Russlands Präsident droht mit Abschreckungswaffen, der Westen greift zu immer härteren Sanktionen. Kann Deeskalation noch gelingen? Fragen an einen Konfliktforscher

Der Krieg in der Ukraine eskaliert weiter. Oder, wie Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag sagte: „Das wird noch eine ganz, ganz dramatische Zeit werden.“ Tote, verletzte Menschen, zerstörte Gebäude – solche Bilder seien wahrscheinlich erst der Anfang. Die Eskalation abzuwenden, sei derzeit die dringlichste Aufgabe. Doch wie kann Deeskalation in diesem Konflikt gelingen? Der Westen greift zu immer härteren Sanktionen, unter
anderem zu dem Ausschluss bestimmter Banken aus dem Finanzkommunikationssystem Swift.

Wie wird Putin reagieren? Fragen an den Sicherheitspolitik-Experten Christopher Daase

ZEIT ONLINE: Die ersten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sind ergebnislos zu Ende gegangen. Hatten Sie mehr erwartet?

Christopher Daase: Niemand hatte damit gerechnet, dass es direkt konkrete Ergebnisse gibt. Beide Seiten tauschen erst mal ihre Maximalpositionen aus und stecken rote Linien ab. Für die Ukraine geht es auch um die öffentliche Wahrnehmung: Sie konnte das Gesprächsangebot nicht ablehnen, das würde die Bevölkerung nicht verstehen. Da von russischer Seite bisher nicht die hochrangigsten Persönlichkeiten an den Treffen teilnehmen, haben sie eher symbolischen Charakter. Trotzdem ist sehr wichtig, dass man im Gespräch bleibt.

ZEIT ONLINE: Was können die Gespräche denn bewirken, wenn sie vor allem symbolisch sind?

Daase: Die Gespräche sind eine Möglichkeit zur Deeskalation. In Deutschland gab es ja Stimmen, die sagen, jetzt sei nicht die Zeit für Diplomatie, sondern für Krieg. Das ist großer Unsinn. Der Dialog muss auch im Krieg weitergehen, sonst kommt man nie aus der Eskalationsspirale heraus.

ZEIT ONLINE: Passiert im Moment nicht das Gegenteil? Putin hat mit Abschreckungswaffen gedroht – das wurde weltweit als Drohung mit Atomwaffen verstanden. Der Westen reagiert mit härtesten Sanktionen.

Daase: Ja, im Moment verschärfen beide Seiten die Situation weiter. Ich halte es für richtig, dass der Westen angesichts des eklatanten Völkerrechtsbruchs von Russland ein starkes Signal sendet und auch Waffen zur Selbstverteidigung der Ukraine schickt. Denn sonst denkt Putin, er könne immer weitergehen. Sobald allerdings der Eindruck entstünde, dass der Westen die Ukraine zu einem Gegenschlag ausrüstet, hätte ich wirklich Sorge – dann könnte Putin meinen, er habe nichts mehr zu verlieren. Der Westen darf Putin nicht zu stark in die Enge treiben. Sonst wäre die Gefahr groß, dass er mit seinen Drohungen einer nuklearen Eskalation noch weitergeht und der Konflikt auf andere europäische Staaten übergreift.

ZEIT ONLINE: Gleichzeitig kann der Westen nicht von seiner Forderung nach einem russischen Truppenabzug abweichen. Was ist das Schlimmste, das passieren kann?

Daase: Dass tatsächlich Nuklearwaffen eingesetzt werden und sich der Konflikt auf die Nato-Staaten ausdehnt. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. Vorstellbar ist, dass es erst zu abgestuften Drohungen mit Nuklearwaffen kommt. Es geht ja nicht sofort um strategische Nuklearwaffen, die auf Washington, Berlin oder Paris gerichtet sind. Sondern zunächst um kleinere, sogenannte taktische Nuklearwaffen.

ZEIT ONLINE: Was ist das genau?

Daase: Das sind sogenannte Gefechtsfeldwaffen, die in der direkten kriegerischen Auseinandersetzung genutzt werden können. Sie können große Zerstörung verursachen, aber nicht über große Distanzen hinweg. Eingesetzt werden könnten sie gegen die Ukraine oder Nachbarstaaten. Aber auch das wäre ein absoluter Tabubruch mit unabsehbaren Folgen. Da sind wir noch lange nicht und es ist unwahrscheinlich, dass wir dahin kommen. Die Nato und insbesondere die USA verhalten sich derzeit klug: Trotz Putins Drohung haben sie ihre Atomstreitkräfte nicht in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Sicher werden Vorkehrungen getroffen, aber die Reaktion ist zunächst einmal beschwichtigend. Putin ist natürlich klar, dass die Nato das ganze Arsenal an Nuklearwaffen hat und auch von Nordamerika aus Russland erreichen könnte. Wenn er rational handelt,
wird er eine Eskalation vermeiden.

ZEIT ONLINE: Was sollte der Westen jetzt auf keinen Fall tun?

Daase: Die Nato darf militärisch nicht eingreifen, weil sie dann in eine direkte Konfrontation mit Russland geraten würde. Und auch weitere Sanktionen halte ich im Augenblick für schwierig. Der Westen könnte zwar von sich aus auf Öl- und Gaslieferungen aus Russland verzichten. Das träfe auch uns selbst empfindlich, würde Putin aber von dringend benötigten Devisen abschneiden. Das könnte ihn in eine verzweifelte Lage bringen und zu irrationalen Handlungen verleiten.

ZEIT ONLINE: Wie realistisch ist es, dass sich die russische Bevölkerung gegen Putin richtet?

Daase: Sehr wahrscheinlich ist es nicht, aber falls doch, wäre das ein großes Problem für ihn. Deshalb geht der Regierungsapparat schon jetzt sehr hart gegen die Demonstrationen im Land vor – was zeigt, dass es die Befürchtung gibt, dass diese sich ausweiten und zu einer großen Bewegung werden. Das könnte Putins Machtsystem destabilisieren. Und dadurch könnte auch im Regierungsapparat selbst Widerstand wachsen. Der ist schließlich nicht abgekoppelt von der Bevölkerung – die Regierungsmitglieder haben ja auch Familie, Freunde, Bekannte, deren Unmut sie wahrnehmen.

ZEIT ONLINE: Gibt es für Putin noch eine Möglichkeit, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, ohne dass er das Gesicht verliert?

Daase: Nein, die sehe ich gegenwärtig nicht. Aus meiner Sicht ist er entschlossen, die Ukraine zu besiegen. Auch wenn die bisherigen Erfolge des Widerstands beachtlich sind: Langfristig wird die Ukraine sich militärisch nicht halten können. Erst wenn Putin die Ukraine militärisch besiegt hat oder die Verhandlungen unerwartet vorankommen, würde sich die Frage nach einem Abzug der Russen stellen.

ZEIT ONLINE: Wie sähe denn aus Putins Sicht dieser militärische Sieg aus und bis wann könnte er ihn erreichen?

Daase: Das ist die große Frage. Ich rechne damit, dass er sich mit Kiew und den strategisch wichtigen Südostgebieten Luhansk und Donezk nicht begnügt. Das angekündigte Ziel ist ja die Entmilitarisierung der Ukraine und ein Sturz der Regierung. Um das zu erreichen, muss Russland zumindest kurzfristig das ganze Land besetzen. Bis das erreicht ist, kann es noch Wochen oder Monate dauern. Der Widerstand in Kiew ist deutlich effektiver, als ich gedacht hätte. Und selbst wenn die Ukraine besetzt ist, kann der Krieg weitergehen. Wir wissen, dass die Ukraine sich darauf vorbereitet, einen Guerillakrieg zu führen.

ZEIT ONLINE: Was heißt das genau?

Daase: Dass sich in der Bevölkerung ein militärischer Widerstand bildet, der trotz Friedensvereinbarungen und einer möglicherweise neu eingesetzten Regierung versucht, die russischen Besatzungstruppen anzugreifen und das Besatzungsregime zu bekämpfen. Einen Guerillakrieg würde Russland mit massiver Aufstandsbekämpfung beantworten. Dabei besteht immer die Gefahr, dass es zu großen Verlusten in der Zivilbevölkerung kommt. Außerdem gibt es das Risiko, dass Guerillakriege in die Nachbarstaaten getragen werden. Auch hier gibt es wieder ein Eskalationsrisiko mit dem Westen.

ZEIT ONLINE: Was müsste passieren, um das zu verhindern?

Daase: Die gegenwärtigen Friedensverhandlungen müssten so angelegt sein, dass auf Augenhöhe verhandelt wird und die ukrainische Regierung ein für sie akzeptables Ergebnis erzielt. Wenn Russland hingegen versucht, die Ukraine dauerhaft zu besetzen und niederzuwerfen, halte ich den Übergang in einen Guerillakrieg für wahrscheinlich.

ZEIT ONLINE: Wie können solche Friedensverhandlungen kommen?

Daase: Das hängt natürlich vom weiteren Verlauf des Konflikts und den dann herrschenden Machtverhältnissen ab. Wenn es aber ernsthafte Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine gibt, dann muss es zu Sicherheitsgarantien für die Ukraine kommen. An dieser Stelle wäre der Vorschlag von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sinnvoll, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Das wäre kein Nato-Beitritt, aber so etwas wie eine Nato-light-Version, mit der vielleicht beide Seiten leben könnten. Allerdings fürchte ich, dass der jetzige Vorstoß in diese Richtung eher konfliktverschärfend wirkt.

ZEIT ONLINE: Wäre das also doch ein endgültiger Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft?

Daase: Nein, den können weder die Ukraine noch die Nato langfristig zusagen. Man kann Russland nicht zugestehen, über die souveränen Rechte eines Staates zu entscheiden. Trotzdem kann die Nato so klug sein, einen unmittelbaren Beitritt vorerst nicht anzustreben und das gegenüber Russland auch entsprechend zu kommunizieren.

ZEIT ONLINE: Die internationale Friedenspolitik ist also noch nicht am Ende?

Daase: Nein, überhaupt nicht. Sie muss stärker denn je auf einen Waffenstillstand hinarbeiten und dann gewährleisten, dass wir auf Dauer zu einer neuen sicherheitspolitischen Architektur in Europa kommen. Denn die alte liegt in Trümmern. Der Westen muss sich jetzt – parallel zum Krieg – Gedanken machen, wie er in Zukunft und nach dem Krieg mit Russland umgeht.

ZEIT ONLINE: Könnte der Westen seine Sanktionen jemals wieder aufheben, wenn Russland sich dauerhaft ukrainische Gebiete aneignen würde?

Daase: Das ist eine Gretchenfrage der Sanktionspolitik: Wie komme ich aus den selbst-verhängten Sanktionen wieder heraus? Wenn Russland zu keinerlei Konzessionen bereit ist, würden die gegenwärtigen Sanktionen auf eine mehr oder weniger kontrollierte wirtschaftliche Entflechtung
zwischen Ost und West hinauslaufen. Ich fürchte, auf diese Frage hat auch der Westen noch keine Antwort.

ZEIT ONLINE: Welche Möglichkeiten bieten sich für den künftige Umgang denn an?

Daase: Ein ganz wichtiger Schritt ist, dass der Westen versucht, neue Verhandlungsforen zu entwickeln und den Konflikt zu prozeduralisieren, das heißt in Verhandlungsprozesse zu überführen. Diese müssen einerseits in der Lage sein, das russisch-amerikanische Verhältnis zu verbessern. Wir haben ja gesehen, dass Putin geradezu fixiert ist auf die USA. Andererseits müssen sie ermöglichen, dass Europa als eigenständiger Akteur berücksichtigt wird. Die Situation ist also komplexer als im Kalten Krieg

ZEIT ONLINE: Wie könnten solche neuen Verhandlungsforen aussehen?

Daase: Im Kalten Krieg gab es die KSZE …

ZEIT ONLINE: … die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa …

Daase: Genau – dieses Verhandlungsformat bestand aus einer Reihe von Konferenzen und diente dazu, den Kalten Krieg zu managen. Die heutige OSZE geht darauf zurück. Vielleicht lässt sich die OSZE nutzen, um europäisch-russisch-amerikanische Sicherheitsgespräche anzustoßen. Allerdings hat Russland bislang die OSZE als Verhandlungsforum abgelehnt. Deshalb wäre es besser, wenn es ein neues Format mit sicherheitspolitischem Fokus gäbe. Ausgangspunkt könnten inoffizielle Treffen sein, vielleicht Gipfeltreffen zwischen den Großmächten und der Ukraine. Vielleicht müssen auch weitere Mächte hinzukommen. Ich denke vor allem an China, das im Rahmen der Krisengespräche um das iranische Nuklearprogramm eine konstruktive Rolle gespielt hat.

ZEIT ONLINE: Wie wird sich das Verhältnis der normalen Bürger zu Russland langfristig ändern? Aktuell rät das Auswärtige Amt zum Beispiel von Reisen nach Russland ab.

Daase: Sobald ernsthafte Friedensverhandlungen aufgenommen werden, könnte sich das wieder normalisieren. Auch im Kalten Krieg gab es Möglichkeiten, hin- und herzureisen. Der Kontakt zwischen den Menschen ist sehr wichtig und sollte schnell wieder aufgenommen werden. Auf Regierungsebene dagegen werden wir in den nächsten Jahren eine Konzentration auf die gegenseitige militärische Abschreckung erleben. An eine gefühlte Sicherheit, wie wir sie am Ende des Kalten Krieges hatten, ist erst mal nicht zu denken. Entscheidend ist, dass die Abschreckung nicht wieder in einen Rüstungswettlauf mündet. Erst langfristig wird es, wenn überhaupt, möglich sein, Vertrauen wieder aufzubauen.

ZEIT ONLINE: Wie sehr kommt es bei den Verhandlungen auf persönliche Kontakte und einzelne Politiker an?

Daase: Einzelne Personen können von Bedeutung sein. Neben den offiziellen Treffen von Russland und der Ukraine läuft ja vieles über andere, informelle Kontakte. Frankreichs Präsident Macron zum Beispiel scheint ja einen direkten Kommunikationsweg zu Putin zu haben. Das ist sehr wichtig, um immer wieder Angebote zur Deeskalation machen zu können und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.

ZEIT ONLINE: Kann Macron besonders gut auf Putin eingehen?

Daase: Für solche Kontakte ist entscheidend, wie man miteinander umgeht. Macron hatte früh signalisiert, dass er die Sicherheitsbedenken Russlands verstehe. Vielleicht hätte Putin sich auch mit Angela Merkel unterhalten, wenn sie noch Bundeskanzlerin wäre. Aber das ist Spekulation. Es geht nicht darum, wer die besseren Drähte zu Putin hat. Sondern darum, dass effektiv Krisendiplomatie betrieben werden kann. Wir können sehr froh sein, wenn Macron diesen Kontakt hält.

ZEIT ONLINE: Würde sich die Lage fundamental ändern, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist?

Daase: Der akute Krieg könnte sicher schneller beendet werden. Der grundlegende Konflikt wäre dann aber sicher nicht gelöst. Darüber hinaus gibt es auch Kräfte, die unabhängig von Einzelpersonen einen Einfluss auf das Verhalten von Staaten haben. Großmächte wie Russland haben geopolitische Machtambitionen und Sicherheitsinteressen, die mit denen anderer Staaten zum Ausgleich gebracht werden müssen.

ZEIT ONLINE: Muss Deutschland nuklear aufrüsten?

Daase: Nein. Deutschland hat sich völkerrechtlich verpflichtet, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Allerdings ist Deutschland in die Nuklearstrategie der Nato eingebunden und lagert taktische Nuklearwaffen auf seinem Territorium. Kanzler Scholz hat deutlich gemacht, dass sich daran nichts ändern wird. Langfristig muss allerdings schon diskutiert werden, ob taktische Nuklearwaffen tatsächlich die Abschreckung stärken oder vor allem das Risiko eines frühen Nuklearwaffeneinsatzes erhöhen. Das langfristige Ziel der nuklearen Abrüstung und der Überwindung nuklearer Abschreckung
sollte nicht aufgegeben werden, auch wenn es im Moment in weite Ferne gerückt zu sein scheint.

Von Christine Haas. ZEIT ONLINE vom 2. März 2022.