Bei der Konferenz „Queer im Islam“ wird über das Verhältnis von Religion und Sexualität debattiert

Dass er Männer begehrt, darüber konnte Tugay Sarac nicht sprechen, nicht mit seiner Mutter, nicht mit seiner Schwester, nicht mit seiner Tante. Als er bemerkte, dass er homosexuell ist, reagierte er darauf auf irrationale Weise: Er radikalisierte sich und wurde Islamist. Ein konvertierter Hassprediger nahm den jungen Mann unter seine Fittiche, Sarac wurde zu einem Verfechter eines besonders konservativen Islams. Auf Kritik an seiner Religion reagierte er aggressiv.

Diese Zeiten sind lange vorbei, von den Islamisten hat Sarac sich gelöst. Heute lebt er offen schwul. Und er unterstützt andere, die Angst davor haben, sich zu outen, kämpft um mehr Akzeptanz für queere Muslime. Sein Arbeitsplatz ist die Anlaufstelle Islam und Diversity, sie ist Teil der von der Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates gegründeten progressiven Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit.

Zu Saracs Job gehören auch Workshops in Schulen. In der Goethe-Universität, in einem Saal im Gebäude des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“, berichtete er am Freitag von einem dieser Besuche. In einer Grundschulklasse mit 17 Schülern, die alle Wurzeln in der Türkei haben, stellte er die Frage: Ist Homosexualität verboten? Zwölf von ihnen bejahten die Frage. Einen Grund dafür aber konnten sie nicht nennen. „Die Kinder sagen das nicht, weil sie daran glauben, sondern weil sie es eingetrichtert bekommen“, sagt Sarac.

Sind Muslime besonders queerfeindlich? Welche Gründe kann das haben? Und was lässt sich dagegen unternehmen? Um diese Fragen kreiste die Konferenz „Queer im Islam“. Dazu eingeladen hatte Susanne Schröter, die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, das Teil des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ ist. Schirmherr der Veranstaltung mit vier Vorträgen und einer Podiumsdiskussion war der hessische Sozialminister Kai Klose (Die Grünen).

Der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour kam mit Personenschützern zu der Konferenz. Wegen seiner oft scharfen Kritik an Einwanderermilieus, denen er fehlende Integrationsbereitschaft vorwirft, wird er schon länger bedroht und beleidigt. In seinem Vortrag erklärte Mansour die Ablehnung von Homosexualität durch Muslime damit, dass in vielen Familien noch immer patriarchale Strukturen herrschten. Ein großer Teil der Familien sei weiterhin wie eine Pyramide strukturiert: An der Spitze stehe das männliche Familienoberhaupt, „der Vater, der Opa oder ein älterer Onkel“. Sexuelle Freiheit würde dieses Modell auf radikale Weise infrage stellen, darum werde jede sexuelle Identität jenseits der heteronormativen Form vehement abgelehnt.

Sexualität ist, so Mansour, in diesen Familien ein Tabuthema, Jungen und Mädchen lebten parallel nebeneinander, Nacktheit sei verpönt, jede Form von Abweichung werde als Bedrohung wahrgenommen, weil sie das tradierte Lebensmodell infrage stelle.

Doch macht er es sich damit nicht zu einfach, schert er mit seiner Erklärung nicht alle Muslime über einen Kamm? Mansour kennt diese Kritik, und er gestand auch ein, dass sie berechtigt ist. „Mir geht es nicht um Verallgemeinerungen“, sagte er auf der Konferenz. Natürlich sind die „muslimischen Communitys“ oft vielfältiger, als sie wahrgenommen werden. Ein Beharren auf patriarchalen Strukturen sei dennoch nicht zu übersehen.

Mansour wünscht sich, dass der Staat dagegen stärker angeht, notfalls auch mithilfe von Sanktionen. So plädiert der Psychologe etwa dafür, dass muslimische Eltern ihre Töchter nicht mehr vom Schwimmunterricht befreien dürfen. Vorgehen solle der Staat auch gegen die Finanzierung von muslimischen Gemeinden aus dem Ausland, etwa aus der Türkei oder aus Saudi-Arabien. Denn mit dem Geld komme oft auch ideologische Infiltration daher.

Diskutiert wurde auf der Konferenz auch darüber, ob die Ablehnung von Homosexualität und Transidentitäten tatsächlich zum Kern der muslimischen Religion gehört. Lässt sich zum Beispiel aus dem Koran wirklich herauslesen, dass homosexuelle Handlungen den Prinzipien der Religion widersprechen? Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität in Münster, stellte das in seinem Vortrag, mit dem die Konferenz am Freitag eröffnet wurde, infrage. Er stellte Islamwissenschaftler und Koran-Exegeten vor, die zu ganz anderen Schlüssen gekommen sind, die etwa der sogenannten „Knabenliebe“ eine große Rolle in der muslimischen Welt zusprechen. Auch homoerotische Gedichte von anerkannten Religionsgelehrten könnten, so Khorchide, der These widersprechen, dass Homosexualität im Islam schon immer verteufelt worden sei.

Auf irritierende Paradoxien wies Susanne Schröter in ihrem Vortrag hin. Anhand von Beispielen aus Oman, Pakistan und Indonesien zeigte sie, dass ein Leben als Transperson unter bestimmten Umständen in muslimischen Gesellschaften keinen Bruch mit der Norm darstelle, sondern akzeptiert sei. Die Existenz eines „dritten Geschlechts“ werde dabei oft nicht nur anerkannt, sondern sei, wie bei den in Pakistan lebenden Hijras, Männern, die sich als Frauen fühlen und kleiden, sogar mit religiösen Praktiken verbunden. Selbst in Iran, wo Homosexuelle mit der Todesstrafe bedroht werden, sind Geschlechtswechsel erlaubt. Transgender gilt dort nicht als Vergehen, sondern als Schicksal. Das jedoch heiße nicht, dass diese Länder tatsächlich auf dem Weg sind, liberaler zu werden, stellte Schröter klar. Die Offenheit gegenüber bestimmten Formen der sexuellen Grenzüberschreitung existiere meist gleichzeitig mit einer brutalen Repression gegenüber homosexuellen oder queeren Menschen. Um Freiheiten und für von der Norm abweichende Lebensentwürfe müsse weiter gekämpft werden.

Von Alexander Jürgs. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2022, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 32
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