In der Diskussion um die Impfpflicht droht eine lebensgefährliche Verwirrung der Begriffe: Freiheit und Gesundheit sind kein Gegensatz. Ein Gastbeitrag.

Fragen des Gesundheitsschutzes sind zu Grundfragen des politischen Zusammenlebens geworden. Wir sind von einer Diskussion über Gerechtigkeit zu einer über Demokratie und Solidarität übergegangen und inzwischen bei der Freiheit gelandet. Das ist angesichts der Debatte über moralische und rechtliche Impfpflichten folgerichtig. Es droht aber die Verdopplung der physischen Pandemie durch eine normative Pandemie, die unsere Köpfe verwirrt.

Dies drückt sich in Entgegensetzungen von „Freiheit versus Gemeinwohl“ aus, welche die Botschaft aussenden, die individuelle Freiheit bestehe darin, tun und lassen zu können, was man will, ganz gleich ob es andere schädigt oder nicht, während die Maßnahmen, welche die Gesundheit schützen, angeblich nicht die Freiheit befördern, sondern eine abstrakte Größe, die „Gemeinwohl“ genannt wird.

In dieser Feier dessen, was man klassisch Willkürfreiheit nennt, werden drei wesentliche Dimensionen der Freiheit unterschlagen: erstens unsere politische, demokratische Freiheit, zweitens die moralische Freiheit der Verantwortung und drittens die Bedingungen individueller Freiheitsausübung. Eine solche Unterschlagung deutet auf soziale Regression hin, weil sie mit einem Selbstverständnis einhergeht, das ein vernünftiges, demokratisches Zusammenleben unmöglich macht.

Unsere politische Freiheit wird dort übersehen, wo pandemiebedingte Vorsorgemaßnahmen, sofern sie rational gerechtfertigt und demokratisch beschlossen wurden, nicht als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung betrachtet werden, sondern als freiheitsfeindliche Akte einer staatlichen Autorität, die sich zum paternalistischen Bewahrer kollektiver Güter (Gesundheit, Solidarität) aufschwingt. Unsere moralische Freiheit wird dort ausgeblendet, wo die Idiosynkrasie bis hin zur Rücksichtslosigkeit (etwa der Maskenverweigerung) als wahre Freiheit geehrt und dabei der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung gekappt wird.

Denn freies Handeln ist immer eines, das sich verantworten muss; zwar bleibt das Handeln, das sich der Rechtfertigung entzieht, auch ein freies, aber widersinnigerweise beruft es sich auf Selbstverantwortung, während es sie gleichzeitig negiert. Wer Freiheit primär dort lokalisiert, der kann Akte der Solidarität nicht als Akte der Freiheit begreifen, und darin liegt eine Verarmung des Denkens.

Ein pandemischer Verfall

Schließlich zu den Bedingungen individueller Freiheitsausübung. Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die Freiheit beschränken, sollen recht betrachtet Freiheit schützen und ermöglichen, wenn sie es Menschen, die Ansteckung fürchten, erlauben, ohne Angst in die Öffentlichkeit zu gehen, weil man dort Masken trägt oder geimpft beziehungsweise getestet ist. Die Freiheit von Bedrohung ist nicht nur als „Gut“ der Sicherheit zu betrachten, sondern eine echte Freiheit. Insbesondere die Freiheit von Krankheit (und Krankenhaus) ist eine wesentliche Freiheit, sogar eine Bedingung für die Wahrnehmung anderer Freiheiten.

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Was wir fürchten müssen, ist ein pandemischer Verfall unseres Selbstverständnisses als demokratische Gesellschaft. Wer den libertär-autoritären Verquerdenkern den Begriff der Freiheit überlässt, die angeblich einem gewaltigen, freiheitsverschlingenden Obrigkeitsstaat gegenübersteht, der entwickelt normatives Fieber, das rasch wahnhaft steigen könnte. Die Rede von „Gesundheitsdiktatur“ ist Indiz dafür.

Ein horizontales Verständnis

Leider hat sogar das Bundesverfassungsgericht, als es die „Bundesnotbremse“ als verfassungskonform beurteilte, die Entgegensetzung von individuellen Freiheiten und einem das Gut der Gesundheit sichernden Staat ins Zentrum seiner Abwägung gestellt. Wörtlich heißt es im Urteil des Ersten Senats, dass die Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich legitimen Staatszwecken des „Lebens- und Gesundheitsschutzes“ im Sinne überragend wichtiger „Gemeinwohlbelange“ dienten. Das ist juristisch korrekt, legt aber terminologisch eine einseitige Freiheitsrechnung nahe.

Wenn wir unsere Rolle als Bürger einer Demokratie ernst nehmen, sollten wir uns nicht primär als Willkürsubjekte verstehen, die ihre quasi natürliche Freiheit gegen einen machtvollen Leviathan verteidigen müssen, sondern wir sollten uns als autonome Mitgesetzgeber denken: Selbstgesetzgebung ist der kantische Begriff hierfür. Und eine Demokratie verdient erst dann ihren Namen, wenn sie dies institutionell realisiert.

Daraus folgt ein horizontales Verständnis von Freiheitsrechten als Grundrechte, die wir einander als gleichgestellte normative Autoritäten zusichern müssen. Das heißt, dass jede Grundfreiheit an der Freiheit der anderen ihre Rechtfertigungsgrenze findet, dass also niemand einen legitimen Anspruch auf eine Freiheit hat, die andere in ihrer Freiheit unzulässigerweise begrenzt. Es verbietet sich dann die Freiheit, andere mit einem Virus anzustecken, das ich möglicherweise, ohne es zu wissen, tragen und weitergeben kann. Und ebenso die Freiheit, mich so verhalten, dass andere wahrscheinlich intensivmedizinisch nicht versorgt werden können.

Eine Frage der Relation

Wir haben es hier also nicht mit einem Konflikt zwischen staatlichem Gesundheitsschutz und individueller Freiheit als Grundrecht zu tun, sondern mit einer Abwägung zwischen der Freiheit des einen und der anderer. Man hat etwa das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit, aber nicht das Recht, durch die Stadt zu rasen. Die Gesundheit ist kein zu schützendes Gut neben der Freiheit; sie ist Bedingung und Teil meiner Freiheit. Wer mir die Gesundheit nimmt, nimmt mir meine Freiheit – negativ als Freiheit von körperlicher Beeinträchtigung, positiv als Freiheit, mein Leben zu führen, wie ich es mir vorstelle.

Daher ist es problematisch, die Pandemiebekämpfung so zu rechtfertigen, dass der paternalistische Staat, der sich der Volksgesundheit verschrieben hat, die Menschen vor sich selbst zu schützen sucht. Die Maßnahmen müssen vorrangig in Bezug auf andere gerechtfertigt werden; sind sie gerechtfertigt, beschränken sie zwar die Willkürfreiheit, nicht aber die Freiheitsrechte in ihrem eigentlichen Sinne, denn Rechte hat man nur als zu rechtfertigende.

Das heißt nicht, dass wir einander nicht riskanten Unternehmungen aussetzen dürfen, aber es heißt, dass wir als politische Gemeinschaft die Pflicht haben, dort, wo diese zu weit gehen, Normen zu setzen. Dann sind solche Beschränkungen zwar eine Begrenzung unserer Handlungsfreiheiten, nicht aber eine Einschränkung, sondern Ausdruck unserer Autonomie, und zwar drücken wir sie als Gesetzgeber und Rechts­adressaten zugleich aus, indem wir allgemein und reziprok gerechtfertigte Normen beschließen und befolgen.

Wo gute, moralisch relevante Gründe dafür-, aber nicht gleich gute dagegensprechen, kann eine Rechtspflicht begründet werden, auch die Pflicht, sich impfen zu lassen. Diejenigen, die sich diesbezüglich um die körperliche Unversehrtheit sorgen, sollten die Freiheit vom Impfen mit der Freiheit in Relation setzen, von Krankheit frei zu sein sowie von all den Eingriffen in die Freiheit und Unversehrtheit, die aus dieser Krankheit folgen können.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Von Rainer Forst aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Januar 2022. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv