FRANKFURT Neue Reihe zur „Frankfurter Schule“

Lange waren andere Dinge wichtiger, aber jetzt konnte Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) endlich die Gesprächsreihe vorstellen, die sie, wie es hieß, immer wieder zurückstellen musste. Im Vortragssaal des Museums für Moderne Kunst hatte die „Frankfurter Schule“ Premiere, denn David Dilmaghani, Leiter des Dezernatbüros für Kultur und Wissenschaft hat die Organisation der gleichnamigen Reihe in die Hand genommen. Hundert Jahre nach der Gründung des Instituts für Sozialforschung haben sich das Kulturamt und das Forschungszentrum „Normative Orders“ der Goethe-Universität mit dem Institut zusammengetan, um Frankfurter Denker und die kritische Öffentlichkeit zum analogen Miteinander zu animieren. Denn, so Hartwig in ihrer Begrüßungsrede: „Frankfurt ist immer noch ein geistiger Mittelpunkt Deutschlands.“

Einmal im Quartal stehen in der Nachfolge Horkheimers und Adornos aktuelle Themen an unterschiedlichen Frankfurter Museumsstandorten auf dem Programm. Zum Auftakt sprach der Publizist Cord Riechelmann mit Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie bei den „Normative Orders“, über dessen bei Suhrkamp erschienenes Buch „Theorie der Befreiung“. Riechelmann verwies darauf, dass Befreiung in der Geschichte immer in neue Herrschaft umschlage. Welche Mechanismen hinter solchen „paradoxen Gegeneffekten“ stecken, untersucht Menke in seinem Buch. Herrschaft und Freiheit sind für ihn keine Gegensätze. Er sprach vielmehr von „Gewohnheit“, die unfrei mache, und von einem „Erfahrungsereignis“, aus dem Befreiung hervorgehen könne, falls man dieses möglicherweise auch ästhetische Moment ergreife.

Im Übrigen seien Freiheit und Befreiung nicht dasselbe. „Freiheit gründet nicht in Selbstverwirklichung, sie ist eine Seinsweise des Außersichseins“, erläuterte Menke und bezog sich dabei auf Adorno als Musiktheoretiker. Einem Musikstück zu folgen, bedeute ein bejahendes Außersichsein. Das sei Freiheit. „Befreiung ist nicht etwas, das wir tun, sondern etwas, das uns widerfährt“, so der Philosoph. „Knechtschaft bedarf nicht der Präsenz von Herren, sie ist freiwillig. Wir wollen nicht aus der Höhle raus“, fuhr er mit Platon fort. „Wir ketten uns an Gewohnheiten. Wir haben die Knechtschaft in uns.“ Die Befreiung komme aus Erfahrungen, die nicht in unsere Gewohnheiten integrierbar seien. Als Beispiel führte er den Surrealismus an. Aber Gewohnheiten gingen aus Erfahrungen hervor: „Die Gewohnheit vergisst ihren eigenen Grund.“ Ein Zusammenspiel aus Trieb und Verdrängung.

Den Begriff der Dialektik vermieden die beiden Gesprächspartner. Schließlich sollen die Teilnehmer dieser Reihe möglichst ohne Fachterminologie auskommen, um von allen verstanden zu werden. Sie wurden verstanden. Das bewies das aufmerksame Publikum, das den Saal bis auf den letzten Platz füllte. Ältere, die mutmaßlich noch Adorno kannten, und Menkes Studenten gaben mit klugen Fragen Resonanz. Hartwig selbst fragte nach einem potentiellen Missbrauch dieses Befreiungsbegriffs. Da sprach Menke von „Selbstmissbrauch“. Der Erfahrungsantrieb sei immer offen, ohne Bedeutung. Das Denken der Befreiung stelle sich erst danach ein – auch bei identitärer Politik.

Frankfurter Schule findet vierteljährlich statt, für den Sommer ist ein Gespräch mit Rainer Forst, Philosoph für Politische Theorie und Direktor des Forschungszentrums „Normative Orders“ geplant.

Von Sascha Zoske. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.03.2023, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 48.
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