. Das Ergebnis, seine Habilitationsschrift 2003, gilt heute bereits als Klassiker: „Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs“. Gleich darauf folgt er dem Ruf an die Frankfurter Universität auf den Lehrstuhl für Politische Theorie und Philosophie. Angebote aus Princeton und der Universität von Chicago lehnt er ab, später auch das, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin zu werden, ein Max-Planck-Institut zu leiten, er blieb trotz verlockender Alternativen der Stadt, die ihn formte, treu wie der Fußballstar Lionel Messi dem FC Barcelona, wo er als Jugendlicher anfing.

Warum ist er geblieben? Es sei nicht so, dass er überaus sesshaft sei, sagt Forst. Aber es hätten sich in Frankfurt immer wieder beruflich interessante Optionen aufgetan, nicht zuletzt durch den Exzellenzcluster Normative Ordnungen, ähnlich auch für seine Frau, die heute Studiendirektorin ist. „Außerdem war da ja immer auch die Frage: Wo sollen unsere Kinder aufwachsen und wo wollen wir leben?“ Die Welt sieht Forst ohnehin; seine Arbeit ist mit einer regen Reisetätigkeit verbunden. Er hat Gastprofessuren und Fellowships an der New School, dem Dartmouth College in New Hampshire, der University of Washington in Seattle, der Rice University in Houston, der New York University und der University of Michigan, andere Angebote brachte er im Terminplan nicht unter.

Unlängst verbrachte er mit dem Rechtswissenschaftler Christoph Möllers und dem Politikwissenschaftler Michael Zürn im Rahmen eines Fellowship-Programms drei Monate in Los Angeles im legendären Thomas-Mann-Haus. „In der Nachbarschaft leben Jennifer Lopez und Steven Spielberg, und Kurt Russell haben wir abends mit dem Hund durch die Straßen gehen sehen.“ Los Angeles sei der perfekte Ort für die Kritische Theorie: „Das teuerste Privathaus der Welt steht dort. Gleichzeitig ist Skid Row, das Viertel mit der größten Population von Wohnungslosen in den Vereinigten Staaten, nicht weit entfernt. Oder auch Welten entfernt, wie man es nimmt.“

In Los Angeles wurde aber nicht nur geforscht und debattiert, sondern auch Fußball gespielt. „Die Mann-Haus-Fellows gegen die Fellows aus der Aurora-Villa. Wir haben uns eigentlich ganz gut geschlagen. Aber nach zwei Stunden mussten wir auf Spielabbruch drängen. Die Gegner waren alle jünger als wir.“

Früher, im Kolloquium von Axel Honneth, erinnert sich Rainer Forst, traten im Frankfurter Grüneburgpark schon mal die Hegelianer gegen die Kantianer an. „Mit imaginären Toren,“, die nur so ungefähr mit je einer Büchertasche links und einer rechts markiert waren. Man habe sich darauf einigen müssen, ob der Ball nun drin war oder drüber oder zu weit links oder rechts. „Als Kantianer sage ich objektiv, die Hegelianer haben regelmäßig betrogen.“ Philosophie kann sehr sportlich und sehr lustig sein. Aber sie steht auch unter Performance-Druck. Selbstverständlich ist das Zentrum für Normative Ordnungen auf Twitter und regelmäßig in den Medien präsent.

Nicht nur schlaue Bücher

Letzteres auch, weil Rainer Forst neben allem anderen auch ein guter Brückenbauer ist, seine Themen denen vermitteln will und kann, die darin ortsfremd sind. „Die Universitäten haben sich allgemein gewandelt. Sie sind viel stärker ein Teil der Gesellschaft geworden.“ Ihm gefällt es, gefragt zu werden. „Was tut ihr da eigentlich? Was findet ihr da raus?“ Auch er fragt gern, hört zu, ist an allem und jedem interessiert. Er lehrt, hält Vorträge, berät politische Parteien und Ministerien, er ist Mitglied der Expertenkommission Paulskirche, er schreibt Beiträge für Zeitungen, auch für die F.A.Z., und verfasst Bücher. Zuletzt erschien, bei Suhrkamp, „Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant“ (Suhrkamp).

Wer schreibt, muss lesen. Es kann schon mal sein, dass Forst 20 Bücher im Gepäck hat, wenn er mit Frau, Tochter Sophie, die Literaturwissenschaften studiert, und Sohn Jonathan, der sich für Jura entschieden hat, nach Südfrankreich reist. „Wissenschaft ist letztlich auch ein anstrengendes Geschäft, wo man auch mal eine ruhige Phase braucht, in der man sich länger mit den Büchern zurückzieht.“ Rein philosophisch sei seine Ferienlektüre aber nicht, sagt er auch.

Zur Entspannung tragen außerdem E-Bike-Fahrten durch den Taunus, Gespräche mit Freunden, im Sommer im Garten, und viele Konzert- und Theaterbesuche bei. Einmal wurde der Philosophieprofessor gefragt, ob er auch über Schwachsinn nachdenke. Seine Antwort: „Die Frage, was Schwachsinn ist und wieso er sich verbreitet oder, wie Harry Frankfurt es mal genannt hat, ‚bullshit‘, ist auch eine philosophische Frage. Philosophen können über alles nachdenken.“ Und wenn es richtig gut läuft, bringen sie andere zum Nachdenken.

Von Constanze Kleis. FAZ.NET, 28.12.2022 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv