Vermitteln nur die plötzlichen Umschwünge ästhetischer Erfahrung eine Ahnung vom Spannungsbogen gelingender Emanzipation? Ein Kolloquium über Christoph Menkes „Theorie der Befreiung“.

Wer Christoph Menkes im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag veröffentlichte „Theorie der Befreiung“ (F.A.Z. vom 13. Januar) aufschlägt, wird ganz am Anfang des Buches mit einer These konfrontiert, die implizit dazu auffordert, Stellung zu beziehen: „Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen.“ Nur wenn man diesem vom Autor angebotenen „wir“ die eigene Teilnahme zugesteht, wird man verstehen können, weshalb Menke auf 720 Seiten den Versuch unternimmt, dem herkömmlichen, von ihm auf die Griechen zurückgeführten Freiheitsbegriff abzuschwören. Freiheit soll nicht mehr als autonome Leistung eines sich seiner selbst bewusst werdenden Subjekts verstanden werden; erst im subjektiven Erleiden ekstatischer Blick- und Sinnverwandlungen, so postuliert Menke, kann sich radikale Befreiung verwirklichen.

In Momenten ästhetischer Faszinationserfahrungen spürt Menke das Befreiungspotential auf, um das es ihm geht. Vom Gang der Alltäglichkeit wird es, so will ihm scheinen, fast immer verschüttet, sodass für jede angefangene Befreiung dem Gefühl nach gilt: Fortsetzung folgt. Im dicken Buch müssen zwei Figuren kanonischer Erzählungen aus Geschichte und Gegenwart fast allein illustrieren, wie man sich die Übersetzung ausgemalter Freiheit in reale Handlungsvollzüge vorzustellen hat. In Walter White, der Hauptfigur der Fernsehserie „Breaking Bad“, genauso wie in der Gestalt des Moses vor dem brennenden Dornbusch seien äußerlich induzierte, gänzlich neue Selbst- und Weltanverwandlung ermöglichende radikale Befreiungserfahrungen festgehalten: Befreiung zur Selbständigkeit im Rausch des Geldes und Befreiung zum Gehorsam durch die gebietende Stimme Gottes.

Wenn man sich Menkes Gegenwartsdiagnose gescheiterter Befreiungsbewegungen verweigert, dann kann man seine Ausführungen immer noch als geist- und materialreich schätzen, raffiniert, provokativ und argumentativ versiert im Wechselspiel zwischen philosophischer Lektüre, medientheoretischer Reflexion populärer Kultur und Exegese biblischer Gründungserzählungen. Der Radikalität des Projekts wäre ihre gegenwartsbezogene Einsatzstelle jedoch entzogen. Dies zeigte sich bei einem Autorenkolloquium über das bisher längste Buch des seit 2009 in Frankfurt lehrenden Philosophen, zu dem die beiden Frankfurter Rechtswissenschaftler Benno Zabel und Klaus Günther in das Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität eingeladen hatten.

Den Auftakt machte die Berliner Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, voll des Lobes für Menkes Anknüpfung an Frankfurter Traditionslinien. Dass bei Menke wie bei den Pessimisten der ersten Generation der Frankfurter Schule das Gelingen der Befreiung nicht im Mittelpunkt steht, bildete den Ausgangspunkt für die Dresdner Verfassungsrechtlerin Sabine Müller-Mall. Sie fragte gleichwohl nach dem Subjekt, dem die Befreiung, wenn sie scheitere, doch offenbar auch gelingen könnte: Muss denn nicht, wenn die Gewohnheiten sozialer Natur ist, auch jede Befreiung mitsamt deren theoretischer Erfassung immer schon im Modus kollektiven Handelns erfolgen? Die Philosophin Francesca Raimondi nahm diese kritische Frage auf und belegte sie mit politischer Erfahrung: Feministische Kämpfe und Streiks zeigen in ihren Augen, dass die Erfahrung öffentlicher Versammlungen ein energetisches Gefühl geteilter Gleichheit freisetzen könne, die dem Voraussetzungsreichtum der ästhetischen Erfahrung überlegen sei. Denn ganz so egalitär und bedingungslos wie Menkes Schilderungen des plötzlichen Umschwungs zu dem zum wahrhaftigen Sehen befreiten Blick sei die Ästhetik als Disziplin doch nie gewesen – weder für Schiller noch für Herbert Marcuse.

Als Befragter befand sich der Autor nach dieser ersten Runde in einer Position, die es ihm erlaubte, nochmals zu seinem eigenen, zu Beginn des Buchs genommenen Anfang zurückzukehren. Was es denn nun heiße, dass alle Befreiungsbewegungen gescheitert seien, das könne er schnell beantworten. Rein begrifflich sei das zu verstehen, nämlich im Sinne bislang fehlender Antworten auf die Frage, ob eine Freiheitspraxis gedacht werden könne, die nicht selbst wieder zum Medium von Herrschaft werde. Die Wahlfreiheit, so eine These des Buches, erfüllt diese Forderung nicht, weil der Akt der Wahl an die gegebenen Möglichkeiten gekettet bleibt. Und die Sozialität? Menke schmunzelte. Darüber könne man sich streiten. Heißt denn nichtsozial auch notwendig individuell? Er rief Gershom Scholem als Zeugen auf, den mit Walter Benjamin verbundenen Historiker der jüdischen Religion. Wenn Scholem die Erfahrung des Volkes Israel am Berg Sinai als „Furcht und Zittern“ beschreibe, was sei denn da die Form der Kollektivität?

Mit der Wendung einer „postsittlichen Befreiung vom Sozialen“ brachte die Münsteraner Rechtsphilosophin Franziska Dübgen zu Beginn der zweiten Runde eine weitere begriffliche Rahmung ein, um das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft in Menkes Entwurf dingfest zu machen. Damit kam Fahrt in die bis dahin in größerem Einverständnis geführte Gesprächsrunde, weil Dübgen, Expertin auf dem Gebiet afrikanischer und transkulturell vergleichender Philosophie, es verstand, mit stichwortartig in Erinnerung gerufenen Befreiungs- und Revolutionsereignissen der letzten Jahrzehnte diejenige Frage wieder in den Raum zu stellen, deren sich der Autor eingangs noch souverän zu entledigen gedachte. Arabischer Frühling, Gay Liberation, Dekolonisierung – was soll denn „theoriestrategisch“ heißen, auf dieser Frage beharrte Dübgen gegen den Rückzug aufs bloß Begriffliche, wenn die Strategien aller dieser Befreiungsbewegungen keine Verarbeitung in einer kritischen „Theorie der Befreiung“ finden?

Mittels einer eklektischen Zusammenstellung an Theoriebezügen wollte der Habermas-Schüler Hauke Brunkhorst im Anschluss an Dübgen Menkes Vorhaben als „asozial, aber nicht unsozial“ einordnen, bevor sich der ehemalige Frankfurter Axel Honneth als letzter Redner des Nachmittags Mühe gab, die zentralen Konfliktlinien freizulegen. Philosophiegeschichtlich sei die hier geführte Auseinandersetzung in der Konstellation zwischen Hegel und Schelling zu verorten; systematisch laufe sie auf die Frage danach zu, ob sich Freiheit menschlicher Anstrengung verdanke, damit auch Graduierungen zulasse oder einem nichtintentionalen Akt äußerer Bestimmung zuzuschreiben sei. Eine eigene Antwort auf diese Frage beiseiteschiebend, widmete Honneth sich einer in ihrem Kern für das Frankfurter Publikum wohl wenig überraschenden Rekonstruktion. Er selbst, bekannte Honneth, sehe in der zu Mühlen der Gewohnheit erstarrten zweiten Natur immer auch Prozesse reziproker Anerkennung am Werk, die Momente nicht kalkulierbarer Neuformierung des Einen am Anderen im Inneren moderner Gesellschaften zuließen.

Den eigenen Prämissen folgend versuchte Menke es im zweiten Anlauf nicht mit wiederholter Entgegnung, sondern probierte sich an einer neuen Bezugnahme, einem ganz neuen Anfang: „Wenn Sie diese Erwägungen hier sich zueignen, dann sehen Sie in die Geheimnisse des Freiheitsbegriffs herein, in der gerade die äußerste Erhebung des Ichs mit dem Abgrund des Ichs sich zusammenfindet.“

Darauf folgte Stille und dann Aufklärung. Hier hatte Adorno gesprochen, im Zitat. Dann sprach jedoch wieder Menke: Wenn das eigene Unterfangen wirklich so bruchlos in eine kommunikations- oder interaktionstheoretische Lesart zu überführen wäre wie von den auf dem Kolloquium vortragenden Lesern dargestellt, dann – der Autor zuckte mit den Schultern – brauchte man eben keinen Begriff radikaler Befreiung mehr. Auf der abstrakten, philosophisch bescheidenen Ebene, auf der sein Vorhaben anzusiedeln sei, will und kann Menke nach seinen Worten keinen wirklichen Unterschied machen zwischen dem Davor und dem Danach der von Dübgen erwähnten dekolonialen Befreiungskämpfe. Denn die von ihm mit Bedacht an den Ausgangspunkt gestellten Autoren wie Frantz Fanon und Saidiya Hartmann demonstrieren, damit traf er sich dann wieder mit der Fragestellerin, in seiner Lesart genau die Tragik, die ihn zur Abfassung seines Buches motivierte: die Einsicht, dass die Befreiung als subjektive Leistung immer ein Stück Einverständnis mit dem Gegebenen beibehalte. Können revolutionäre Freiheitskämpfer (Dübgen), streikende Patriarchatsverweigerinnen (Raimondi) oder anerkennungsbedürftige Interaktions- und Sozialpartner (Honneth) als Symbolfiguren einer weiter oder anders gefassten, jedenfalls aber vorhandenen Differenzsensitivität moderner Sittlichkeit herhalten? Oder unterliegen auch die Handlungs- und Ausdrucksformen dieser nicht durch fiktionale Inspiration oder göttliche Plot-Twists berufenen Akteure weiterhin der knechtischen Logik herrschaftsförmiger Bestimmung? Zu dieser Frage summierten sich am Ende des Nachmittags die Anfragen der Frankfurter Diskursgemeinschaft an Christoph Menkes „Theorie der Befreiung“.

Von Tobias Schweitzer. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.08.2023, Geisteswissenschaften (Natur und Wissenschaft), Seite N3
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