Russland ist der große Verlierer der Globalisierung: Statt in Technologie investierte die Elite in Luxuskonsum.

Von Vinzenz Hediger

Hier ist unsere Antwort auf die amerikanischen Sanktionen! Wir haben keine Angst vor euch! Wir werden ohne eure netten hübschen Sachen leben!“ Dieser Tweet, der ein Video kommentiert, in dem ein russischer Vater mit seinem Sohn aus Protest gegen den Rückzug von Apple aus Russland ein iPad mit dem Hammer zerstört und das mit einem iPhone aufzeichnet, weist auf einen wichtigen Aspekt von Putins Aggression gegen die Ukraine und auf eine Quelle seines Drangs nach territorialer Expansion. 1991 verlor Russland nicht nur ein Imperium. Das Land machte sich auf den Weg, zum größten Verlierer der zweiten Globalisierung zu werden.

Im Jahr 1984 nahm Jesse Jackson bei seiner ersten Präsidentschaftskampagne Reagans protektionistischen „Buy American Act“ von 1982 ins Visier. Er fragte das Publikum bei einer Debatte, wer im Saal einen japanischen Videorecorder besitze, damals das Neuste in der Unterhaltungselektronik. Viele hoben ihre Hand. Dann fragte Jackson, wer eine amerikanische Cruise Missile habe. Jacksons Argument war klar: Die amerikanische Industrieproduktion war im Kalten Krieg auf Rüstung fokussiert. Japanische Konsumelektronik hingegen stand für das, wonach der Markt verlangte, und für die Richtung, in die sich die Wirtschaft entwickeln sollte. Nach dem Ende des Kalten Kriegs passte sich Amerika rasch an. Teilweise durch die Übernahme von Rüstungstechnik – das Internet basiert auf dem Arpa-Net des Militärs – etablierten sich Marken wie Microsoft, Apple, Amazon und Netflix als Weltmarktführer für Informationstechnologie und im Bereich der konsumorientierten Plattform-Ökonomie.

Die zweite Globalisierung, die um 1990 einsetzt, ist ein wichtiger Faktor dieser Transformation. Die GATT-Verträge und die daraus entstandene WTO schufen einen globalen Wirtschaftsraum mit niedrigen Schwellen für Handel. Globale Wertschöpfungsketten, in denen die Produktion in Niedriglohnländer ausgelagert wurde, während Entwicklung, Design und Verkauf der Produkte in den Hochlohnländern blieben, ersetzen bald das Modell der Fabrik an einem Ort in der Nähe von Rohstoffen und/oder Märkten der klassischen Industrieordnung. Die Verteilung der Wertschöpfung entlang dieser Ketten verläuft in einer u-förmigen Kurve. Am höchsten sind die Profite am Anfang bei Entwicklung und Design und am Ende im Verkauf, am niedrigsten in der Mitte bei der Produktion – man denke an Entwicklung, Herstellung und Verkauf eines iPhones.

Worauf es in der globalisierten Wirtschaft ankommt, ist die Entwicklung und Kontrolle von „brands“, von globalen Marken etwa für technologisch anspruchsvolle Konsumprodukte. Innerhalb dieses Systems stieg China zur Wirtschaftsmacht auf, indem es das Südkorea der Sechziger- bis Achtzigerjahre nachahmte: Sich als Billiglohn-Produktionsstandort in die globalen Wertschöpfungsketten einzuklinken, um dann möglichst schnell selbst globale Marken wie Huawei zu entwickeln. China verstand, dass es darum ging, vom Scheitelpunkt der U-Kurve zu den Patent-/Design- und Verkaufsenden der Kurve zu kommen.

Nichts Vergleichbares passierte in Russland. Als Billiglohn-Produktionsstandort fiel Russland aus geographischen Gründen aus. Globale Wertschöpfungsketten basieren auf Containerlogistik auf dem Seeweg, und zu Russlands Lageproblemen zählt seit je der Mangel an permanent eisfreien Häfen. Überlandtransporte sind aufgrund großer Distanzen und schlechter Infrastruktur teuer. So positionierte sich Russland nach dem Kalten Krieg nicht als eine der Fabriken der Welt, sondern als eine ihrer Tankstellen. Aber statt die Erlöse aus dem Rohstoffhandel zu verteilen oder in Technologien mit Entwicklungspotential zu investieren, gaben die neuen Eigentümer des Landes, die Oligarchen, ihr Geld für ostentativen Konsum und teure Luxusgüter aus: Fußballclubs, Yachten, Liegenschaften in London, am Mittelmeer, in Dubai, New York oder Miami. Die weniger Vermögenden ahmten sie darin nach.

Russland verrannte sich in den Neunzigerjahren in der strukturellen Falle einer rohstoffbasierten Export- in Verbindung mit einer Konsumgüterimport-Wirtschaft. Verschärft wurde das Problem durch die Finanzpolitik der russischen Regierung. Der Preis für die friktionslose Eingliederung Russlands ins globale Wirtschaftssystem bestand, wie der Finanz- und Wirtschaftshistoriker Adam Tooze es formuliert, bei aller antiamerikanischen Rhetorik im mustergültigen Festhalten an einer konservativen Geld- und Finanzpolitik. Staatlich finanzierte Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in großem Umfang, die der Sowjetunion im Kalten Krieg lange erlaubt hatten, kompetitiv zu bleiben, fielen aus. Der über Rohstofferlöse und eine konservative Fiskalpolitik ermöglichte Zugang zu globalen Konsumgütern verdeckte die Tatsache, dass Russland außer Rohstoffen nichts produzierte, was die Welt kaufen wollte. Dass Russland das sowjetische Nukleararsenal erbte, kam erschwerend hinzu. Die Möglichkeit, die Menschheit komplett auszulöschen, mag Gangstern und Geheimpolizisten, die an das Regieren durch Gewaltandrohung gewohnt sind, attraktiv erscheinen. Sie schafft aber keinen Anreiz über die „soft power“-Vorzüge globaler Marken nachzudenken, geschweige denn eine Politik zu verfolgen, die deren Entstehung begünstigen würde.

So umfasst das aktuelle Sanktionsregime denn auch keine Konsumgüter, es gibt ja keine, deren Verzicht durchgesetzt werden müsste. Als politisch bewusster Konsument konnte man in Europa in den Achtzigerjahren noch gegen Apartheid kämpfen, indem man keine Granny-Smith-Äpfel kaufte. Russland wiederum ist noch nicht einmal Weltmarktführer für Wodka (die bekannteste Wodka-Marke kommt aus Schweden). Wie sehr Russland von importierter Technologie abhängig ist, erkennt man auch daran, dass Apple Teile des russischen Alltags lahmlegen konnte, indem es Apple Pay deaktivierte. Silicon-Valley-Apps ersetzen in Russland auf ähnliche Weise öffentliche Infrastruktur wie in Nigeria, wo alle Kommunikation über Whatsapp läuft.

Ein weiteres Beispiel ist die Luftfahrtindustrie. Insbesondere die zivile Luftfahrt ist eine Technologie, die ein Höchstmaß an technischer und Organisationskompetenz erfordert. Wer zivile Luftfahrtsysteme aufbauen und unterhalten kann und vor allem wer Flugzeuge ohne Beitrag von Dritten zu bauen und zu betreiben versteht, kontrolliert ein wichtiges Element der Technologie, auf der die globalisierte Wirtschaft basiert. Aktuell sind nur Europa und Amerika, nur Airbus und Boeing in dieser Position. Brasilien verfügt über eine wichtige Industrie für kleinere Verkehrsflugzeuge, die Volksrepublik China bemüht sich, eine solche aufzubauen, aber beide bleiben auf europäische und amerikanische Technologiepartner angewiesen.

Die Sowjetunion verfügte über eine voll entwickelte, eigenständige Luftfahrtindustrie und baute mit der Tupolev 144 sogar ein Gegenstück zur Concorde (ebenso unwirtschaftlich und noch störungsanfälliger). Jetzt beschränkt sich das Angebot auf einen Sukhoi-Mittelstrecken-Jet, der französische und englische Triebwerke einsetzt. Die Entscheidung von Boeing und Airbus, Aeroflot als Teil der Sanktionen nicht mehr mit Ersatzteilen zu beliefern, dürfte daher binnen weniger Wochen zum Zusammenbruch der Zivilluftfahrt in Russland führen. Die Golfstaaten bereiten sich seit Längerem mit dem Aufbau von Fluglinien und Drehkreuzen auf die Zeit nach dem Ende fossiler Brennstoffe vor, wobei sie ihren Standortvorteil nutzen: Mehr als sechzig Prozent der Weltbevölkerung leben in einem Radius von acht Flugstunden um den Persischen Golf. Die Türkei verfolgt mit dem neuen Großflughafen in Istanbul eine ähnliche Strategie. Russland hingegen macht hier wieder die Geographie einen Strich durch die Rechnung: zu weit nördlich, zu dünn besiedelt.

Auch der Kulturbetrieb und die Medien stecken in nicht skalierbaren Formaten aus dem neunzehnten Jahrhundert fest und sind für den Export ungeeignet. Das Bolschoi-Theater ist eindrucksvoll, doch nach einem russischen „Squid Game“, TikTok oder Nollywood sucht man vergeblich. Wie zu Sowjetzeiten ist die breitenwirksame Filmproduktion koordiniert mit staatlicher Propaganda – man denke an Nikita Michalkovs Wandel vom Cannes-tauglichen Autorenfilmer zum Regime-Regisseur unter Putin -, aber es fehlt die künstlerische Qualität von Eisenstein, Vertov oder Esfir Shub. Der wichtigste Output der elektronischen Medien ist die staatliche Propaganda, wobei eine aggressiv antiwestliche und bloß reaktive Identitätspolitik den Platz der doch noch etwas weltgängigeren internationalistischen Revolutionsrhetorik der Zwanzigerjahre eingenommen hat. Der Putin-Kitsch, wie es Karl Schlögel nennt, findet zwar an den äußersten Rändern des politischen Spektrums im Westen großen Anklang, aber als Grundlage eines Geschäftsmodells für eine globale „content“-Industrie, die es mit Hollywood, Bollywood, türkischen Fernsehserien oder der südkoreanischen Film- und Musikindustrie aufnehmen könnte, taugt er nicht. So bleiben der wichtigste Kulturexport Russlands seit dem Ende des Kalten Krieges die Twitter-Trolle, die im Internet Stimmung für Trump und Brexit und gegen die EU und die Covid-Impfung machen, dafür aber auch wieder auf amerikanische Technologie angewiesen sind.

Was uns zurück zu Putin bringt. In einer Welt, in der die Macht in der Kontrolle von „brands“ liegt, von globalen Marken, strebt der russische Diktator nach Macht durch die Kontrolle von Land. Er ist einem geopolitischen Denken verpflichtet, das im Anschluss an den englischen Geographen Halford Mackinder davon ausgeht, die Kontrolle der eurasischen Landmasse sei Grundlage künftiger Weltherrschaft. Russland war immer schon eine Kolonialmacht auf eigenem Gebiet – Alexander Etkind spricht von „interner Kolonisierung“. Aber Putins Chefideologe, der faschistische Philosoph Alexander Dugin, hat Mackinders Theorie zu einer politischen Programmatik der Landnahme ausgearbeitet, die darüber hinausgeht und die Putin nun umsetzt. Die Geopolitik des einundzwanzigsten Jahrhunderts aber ist eben nicht mehr eine des Landes, sondern eine der globalen Marken. Mackinders amerikanischer Widerpart Alfred Thayer Mahan hat in seinem Buch „The Influence of Sea Power upon History“ von 1890 die Grundlage für die Seedoktrin der amerikanischen Navy gelegt, die mit ihren Flugzeugträger-Verbänden heute die Weltmeere beherrscht und damit potentiell alle Küstengebiete.

Thayer Mahans Konzept von Geopolitik passt zu jenem parteiübergreifenden Konsens, der seit den Neunzigerjahren besteht und auf offene Märkte für amerikanische Exportgüter abzielt. Die amerikanische Marine ist die globale Schutzmacht der Container-Schifffahrt, die vollständig von Firmen aus mit Amerika alliierten Ländern dominiert wird (Mærsk aus Dänemark, MSC aus Italien mit Steuersitz in Genf, CMA-CGM aus Frankreich und Hapag-Lloyd aus Deutschland kommen zusammen auf mehr als fünfzig Prozent Weltmarktanteil; zu den Top Acht zählen ferner Evergreen aus Taiwan, HMM aus Südkorea, One aus Japan sowie als einziger nichtalliierter Akteur Cosco aus China).

Die neue Seidenstraße Chinas ist ein Versuch, diese Abhängigkeit von einer von Amerika und ihren Alliierten kontrollierten maritimen Infrastruktur des Welthandels zu verringern. Russland ist Teil dieses Vorhabens, wie übrigens auch die Ukraine, aus der China achtzehn Prozent seiner Getreideimporte bezieht. Aber auch ein privilegierter Zugang zur neuen Seidenstraße löst nicht Putins Problem, dass er nichts im Angebot hat, das die Welt kaufen will – es sei denn, man ist ein Tyrannen-Kollege à la Assad, der jemanden sucht, der für ihn das eigene Volk mit militärischer Gewalt unterdrückt.

Das ist der Grund, weshalb der Vater, der mit dem Hammer vor laufender Kamera sein iPad zerlegt, aber ein iPhone und Twitter braucht, um seinen Protest in die Welt hinauszutragen, ein perfektes Bild jenes Russlands abgibt, das Putin zu verantworten hat und das uns nun in der Ukraine gegenübersteht.

Vinzenz Hediger ist Professor für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt.

Von Vinzenz Hediger. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07.03.2022, Feuilleton (Feuilleton), Seite 11
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