Zum Ende der Corona-Maßnahmen: Jetzt auf einmal wollen reuige Politiker die nächste Pandemie anders managen. Aber das Machtverhältnis von Staat und Bürger hat sich verändert.

Christian Geyer

Jetzt auf einmal! Das Fallen der Maskenpflicht nun auch im öffentlichen Nah- und Fernverkehr scheint Anlass, beim Pandemie-Thema überhaupt die Masken fallen zu lassen. Es mehren sich die Bekenntnisse unter der Überschrift „Unsere Corona-Fehler“, bisher als tendenziell querdenkerisches Genre gehandelt. Frappierend, wie der ganze Diskurs ins Rutschen kommt – politisch, aber auch rechtstheoretisch -, sobald die medialen Signale auf „Rückschau“ und „Aufarbeitung“ zeigen.

Sogar Karl Lauterbach, in verschiedenen Funktionen das prägende Gesicht der Corona-Maßnahmen, streckt die Waffen und tauscht seine Rolle als erster Mahner im Staat ein gegen den freimütigen Geständnisträger: „Wir sind bei den Schulen und bei den Kindern sehr hart eingestiegen“, sagte er gestern im ARD-Morgenmagazin. Oft sei der „Wissensstand nicht wirklich gut genug“ gewesen, um daraus abgeleitete Maßnahmen belastbar zu begründen (als hätten aus anderen Ländern, gerade was die Schonung von Kindern angeht, nicht andere Kenntnisse vorgelegen). Täuscht die Erinnerung, oder schien Lauterbach zeitweise denn nicht jeder Wissensstand recht zu sein, wenn er sich nur für die jeweils neueste Mobilisierung heranziehen ließ? An eine neue Pandemie, so reflektiert er im Fernsehen das Momentum der Bilanz, würde auch er „ganz anders herangehen“.

Dieses Recht nimmt ebenfalls der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar für sich in Anspruch, wenn er in der „Zeit“ eine zentrale Unschärfe in wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen auch sich selbst zurechnet. Ihn hätte, als Mitglied im Corona-Expertenrat der Helmholtz-Gemeinschaft, „eines noch stutziger machen müssen: wie wenig wir bei den Corona-Toten darüber wussten, wie viele Menschen wirklich an (nicht nur mit) Covid gestorben waren. Im Nachhinein frage ich mich: War die Statistik so unklar, weil Kliniken im einen Fall mehr abrechnen konnten als im anderen? Hätte ich dem energisch nachgehen müssen?“ Tatsächlich verblüffte schon seinerzeit die verbreitete Bereitschaft, sich bei der mitunter täglichen Mortalitätsraten-Durchsage mit der flächigen Auskunft zufriedenzugeben, „im Zusammenhang mit Covid-19“ seien soundsoviele Personen gestorben.

Selbst wer sich schon in der Hitze des damaligen Krisenmanagements um Absetzung von Angela Merkels Pandemiepolitik bemühte, möchte nun den Bonus öffentlicher Selbstkritik einstreichen. „Mit den Corona-Schutzverordnungen haben wir eine Regelungswut an den Tag gelegt, die im Rückblick völlig überzogen war“, bekennt Armin Laschet, als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen einst Anführer des Teams Unvorsicht mit eigenem Expertenrat um Hendrik Streeck und Armin Nassehi, jetzt mit gespielter Reue in der „Zeit“: „Wir haben jede Bewegung in jedem Friseursalon, Kosmetik- und Tattoostudio reglementiert, bis ins allerletzte Detail.“ Abgesehen davon, dass es derart detaillistisch dann ja doch nicht zuging, fehlt bei dieser Sorte Karacho-Schuldbekenntnis der Zeitindex, also jener Schuss historisches Bewusstsein, der jetzige Bewertungen ins Verhältnis zu früher gegebenen Bedingungen setzt.

Freiheit oder Leben?

Auf letztere geht Wolfgang Kubicki bei seiner Rückschau in der „Süddeutschen Zeitung“ ein, wenn er vor dem „Ton der Besserwisserei“ warnt, der den jeweiligen Informationsstand der Verantwortlichen verkenne. Kubicki, Fackelträger der liberalen Tradition, die Grundrechte als Abwehrrechte zumal gegen den Staat auffasst, hat darauf auch in den Hochzeiten der Pandemie bestanden, krawallig zuspitzend, wie es sich für ein FDP-Urgestein in wetterfester Hamm-Brücher-Tradition ziemt („Das Grundgesetz gilt auch während der Pandemie“). Nicht nur deshalb käme es ihm nun „etwas problematisch“ vor, „wenn wir sämtliche Entscheidungen der bundesdeutschen Corona-Politik unter einen apologetischen Schutzschirm schieben würden“.

Das tut auch der Frankfurter Philosoph Rainer Forst nicht, ehedem Sprecher des Exzellenzclusters Normative Orders. Aber anders als Kubicki siedelt er sich bei der normentheoretischen Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen am staatsgläubigen Pol der Debatte an, die unter dem Titel „Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft“ in einem von Klaus Günther und Uwe Volkmann herausgegebenen Suhrkamp-Band entfaltet wird.

Schutzpflichten des Staates gegen grundrechtliche Individualfreiheit zu stellen hält Forst für ein Missverständnis, dem auch das Bundesverfassungsgericht aufsitze, beispielhaft in dem Beschluss vom 19. November 2021, in dem es die sogenannte Bundesnotbremse als verfassungskonform beurteilte. Nicht den Beschluss als solchen, sondern dessen Begründung hält Forst für falsch. Denn dort fände sich „die strikte Entgegensetzung von individuellen Freiheiten gegenüber einem Staat wieder, der in sie eingreift; mehr noch, sie wird ins Zentrum der Abwägung gestellt“. Forst hält den Ball zunächst flach: „Das mag verfassungsrechtlich stimmig argumentiert und im Ergebnis richtig sein“. Und doch spreche aus dieser Art – nun setzt Forst zum Steilpass an -, Schutzpflichten des Staates gegen grundrechtliche Individualfreiheit zu stellen, „die problematische normative Sichtweise, die ich kritisiere“. Siedelt sich Forst mit seiner Individuum und Kollektiv normativ verschmelzenden Freiheitsidee hier neben dem Verfassungsrecht an, gar über ihm?

Positiv statt negativ

Sein Gegenszenario sieht, salopp gesprochen, so aus: Unter der Fuchtel des Staates geht es doch immer nur um Freiheit, auch und gerade dann, wenn sie individuell beschränkt wird. Sind die Rechtfertigungsbedingungen erfüllt, sieht Forst in staatlichen Verfügungen zum Erhalt der Volksgesundheit „keine prinzipielle Einschränkung von Freiheitsrechten, sondern eine fallbezogene Spezifizierung derselben“. Anders gesagt: Die Freiheit wird nicht nur gewährleistet, sondern gleich auch auf den richtigen Weg gebracht. Ist das aber nicht die Pointe beinahe jeder kollektiven Beglückungsidee? „Unterdrückung durch Beglückung“ heißt das demnächst bei Meiner erscheinende Buch des Philosophen Ulrich Steinvorth. Ein Titel, der als Stichwort zur geistigen Situation der Zeit Karriere machen könnte.

Freiheit oder Leben? Bei dem als bürgerliches Gemeinschaftsprojekt imaginierten Abwägevorgang steht die private hinter der öffentlichen Autonomie zurück. Der Vorgang ließe sich „auch als fortwährender Geländegewinn einer demokratischen oder politischen Freiheit beschreiben, die sich gegen die private, staatsabgewandte Freiheit nun mehr und mehr in den Vordergrund schiebt und als der eigentliche Kern heutiger Freiheit hervortritt“, schreibt der Frankfurter Staatsrechtler Uwe Volkmann im selben Band.

Ist die Idee der individuellen Freiheit als einer Freiheit, die vom Einzelnen in prinzipiell selbst verantworteten Entscheidungen verwirklicht wird, insgesamt an ihr Ende gekommen? So direkt gefragt, müsse ohne Federlesens eingeräumt werden, „dass sich die öffentliche zur Not auch ganz über die individuelle Autonomie schieben kann“, erklärt Volkmann, nicht ohne zur Warnung die rhetorische Frage anzuschließen: „Welchen Eigenwert hätte dann aber noch die individuelle Autonomie oder eben die grundrechtliche Freiheit?“

Mutmaßlich wohl keinen mehr in aggregierten Notzeiten wie unseren. Seit dem Karlsruher Klimabeschluss vom 23. März 2021 stehen Grundrechte zudem unter dem Vorbehalt der „intertemporalen Freiheitssicherung“, der als Generationengerechtigkeit im Prinzip auf alle Grundrechte übertragbar ist. Mit anderen Worten: Freisein lässt sich gegenwärtig nur vom Futur her denken. Wer heute sagt: „Ich bin dann mal so frei“, den verfolgt die öffentliche Prävention der diskursiv versammelten Bürger (also des Verwaltungsstaates) bis in die letzten privaten Winkel. Er wird auf die Kollektivseele festgelegt. In kritischer Absicht umschreibt Volkmann diese Austreibung der Negativität freundlich wie folgt: „Wir hätten es dann mit einer prinzipiellen Verschiebung innerhalb des Konzepts der Freiheit zu tun: Während die demokratische Freiheit (als positive Freiheit, als Freiheit zur Mitwirkung an den gemeinschaftlichen Angelegenheiten, als Freiheit ,zum Staat‘) immer stärker an Gewicht gewinnt und immer weitere Bereiche des Lebens usurpiert, bleibt von der individuellen Freiheit (als negative Freiheit, als Freiheit im Privaten, als Freiheit ,vom Staat‘) im praktischen Ergebnis bloß noch der Raum, den die Gesetze übrig lassen, weil an seiner Regulierung kein größeres Interesse besteht.“

Und in der Tat: So liest es sich schon bei Thomas Hobbes. Im „Leviathan“ schützt ein allmächtiger Staat die Menschen vor den Freiheiten, die sie an ihn abgetreten haben. „Unsere Freiheit“, wie der Kampfruf gegen bestimmte Pandemie-Maßnahmen lautete, ist nach Corona eine andere geworden. Für den Umbau unserer Rechtskultur liegen die begrifflichen Instrumente bereit.

Von Christian Geyer. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.01.2023, F.A.Z. Einspruch. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv