Hollywood hat ein Problem mit Frauen über vierzig. Dass dort „Aging out“ betrieben wird, belegen die Zahlen. Aber gilt das auch für die deutsche Film- und Fernsehbranche?

Als Anke Sevenich im Frühjahr die Berlinale besuchte, wurde sie wie so oft in den vergangenen Jahren gefragt: „Was ist eigentlich aus eurem preisgekrönten Drehbuch geworden?“ Die Geschichte lohnt sich zu erzählen, weil sie womöglich symptomatisch ist für das, was in Hollywood „Aging out“ genannt wird: das Ignorieren von Schauspielerinnen ab vierzig in einem von Jugendlichkeit besessenen Geschäft.

Anke Sevenich, 1959 geboren und in ihrem Beruf zunehmend mit diesem Problem konfrontiert, hat die Erfahrung des Älterwerdens nicht Trübsal blasen lassen. Sie ging einen anderen Weg. Die Schauspielerin, die sich als junge Frau mit einer einzigen Rolle, dem Schnüsschen in Edgar Reitz‘ „Heimat“-Epos, in die deutsche Filmgeschichte eingeschrieben hatte, wollte mit dem Rollenwechsel, den ihr Beruf ihr abverlangt, produktiv umgehen.

Das weibliche Fach kennt bekanntlich mehrere Rollenfächer, von der jugendlichen Naiven über die junge Liebhaberin und spätere Heldin, Mutter und Charakterdarstellerin bis zur „komischen Alten“, wie es in einem Schauspiel-Handbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert heißt. Das Erklimmen der jeweiligen Stufe stellt sich in der harten Realität des Filmgeschäfts mitunter herausfordernder dar als in Hesses berühmtem Gedicht, wonach jedem Anfang, auch wenn die Blüte welkt und die Jugend dem Alter weichen muss, ein Zauber innewohnt. Was war passiert mit „Sayonara Rüdesheim“?

Vor sieben Jahren hatte Anke Sevenich das gleichnamige Drehbuch zusammen mit Stephan Falk geschrieben. Falk ist Drehbuchautor und ihr Lebenspartner. Für sie war es ihr erstes Skript und dessen Heldin eine Frau, die wie Sevenich bereits ihre Lebensmitte überschritten hat. Der Film erzählt die Heldinnenreise einer Figur, die aus dem Hunsrück aufbricht, um sich mit ihren Chorfrauen einen Lebenstraum zu erfüllen und in Japan zu singen. Leider kommt sie nur bis Rüdesheim am Rhein. Die Rolle der Agnes ist differenziert, handlungstreibend und mit Humor erzählt. Und Anke Sevenich auf den Leib geschrieben.

Das war der Plan. Die Schauspielerin hatte das Drehbuch nicht zuletzt deshalb geschrieben, weil ihr damals, mit Mitte fünfzig, mehrheitlich Rollen angeboten wurden, die sie eher mäßig herausfordernd fand. „Natürlich wollte ich die Agnes auch spielen“, erzählt sie bei einem Treffen in Frankfurt. Entsprechend groß war die Freude, als das Drehbuchdebüt auf der Berlinale 2016 den Deutschen Drehbuchpreis, die „Goldene Lola“ gewann. Die Zukunft für einen Kinofilm schien gesichert.

Um es kurz zu machen: Es wurde kein Kinofilm. Und wenn der Fernsehfilm demnächst in der ARD zu sehen ist, hat sich Entscheidendes geändert. Am auffallendsten ist: Die Hauptrolle spielt jetzt eine knapp zwanzig Jahre jüngere Kollegin. In der Umbesetzung sieht Anke Sevenich nicht zuletzt das „Resultat eines veralteten Bildes von Frauen über 55 in deutschen Fernsehanstalten. Ihre gesellschaftliche Bedeutung und Rolle hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert, aber die Medien spiegeln das nicht wider“.

Dem widerspricht Jörg Himstedt. Der Leiter der HR-Fernsehfilmredaktion, die den Streifen unter dem neuen Titel „Sayonara Loreley“ mit der Degeto betreut, sagt, es sei vielmehr gang und gäbe, dass sich Sender und Produzent, die ein Drehbuch gekauft haben, gemeinsam hinsetzen und sich mit der Regie die Besetzung des Films überlegen: „So sind wir auf Katharina Marie Schubert gekommen. Sie erschien uns als die beste Besetzung für die Rolle.“ Durch den Verkauf der Drehbuchrechte sei zudem von vornherein klar gewesen, dass die Autoren Sevenich und Falk keinerlei Mitspracherecht mehr hätten am Entstehen des Films. „Wir haben die Rolle ausgehend von der Mutter der Protagonistin angelegt, weshalb sie bei uns deutlich jünger ist als im Buch“, sagt Himstedt.

Ist das Alter denn überhaupt noch ein Problem auf der Leinwand? Hat sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht schon viel geändert? Bekam nicht 2021 die damals vierundsechzigjährige Frances McDormand einen Oscar, den dritten, für „Nomadland“? Brilliert nicht Emma Thompson gerade im Kino mit „Meine Stunden mit Leo“ als pensionierte Lehrerin, die einen Callboy bestellt? Stellt nicht sogar ein Streaming-Dienst wie Netflix in der Romanverfilmung „Du hast das Leben vor dir“ die uralte Sophia Loren ins Zentrum? Was ist mit Iris Berben, Hannelore Hoger, Senta Berger? Von Helen Mirren, Isabelle Huppert und Meryl Streep ganz zu schweigen? Widerlegen sie die Annahmen, oder sind sie die Ausnahmen, die die Regel bestätigen?

Die Zahlen scheinen Letzteres zu belegen. So stehen einer aktuellen Studie des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock über Geschlechtervielfalt in Film und Fernsehen zufolge bei der „ü60“-Rollenvergabe 29 Prozent Frauenrollen 71 Prozent Männerrollen gegenüber. Demnach nimmt hierzulande der Anteil von Frauenfiguren, die älter als dreißig sind, ab, während mehr als zwei Drittel der zentralen Figuren über fünfzig männlich sind. Zwar nehme das Personal mit zunehmendem Alter insgesamt ab, doch während dies bei Schauspielern ab fünfzig der Fall sei, würden ihre Kolleginnen bereits ab Mitte dreißig aussortiert. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Frauenfiguren mit Schauspielerinnen besetzt werden, die wesentlich jünger sind als die Rollenvorlage. „Das führt bisweilen zu aberwitzigen Konstellationen, dass wir vierundzwanzigjährige Schauspielerinnen sehen, die im Film ein abgeschlossenes Ingenieurstudium haben, außerdem zwei Teenagerkinder und im Beruf auch noch erfolgreich sind“, sagt Anke Sevenich.

Adriana Altaras weiß, wovon ihre Kollegin spricht: „Erst war ich zu klein, dann war ich zu ausländisch, dann zu jüdisch und jetzt bin ich zu alt“, wetterte die Schauspielerin und Bestsellerautorin bei einer Diskussion während der Hofer Filmtage 2021 unter der programmatischen Überschrift „Und bitte! Mehr Schauspielerinnen über 50 in Kinofilme, Streaming und Fernsehen“. Auch die Schauspielerin Anne Brüggemann bekannte dort, mit dem Schreiben angefangen zu haben, weil ihr die angebotenen Rollen zu „langweilig“ wurden. Film sei ein optisches Medium, so Brüggemann, „und alle denken, Männer sind länger attraktiv, weil sie länger reproduktionsfähig sind“.

Während Männerfiguren im fiktionalen Gewerbe altern dürften, gern auch mit dickem Bauch und verbraucht, würden die Kolleginnen in dieser Altersklasse aus der Sichtbarkeit verschwinden, so der allgemeine Vorwurf. Anke Sevenich sieht auch als Zuschauerin ihre eigene Lebensrealität in fiktionalen Formaten zu selten repräsentiert. Weil die Frau über sechzig zu häufig stereotyp angelegt sei, betulich oder schusslig, unsouverän, bissig.

Warum aber sollten Produzenten glauben, dass die Leute ältere Frauen auf der Leinwand und im Fernsehen nicht sehen wollten? In Hollywood liegt die Erklärung auf der Hand. Dort gibt es seit jeher deutlich jüngere Zuschauerzahlen als in Europa. Da mag eine Frances McDermond im Independentkino brillieren. Doch 75 Prozent des Umsatzes an der Kinokasse wird in Amerika mit den Vierzehn- bis Dreißigjährigen gemacht. Das spiegeln die Casts der Mainstream-Filme wider. Selbst ein Film über das eigene Gewerbe wie „Mank“ will auf weibliche Verjüngung nicht verzichten: Da verkörpern Gary Oldman (65 Jahre) und Tuppence Middleton (36 Jahre) ein Paar, das gleich alt ist. Wie überhaupt der Regisseur David Fincher darauf verzichtet hat, auch nur eine Schauspielerin zu besetzen, die älter ist als vierzig.

In Europa ist die Zuschauerstruktur eine andere. Hierzulande werden insbesondere Arthouse-Filme von Älteren frequentiert, und das Durchschnittsalter bei ARD und ZDF liegt ohnehin bei sechzig Jahren. Dass der europäische Film ein vergleichbares „Aging out“ betreibt, bestreitet daher auch Vinzenz Hediger von der Frankfurter Goethe-Universität. Der Filmwissenschaftler hat gerade ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, wie er der F.A.Z. erläutert, um anhand von vierhundert Filmen weibliches Altern im europäischen Film zu untersuchen. Hediger will überprüfen, ob seine These stimmt: Dass die hiesige Kinoindustrie auf den demographischen Wandel dergestalt reagiert, dass das Thema Altwerden selbst thematisiert werde, zum Beispiel in Filmen wie „Amour“ von Michael Haneke oder „Wolke 9“ von Andreas Dresen. Für die groß angelegte Recherche kooperiert er unter anderem mit Universitäten in Spanien, Frankreich, Italien und England.

Während im amerikanischen Kino das „Aging out“ für Schauspielerinnen im Alter vor 35 Jahren beginne, glaubt Hediger, dass im europäischen Kino Publikum und Darsteller miteinander alterten. Er vermutet, dass im europäischen Kino mehr Frauen in Entscheidungspositionen säßen als in Amerika, weshalb bei uns die Sichtbarkeit älterer Frauen entsprechend höher sei.

Die Journalistin Silke Burmester, die „Palais Fluxx“ betreibt, ein „Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre“, wird das nicht besänftigen. Erst unlängst veröffentlichte sie in der „Zeit“ eine „Wutrede“ über das Mangelwesen Frau im Fernsehen ab fünfzig: „Ich bin eine von etwa 20 Millionen Frauen in diesem Land, die älter als 50 Jahre sind. Wäre ich eine deutsche Filmschauspielerin – ich hätte wahrscheinlich wenig zu tun“, beklagte sie und forderte interessantere Frauenfiguren „jenseits von Enkelkindern, Tieren oder einem Ehemann“.

Womöglich wissen wir in vier Jahren mehr, wenn Vinzenz Hediger die Ergebnisse seiner Gender-Studie im europäischen Film vorliegen hat. Womöglich hat der Film dann aber auch einige andere Probleme. Zum Beispiel steht zu befürchten, dass wir es bald nicht mehr mit echten Schauspielerinnen und Schauspielern zu tun haben, weil die Künstliche Intelligenz uns dann auch diese Freude genommen haben wird. Gerade die digitale Alterungstechnologie auf der Kinoleinwand schreitet in Riesenschritten voran. Ein Film wie „The Irishmen“, in dem lebensechte digitale Menschen erzeugt wurden, hat bereits einen Vorgeschmack auf diese Zukunft gegeben. Weil weder mithilfe von Make-up noch digitaler Retuschen die alten Haudegen Al Pacino und Robert de Niro für die Rückblenden solcherart jugendlich zurückverwandelt werden konnten, dass der Regisseur Martin Scorsese zufrieden war, wurde kurzerhand zu modernsten digitalen Technologien gegriffen. Diese könnten das Filmschaffen so sehr verändern, dass bald nicht mehr nur die Sichtbarkeit alternder Schauspielerinnen zur Disposition steht, sondern die Bedeutung von Schauspielerinnen und Schauspielern überhaupt. Und was macht Anke Sevenich? Für sie ist „Sayonara Rüdesheim“ ein abgeschlossenes Kapitel. Mittlerweile haben sich neue Türen für sie eröffnet. Nachdem sie einen erfolgreichen Kurzfilm über Jung und Alt und die menschliche Vergänglichkeit realisiert hat, arbeitet sie gerade an ihrem ersten Langfilm „Grenzgebiet“ – nomen est omen, handelt es sich doch um das Debüt einer Frau „60+“.

Von Sandra Kegel. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.05.2023, Feuilleton (Feuilleton), Seite 9.
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