Bildung im Digitalzeitalter – Keynote von Dr. Thomas Damberger

„Die Nutzung digitaler Medien geschieht unter Berücksichtigung von (rechtlichen), ethischen und wirtschaftlichen Randbedingungen.“

Unter diesem Satz aus dem Leitbild digitale Lehre stand der Inhalt des Vortrags von Thomas Damberger, Vertretungsprofessor am Lehrstuhl für Neue Medien in Lehr- und Lernkontexten im FB04 (Erziehungswissenschaften) der Goethe-Universität.

Auf den ersten Blick, so konnte man einer bildlichen Gegenüberstellung von heute und den 1920er Jahren entnehmen, hat sich offenbar nicht viel geändert: früher standen wartende Menschen an der Straße und lasen ihre Zeitungen – heute starren sie in ihre Smartphones.

Was aber ist ein Medium? Im 19. Jahrhundert hatte der Begriff noch einen anderen Inhalt: am 16. Januar 1874 fand im Haus von Charles Darwins Vater eine Seance, also eine Geisterbeschwörung statt – und für diese brauchte man ein Medium (Allerdings geschah dort an diesem Abend: nichts).

Ein Medium war nach damaligem Verständnis eine Person, die als Vermittler zwischen dieser Welt und der Geisterwelt fungiert; an ein Buch hätte derzeit wohl niemand gedacht.

Ein relativ bekanntes Buch (die Bibel) ist auch ein Vermittler, denn seitdem der Mensch aus dem Paradies „hinauskomplimentiert“ wurden, spricht Gott nicht mehr unmittelbar zum Menschen sondern durch die Welt (Comenius) und die Schrift.

Da viele Menschen in den vergangenen Jahrhunderten weder lesen noch Latein konnten brauchte man also ein weiteres Medium „2. Grades“, nämlich einen Priester, der das Buch lesen und interpretieren konnte.

Mit der Erfindung des Buchdrucks, der deutschen Übersetzung der Bibel durch „Juncker Jörg“ (aka Martin Luther) und der zunehmenden Alphabetisierung begann dann der Siegeszug der Medien – aber nicht nur im religiösen Kontext: Wenn man die Bibel als eine Art „Programmcode“ auffasst (Gott schreibt vor – der Mensch lebt entsprechend), dann verwundert es nicht, dass bald schon andere und kritische Köpfe wie Voltaire, Kant, Herder, Rousseau auf die Idee kamen, wie man andere Programme entwickelt, mit denen eine Gesellschaft besser aussehen könnte. Diese Programme (#aufklärung #humanismus) konnten mittels des neuen Mediums unter das Volk gebracht werden. Medien und Humanismus sind daher nicht voneinander zu trennen

Wie sieht das nun aber mit neuen Medien aus? Ergibt sich aus diesen auch ein neues Menschenbild?

Neuen Medien bezeichnet im Folgenden Kontext immer digitale Medien, egal ob Smartphone, Laptop oder ein Roboter.

Das Prinzip des Digitalen fußt in digitus, dem lateinischen Wort für Finger. Und mit Fingern kann man vielfältige Dinge tun – in der Nase bohren, auf Dinge deuten (etwas be-deuten), aber man kann mit den Fingern auch zählen.

Die Atome der Digitalen Welt sind binäre Ziffern – binary digits – nämlich Nullen (0) und Einsen (1) und mit diesen kann man unheimlich viel machen, ob es eine Powerpointpräsentation, ein Digitalfoto oder Virtual Reality ist. Wir gehen damit über die wirkliche Welt hinaus und gestalten und bilden uns in eine neue Welt hinein – Digitalisierung und Bildung haben insofern vieles miteinander gemein.

Aber auch, um digitale Medien adäquat nutzen zu können, benötigt man eine bestimmte Art von Bildung – nach Peter Euler ist Technologie „geronnene Bildung“.

Unser Verhältnis zu den digitalen Medien hat sich massiv geändert: Die Programmierung der riesigen elektromechanischen Rechenmaschinen konnte eine physische körperliche, sinnliche Erfahrung sein, da man in diese hartverdrahteten Geräte buchstäblich hineinsteigen musste.

Dies änderte sich seit den 1970er Jahren, denn seitdem muss man nicht mehr in den Computer hineinkriechen, sondern man sitzt davor und kommuniziert mit dem Gerät von außen, indem man auf Knöpfe drückt.

Die meisten denken, dass das noch immer so ist – aber die heutigen Geräte, die wir z.B. als Smartphones mit uns herumtragen, enthalten eine Menge an Sensoren (Mikrofon, Kamera, Gyroskop, Magnetsensor, Lichtsensor Thermometer…), die permanent alles, was wir tun und was um uns herum geschieht, erfassen.

Tatsächlich sitzen wir nicht mehr vor dem Computer, sondern wir befinden uns im Computer, den wir um uns herum gebaut haben. Durch unsere sinnliche und körperliche Interaktion mit der digitalen Sphäre sind wir bereits Teil dieses kybernetischen Systems und damit in gewisser Weise Cyborgs – kybernetische Wesen.

Auf die Spitze getrieben könnte das so aussehen wie die kybernetische Hand von Kevin Warwick, der sich vor bereits 20 Jahren einen Chip hat implantieren lassen, mit dem er eine künstliche Hand steuern konnte. Oder die Bodyhacker-Szene, die ihren Körper mit digitalen Erweiterungen versieht (wie z.B. Tim Cannon mit dem Circadia-Modul). Und RFID-Implantate sind nicht länger ein Privileg für Haustiere, sondern buchstäblich „Türöffner“ für jedermann, mit dem in naher Zukunft Daten ausgetauscht werden und Einkäufe bezahlt werden können.

Der Chirurg, der in Shanghai sitzt und eine Herz-OP an einem Patienten in Frankfurt durchführt, ist eigentlich auch schon keine richtige Zukunftsmusik mehr.

Nach Harari („Homo Deus“) hat der Dataismus die Chance, ein großer Gleichmacher zu sein: Beethovens 5. Sinfonie, Shakespeares König Lear und das Grippevirus sind nur drei Muster des gleichen Datenstroms und damit eigentlich das Gleiche, da sie mit den gleichen Instrumenten analysierbar sind.

Aber die digitalen Geräte können nichts von sich aus – Siri „versteht“ eine Stimme nicht wirklich. Sie wird digitalisiert und in eine reine mathematische, mit Algorithmen analysierbare Form abstrahiert (verdatet), die vom Computer verarbeitet werden können.

Dass dies nicht nur positiv ist, wird im digitalen Manifest ausformuliert, das neun europäische Wissenschaftlert veröffentlicht haben: Demnach stehen wir am Scheideweg, denn Big Data, künstliche Intelligenz, Kybernetik und Verhaltensökonomie werden die Gesellschaft im Guten wie im Schlechten prägen und bergen das Risiko, zu einer Gesellschaft mit totalitären Zügen zu führen, in denen Handeln, denken und wissen von einer zentralen Intelligenz gesteuert werden.

Und Schritte in diese Richtung gehen auch die Lieblingskindern der digitalen Bildung – Stichwort Adaptive Lernsysteme / Learning Analytics. Sie ermöglichen Steuerung und Kontrolle in bisher nicht vorstellbarem Ausmaß. Einerseits bekommt jedes Kind damit seinen eigenen Lehrer, denn das Curriculum lässt sich perfekt individualisieren und auf den aktuellen Wissensstand zuschneiden. Aber in zweiter Ebende werden damit auch Unmengen von Daten erfasst – bis zu einer Situation, in der die schlechten Mathematikleistungen der kleinen Lisa von der Maschine mit Schlafmangel und ungesunder Ernährung in Verbindung gebracht werden.

2014 wurde erstmals ein journalistischer Bericht über ein Erdbeben in Los Angeles von einem Algorithmus verfasst und veröffentlicht. Mit Narrative Science ist es heute schon möglich, Daten und Zahlen automatisch in einen lesbaren Text umzuwandeln. Und auch eine Zeitschrift könnte ökonomische Vorteile daraus ziehen, bei einem plötzlichen Ereignis (z.B. einem Terroranschlag) aus versandten Kurznachrichten und Bewegungsprofilen Meldungen zu generieren, die in Sekundenschnelle veröffentlicht werden und nicht mehr auf langsame, journalistische Recherche angewiesen sind.

Aber es ist nicht nur denkbar, dass wir von gezielter Werbung in der Seitenleiste manipuliert werden, sondern auch, dass Nachrichten adaptiv sind und in „adressatengerechten“ Varianten veröffentlicht werden. Damit können wir in der gleichen Zeitung je nach Leser*in eine rechtskonservativ und eine linksliberal konnotierte Meldung lesen.

Was geschieht dann mit fachlichen Texten, z.B. im Bildungskontext? Wie schön wäre es, Adornos „Negative Dialektik“ als adaptiven Text so auszuliefern, dass er von allen Studierenden gelesen und sofort verstanden werden kann. Damit wird aber der Diskurs unmöglich, da sich nicht mehr alle auf den gleichen Text beziehen – und es vielleicht sogar gar nicht merken.

Mit den digitalen Medien und ihrem Adaptionspotenzial besteht die Gefahr, dass eine  fragmentierte Gesellschaft entsteht, in der wir nicht mehr – wie bei der Ausbreitung des Humanismus – durch Ideen geeint werden, sondern durch zunehmende Individualisierung mehr und mehr von einander getrennt sind.

Doch kommt mit der Gefahr auch die große Chance, dass wir solche Phänomene zum Gegenstand in Bildungskontexten machen und es nicht nur darum geht, wie wir welches Neue Medium sinnvollsten einsetzen, damit eine Sache am besten gelernt wird.

Es ist somit unsere Aufgabe, die problematischen Aspekte der ethischen und ökonomischen Randbedingungen der Digitalisierung (#medienkompetenz) mitzudenken und mitzugestalten.

Der Vortrag steht hier als Aufzeichnung im Videoportal bereit.