FRANKFURT Friedensforscherin Nicole Deitelhoff sieht nach dem Angriff auf die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung zerstört. Sie setzt auf Sanktionen und mehr NATO-Truppen in Osteuropa.

Russland greift die Ukraine großflächig an. Haben Sie damit gerechnet, dass es so kommen wird?

Ich würde gerne etwas anderes sagen, aber – ja. Das hat sich in den letzten Wochen immer deutlicher abgezeichnet. Der Aufbau eines Narrativs über einen „Genozid“ an Russen in der Ukraine und die Rede von der Re-Integration der Ukraine als ursprünglich russisches Gebilde haben deutlich gemacht, dass Putin sich nicht von einem Einmarsch würde abhalten lassen.

Der Versuch des Westens, Putin durch wirtschaftlichen Druck von einer Invasion abzuhalten, ist gescheitert. Hatte diese Strategie jemals eine Chance?

Das ist schwer zu sagen. Wir haben am Montag nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ durch Russland nicht das Paket von harten und umfangreichen Sanktionen gesehen, das ich mir gewünscht hätte. Putin konnte wieder den Eindruck gewinnen, er könne einfach weitermachen, und der Westen werde es akzeptieren. Aber auch die Strafmaßnahmen, die ihm jetzt drohen, haben ihn nicht vom Einmarsch abgeschreckt. Ich fürchte, dass er sich derzeit durch nichts von seinem Vorgehen abbringen lassen wird. Er will jetzt Fakten schaffen. Wir sehen auch, dass er einen „Regime Change“ in der Ukraine anstrebt – ansonsten würde er nicht über eine „Entnazifizierung“ des Landes sprechen.

Putins Denken scheint derzeit einer rein militärischen Logik zu folgen. Alle Konsequenzen unterhalb der Schwelle eines Krieges interessieren ihn nicht. USA und NATO haben frühzeitig klargemacht, dass sie nicht direkt militärisch in den Konflikt eingreifen. Das ist verständlich – aber haben sie damit nicht Putin indirekt signalisiert, er habe freie Hand?

Es war von vorneherein klar, dass USA und NATO keine militärische Konfrontation mit Russland wagen können. Wir reden über eine Nuklearmacht. Das würde ich aber nicht mit „freie Hand“ übersetzen.

Die Ukraine grenzt an mehrere NATO-Mitgliedstaaten. Sehen Sie die Gefahr, dass es zu einem militärischen Zusammenstoß zwischen dem westlichen Bündnis und Russland kommt?

Diese Gefahr besteht immer, insbesondere dann, wenn sich feindliche Truppen an einer Kontaktlinie direkt gegenüberstehen. Das werden wir jetzt erleben. Es kann passieren, dass es zu einem Zusammenstoß kommt, und sei es aus Versehen. Ich glaube allerdings, dass eine solche militärische Auseinandersetzung sehr kurz sein würde. Beide Seiten würden versuchen, das so schnell wie möglich zu beenden, weil man keine nukleare Konfrontation will.

Putin betreibt schon seit Jahren eine aggressive Außenpolitik. Spätestens seit der Annexion der Krim wissen wir, wozu er fähig ist. Waren der Westen und vor allem Deutschland viel zu lange naiv?

Das hört man derzeit oft, aber das ist in gewisser Weise geschichtsvergessen. Es suggeriert, dass man Russland seit dem Zusammenbruch des Ostblocks als Gegner hätte betrachten müssen. Wenn wir das getan hätten, dann hätten wir heute kein wiedervereinigtes Deutschland, die osteuropäischen Staaten wären aller Voraussicht nach keine Demokratien, und wir hätten eine nukleare Rüstungsspirale ohnegleichen erlebt. Die Politik des Aufbaus einer Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa hat über weite Strecken funktioniert. Das Problem ist, dass wir jetzt einen Gewaltherrscher vor uns haben, der sich durch nichts davon abhalten lässt, dieses Netz zu zerreißen.

Putin hat immer wieder behauptet, der Westen missachte die Sicherheitsinteressen seines Landes. War dieser Vorwurf irgendwann in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berechtigt?

Nur sehr eingeschränkt. Bei fast allen Entscheidungen über die Erweiterung der NATO Richtung Osten wurde Russland konsultiert, und es hat Konzessionen gegeben, etwa die Zusage, keine Kampftruppen in den östlichen Beitrittsstaaten dauerhaft zu stationieren, oder später die Einrichtung des NATO-Russland-Rats. Ein kritischer Punkt war 2008, als es darum ging, ob die Ukraine und Georgien NATO-Mitglieder werden können. Der damalige US-Präsident George W. Bush hat das damals forciert, ohne Konsultationen mit den europäischen Partnern oder Russland und nachdem Putin im Jahr zuvor auf der Münchener Sicherheitskonferenz ausdrücklich vor einer weiteren Erweiterung gewarnt hatte. Das war sicherlich ein strategischer Fehler. Von da an haben wir auch ein deutlich aggressiveres Verhalten Russlands gesehen. Aber zu behaupten, seit 1990 seien Russlands Sicherheitsinteressen nicht gewahrt worden, ist einfach Blödsinn.

Andererseits wird auch gesagt, Putin sei nie wirklich an einer Partnerschaft mit dem Westen interessiert gewesen. Als ehemaliger Geheimdienstmann denke er immer noch in den Kategorien des Kalten Krieges.

Wenn ich die Reden und Stellungnahmen des frühen Putin anschaue, glaube ich, dass das so nicht stimmt. Es gab eine Phase, in der er durchaus Interesse an einer guten Kooperation mit dem Westen hatte. Ich denke nicht, dass er von Anfang an darauf aus war, die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu zerschlagen.

Was soll der Westen jetzt tun? Wirtschaftssanktionen bringen zumindest auf die Schnelle nichts. Welche Möglichkeiten bleiben noch?

Die Sanktionen brauchen wir weiterhin, auch wenn sie Putin nicht kurzfristig dazu bringen werden, den Krieg zu beenden. Sanktionen gegen Großmächte sind selten effektiv, wenn sie direkt Verhaltensänderungen herbeiführen sollen. Sie können aber mittel- und langfristig etwas bewirken: Druck im Inneren des Landes erzeugen und so neue Verhandlungsfenster öffnen. Wir brauchen jetzt tatsächlich die Bazooka: das Abschneiden Russlands vom Finanzverkehr, Reisebeschränkungen für die Eliten, Einfrieren von Vermögen, Einschränkung der Energieimporte. Das wird auch für uns extrem teuer und schmerzhaft. Bestimmte politische Projekte werden sich dann nicht realisieren lassen.

Welche Projekte meinen Sie?

Wir haben gerade eine neue Bundesregierung bekommen, die hat viele tolle Pläne. Ich gehe davon aus, dass sie viele davon nun nicht mehr oder zumindest nicht sofort verwirklichen kann. Wir werden enorm viel Geld in unsere Verteidigung und die unserer Bündnispartner stecken müssen.

Die NATO verstärkt schon jetzt ihre Truppen an der Ostflanke. Müssen wir noch mehr Truppen und Waffen dorthin schicken?

Ja, es ist notwendig, dass wir noch mehr Soldatinnen und Soldaten an die Ostflanke schicken. Wir müssen enorm in Ausrüstung und leider tatsächlich auch in Aufrüstung investieren. Die Bundeswehr ist in vielen Bereichen immer noch unzureichend ausgestattet. Dass noch nicht einmal die 5000 Schutzhelme bisher in der Ukraine angekommen sind, zeigt ja, wie schwierig die Beschaffungslage ist. Es muss auch in Standorte der Bundeswehr innerhalb Deutschlands investiert werden. Das alles wird ordentlich Geld kosten.

Wir sehen jetzt die Folgen davon, dass Deutschland die Bundeswehr und den Zivilschutz jahrzehntelang mit Desinteresse behandelt hat.

So ist es. Die Bundeswehr gut auszustatten wird in Deutschland immer sofort mit „Militarisierung“ und „Aggression“ gleichgesetzt. Aber die Invasion in der Ukraine ist jetzt der entscheidende Schock, der uns klarmacht: Wir müssen das tun, wir können gar nicht anders.

Sie haben am Vorabend des Krieges in einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung gesagt, man könne in Europa nur mit und nicht gegen Russland Sicherheit schaffen. Glauben Sie das immer noch?

Ja. Wir haben es mit einer potenten Nuklearmacht in Europa zu tun. Ohne sie werden wir keinen dauerhaften Frieden etablieren können. Das heißt aber nicht, dass wir nach Moskau kriechen und um Gehör des Herrschers bitten sollten. Jetzt geht es vor allem darum, das Regime so weit zu schwächen, dass Putin wieder bereit ist, mit uns zu verhandeln. Aber das wird aller Voraussicht nach lange dauern. Bis wir wieder eine funktionierende europäische Friedensordnung haben, könnten Jahre vergehen. Alles, worauf wir die europäische Sicherheit gegründet haben, liegt momentan zerschmettert am Boden. Bei einem Neuaufbau wird es zunächst einmal nicht um Demokratie und Menschenrechte gehen, sondern um friedliche Koexistenz und Wahrung territorialer Integrität.

Die Fragen stellte Sascha Zoske.

Von Sascha Zoske. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25.02.2022, Titelseite Rhein-Main-Zeitung ( Rhein-Main-Zeitung), Seite 37
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