Die Lage in der Ukraine erfordert ein schnelles und entschiedenes Handeln des Westens. Mit gestuften Sanktionen wird man Wladimir Putin nicht zur Vernunft bringen – die Idee der flexible response passt nicht zur aktuellen Lage. Sanktionen müssen richtig weh tun.

Von Nicole Deitelhoff

Wer kennt das nicht: Vor einem springt die Ampel auf orange und es stellt sich die Frage: Gas geben und noch schnell über die Kreuzung sausen oder doch aus Sicherheitsgründen bremsen? So oder so ähnlich stellt sich – stark vereinfacht – die Lage westlicher Sanktionspolitik gegenüber Russlands Präsidenten Wladimir Putin auch gerade da.

Ja, der Westen verhängt Sanktionen. Der amerikanische Präsident Joe Biden hat es schon am Montagmorgen getan, die Europäische Union will nachziehen. Mit einem ersten Paket, so heißt es. Man wolle in der Lage sein, auf weitere Eskalationsschritte mit weiteren und noch härteren Sanktionen zu reagieren.

Nur: Wird das in der jetzigen Situation helfen? Die Erfahrungen der letzten Wochen (aber auch der letzten Jahre!) zeigen, dass Sanktionsdrohungen, die „ein nie da gewesenes Maß annehmen würden“, wie US-Präsident Biden und die EU-Kommission nicht müde werden zu betonen, oder in ihrer Härte einer „nuclear option“ gleich kämen, Putin relativ wenig interessiert haben. Das galt 2014 für die Annexion der Krim und es gilt auch jetzt wieder. Seelenruhig bereitete er die Abspaltung der abtrünnigen Gebiete Luhansk und Donezk vor, sponn das Narrativ eines Genozids durch ein von außen gelenktes kriegswütiges ukrainisches Regime und evakuierte Teile der Zivilbevölkerung aus den Gebieten, um schließlich den um Beistand und Anerkennung bittenden Rebellenführern aus Luhansk und Donezk entgegenzukommen und ihnen Schutz zu gewähren. Schutz, indem er die Gebiete – wie einst sein Vorgänger Medwedew Abchasien und Südossetien in Georgien 2008 – „notgedrungen“ als unabhängige Volksrepubliken anerkannte. Das alles tat er zwischen Telefonaten, Treffen und weiteren Telefonaten mit dem deutschen Bundeskanzler Scholz, dem US-Präsidenten Biden, dem französischen Präsidenten Macron und vielen anderen. Er lässt die EU damit vor aller Welt in ihren Bemühungen scheitern und unterstreicht seine alte Position, er habe mit Europa nichts zu besprechen, sondern nur mit den USA. Europa verweist er maliziös lächelnd an den Katzentisch der Weltdiplomatie.

Nicht mit den Mitteln des Kalten Krieges

Und nun gestufte Sanktionen? Gegen Einzelpersonen in seinem Umfeld, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Montagmorgen noch verkündete? Warum sollten ihn diese abschrecken, noch mehr zu tun? Die Idee der flexible response, die sich dahinter verbirgt, entstammt der Abschreckungstheorie im Kalten Krieg. Sie verweist auf einen politischen Kontext, in dem es darum geht, eine nukleare Auseinandersetzung zu vermeiden und stattdessen einer schrittweisen Eskalation mit gestuften Abschreckungsmaßnahmen zu begegnen, um den Konflikt unterhalb der Schwelle des Nuklearkriegs zu halten. Das war eine wichtige Lektion, die man aus den near misses (einer nuklearen Auseinandersetzung) in der Berlin-Blockade oder der Kuba-Krise zog. Nur ist eine Nuklearoption, ja sogar eine konventionelle kriegerische Option von Europäern und den USA ohnehin vorab vom Tisch genommen worden: Um die Ukraine werde man keinen Krieg führen, lautet unisono das Credo.

Unter diesen Vorzeichen ist flexible response überholt, denn sie verschafft dem Aggressor dann nur die Möglichkeit, sich an die jeweiligen Sanktionspakete anzupassen. Putin rechnet dank des langen Vorspiels ohnehin mit Sanktionen, er hatte Zeit, Vorkehrungen zu treffen und er scheint aus der Krim-Annexion die Lektion mitgenommen zu haben, dass militärische Drohungen und Eskalation ihn seinen Zielen näher bringen. Sein Verhalten signalisiert vor allem: Er ist bereit, einiges an Kosten in Kauf zu nehmen, um seine geopolitischen Ideen durchzusetzen. Die Sanktionsforschung weist darauf hin, dass Sanktionen gegen Großmächte ohnehin nur sehr begrenzte Wirkung im Sinne einer Verhaltensänderung bei den Sanktionierten haben. In solchen Fällen geht es bei Sanktionen vor allem um das Signal, dass sie an den Rest der internationalen Gemeinschaft senden, dass man nicht bereit ist, Regelverletzungen hinzunehmen. Sie sollen die Ordnung, die verletzt wird, stützen, auch wenn sie die Regelverletzung nicht abstellen können. Umso wichtiger, dass die Sanktionen dann glaubwürdig sind. Dazu müssen sie „richtig weh tun“, dem Sanktionsziel, wie auch jenen, die sanktionieren.

In der jetzigen Situation muss es darum das volle Sanktionspaket sein, muss die volle Härte des Westens kommen, wenn man nicht in einer Salamitaktik dem Verschwinden der Ukraine zusehen will und der Ordnung, die man mühsam aufgebaut hat, gleich mit. Die Ampel darf nicht auf orange stehen bleiben und Putin zum weiteren Austesten reizen, ob ein „jetzt Gas geben“, ihn nicht doch noch sicher über die Kreuzung bringt. Sie muss tiefrot leuchten. Der Stopp von North Stream 2 geht in die richtige Richtung.

Professor Dr. Nicole Deitelhoff ist seit 2009 Professorin für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt und seit 2016 Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Von Nicole Deitelhoff. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.02.2022
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv