Verdeckte Verbindungen: Nancy Fraser versucht an der Universität Frankfurt den Brückenschlag zwischen Kultur- und Arbeiterlinken

Den sozialen Bewegungen vom Feminismus bis zum Antirassismus ist heute eines gemeinsam: Für sich genommen, sind sie machtlos in den globalen politischen und ökonomischen Kämpfen, und zusammen können sie nicht mehr. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus hat in der Linken die Anerkennungspolitik die Oberhand gewonnen. Die vorher alles beherrschende Kapitalismuskritik trat in den Hintergrund und fristet heute ein Schattendasein. Die identitätspolitischen Kämpfe um symbolische Anerkennung zersplittern den sozialen Protest und lassen sich von der Unternehmenswelt mühelos absorbieren. So versanden die Emanzipationsbewegungen im endlosen Kampf um den maximalen Opferstatus. Kapitalismuskritik läuft als Phrase nebenher.

Wie kaum eine andere hat die Philosophin Nancy Fraser versucht, die Linke aus dieser selbstreferenziellen Schleife zu befreien und ihr wieder einen Sinn für die soziale Wirklichkeit zu geben. Ihr Vortrag an der Frankfurter Universität, mit der sie die Nähe zur Kritischen Theorie verbindet, verspricht die sozialen Bewegungen unter dem Dach einer gemeinsamen Idee zu vereinen. Damit trifft sie in der Studentenschaft einen Nerv. Der Hörsaal ist brechend voll, das Publikum jung. Aufbruchstimmung liegt in der Luft.

Fraser, die an der New School in New York lehrt, hat mit der Identitätspolitik immer gefremdelt. Sie fürchtet ihr Spaltpotential. Keine Angst, ruft sie dem Publikum zu, sie werde nicht das alte Basis-Überbau-Schema aus der Schublade ziehen, sondern zeigen, was Kultur- und Arbeiterlinke in Wirklichkeit miteinander verbindet. Die Kulturlinke muss für sie auch ein Interesse an der Arbeit haben und darf sich nicht mit symbolischen Reparaturarbeiten an der Sprache zufriedengeben. Der Kapitalismus habe seine Herrschaft nämlich auf einem Schattenreich ausgebeuteter Arbeit errichtet, die von Frauen und Migranten erbracht werde. Einmal sind es die Frauen, die den überwältigenden Teil jener Sorgearbeit leisten, die unsere Wirtschaft am Laufen hält. Damit ist nicht nur die unbezahlte Hausarbeit gemeint, sondern auch die unter Wert verkaufte Arbeit in der Pflege oder Erziehung. Diese „domestizierte“ Arbeit, ohne die der Wirtschaft die Arbeitskraft ausginge, werde im Kapitalismus als unproduktiv bewertet oder schlecht entlohnt. Aber auch die „rassifizierte“ Arbeit gehört für Fraser zu diesem Schattenreich. Keine Baumwollfabrik ohne Plantage, keine Plantage ohne Sklavenarbeit: Auf diesen Gedanken brachte sie die Lektüre von W. E. B. Du Bois‘ „Black Reconstruction“ aus dem Jahr 1935. Für den amerikanischen Soziologen und Bürgerrechtler war der Kampf gegen Sklaverei ein Teil der Arbeiterbewegung. Nach dem Ende der Sklaverei lebt die Ausbeutung in weniger sichtbarer Form fort: kein iPhone ohne Sweatshops und keine Schweineschnitzel ohne rumänische Gastarbeiter. Gewisse Einschränkungen ergeben sich daraus, dass Fraser ihr Thema aus der amerikanischen Perspektive angeht. Vor dem Hintergrund des deutschen Arbeitsrechts und Sozialstaats stellt sich manches anders dar, das Problem verflüchtigt sich aber nicht.

Das historische Versäumnis besteht darin, dass die Arbeiterbewegung ihr gemeinsames Interesse mit dem Antirassismus nie erkannte und das „Black-Labor-Movement“ blind für die Frauenfrage blieb. Fraser will die verpasste Chance nachholen. Natürlich erschöpfen sich Feminismus und Antirassismus für sie nicht in der Arbeiterfrage, auch wenn beispielsweise das Abtreibungsrecht, wie sie anführt, die Rechtsposition der weiblichen Arbeitnehmer stärkt und insofern zum Arbeitskampf gehört. Es stellt sich auch die Frage, ob die einzelnen Bewegungen nicht an Schlagkraft verlieren, wenn sie sich unter das Dach der neuen Arbeiterbewegung stellen, die Fraser vorschwebt. Ganz unzweifelbar kann die amerikanische Philosophin aber das Bewusstsein dafür schärfen, dass es ein gemeinsames Interesse, ja eine neue Idee gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt, und dass man sie nur in den Blick bekommt, wenn man in globaler Perspektive die Klassenfrage stellt. Das Publikum nimmt es dankbar auf. Brandender Applaus. Sparsam fallen dagegen die Überlegungen zur konkreten Gestalt der neuen Arbeiterbewegung aus, die es ja immerhin mit dem globalen Kapital und reaktionären Potentaten in aller Welt aufnehmen soll. Es wird auch nicht klar, ob das Übel innerhalb des Kapitalismus beseitigt werden kann oder nicht. Einerseits, meint Fraser, sei der Kapitalismus strukturell von der beschriebenen Ausbeutung abhängig. Aber das ist mehr ein Gefühlsurteil. Ihre eigene Präferenz ist ein demokratischer Sozialismus. Wie dieser aussehen sollte, weiß heute niemand so recht. Und was ändert sich überhaupt für den Arbeiterkampf, außer dass sich seine Mitgliederbasis erweitert? Fraser räumt ein, noch ganz am Anfang ihrer Arbeit zu stehen. Dem Überbau fehlt noch die Basis, die Konkretion. Für die aktuellen Kulturkämpfe kann ihre Perspektive dagegen jetzt schon bereichernd sein.

Von Thomas Thiel. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.06.2022, Feuilleton (Feuilleton), Seite 12
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