Filme

Paul Haesaerts, De Renoir à Picasso (1950)

Drei Kunststile und – stellvertretend für diese – jeweils ein Künstler stehen im Fokus von De Renoir à Picasso, dem knapp 30minütigen Lehrfilm des belgischen Regisseurs Paul Haesaerts (1901-1974): der Sensualismus (Auguste Renoir et la tradition de l’art charnel), der Rationalismus (Georges Seurat et les constantes de l’art cérébral) und der Emotionalismus (Pablo Picasso et la continuité de l’art passionell). Kennzeichnend für Werke des Sensualismus ist dabei das Hervorheben von Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Der rationale Zugang zur Kunst zeichnet sich durch seine klare, strukturierte Formsprache aus und verhilft in der gestalterischen Vereinfachung den Künstlerideen zum Ausdruck. Die Kunst als Ausdruck von innerer Getriebenheit, von Leidenschaft, Chaos und Gewalt wird von Haesaerts als dritte Richtung herausgearbeitet. Ihm zufolge setzen sich diese drei Kunststile, die ihren Ursprung bereits in der Antike gefunden haben und die sich über alle Jahrhunderte durch die (nicht nur europäische) Kunstgeschichte ziehen, in der französischen Kunst der Moderne fort.

 Paul Haesaerts, De Renoir à Picasso (1950), in: Steven Jacobs: Framing Pictures. Film
and the Visual Arts, Edinburgh 2014, S. 17.

Zur Veranschaulichung dieser These stellt Haesaerts jeden dieser Stile beginnend mit einem antiken Exponat vor: Zunächst wird jeweils der Kopf einer Skulptur gezeigt, welcher von der Kamera umkreist wird, um die Dreidimensionalität des Werks filmisch einzufangen. Die Bildfläche ist durch weiße Trennlinien dreigeteilt. Diese rahmen das jeweilige Objekt und unterstreichen die Dreigliederung, die den Film maßgeblich bestimmt: jedem Kunststil und jedem Künstler wird ein Drittel der Bildfläche zugestanden. Nach Umkreisung der Skulptur wird zu einer Vollansicht der Figur gewechselt, welche abgelöst wird durch das Einblenden von Gemälden aus verschiedenen Epochen. Diese werden größtenteils als Detailaufnahmen gezeigt, um eine Kontinuität im Motiv und der Darstellungsweise nachzuzeichnen. Dabei sind die anderen Bilddrittel jeweils schwarz gehalten, sodass der Fokus auf dem vorgestellten Kunststil liegt. Die zuvor eingeführten Skulpturen und Gemälde werden in einem nächsten Schritt parallel eingeblendet: jeweils ein Kunstwerk füllt das zu seinem Stil gehörende Bilddrittel aus, es folgt eine Überblendung und erneut werden drei Werke einander gegenübergestellt. Einen Höhepunkt findet diese Kontrastierung in der Gegenüberstellung jeweils eines Gemäldes von Renoir, Seurat und Picasso. Sie bilden ein Triptychon der Moderne [1]. Um den jeweiligen Kunststil für den Betrachter zu visualisieren und deren Besonderheiten herauszuarbeiten, werden die Werke nacheinander mit weißen Linien überzeichnet, die die Komposition der vorgeführten Werke hervorheben .[2]

 Paul Haesaerts, De Renoir à Picasso (1950), Filmausschnitt.

Kennzeichnend für die weitere Gestaltung des Films ist die Nachahmung der drei Kunststile mit cineastischen Mitteln. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn Renoirs Gemälde der tanzenden Paare[3] gezeigt werden: Quasi schwankend wie beim stürmischen Tanz kreist die Kamera über die Gemälde, Haesaerts überblendet eine Tanzszene mit der nächsten, sodass der Anschein entsteht, die beiden Tanzpaare interagierten miteinander, sehen sich an.[4]

 Paul Haesaerts, De Renoir à Picasso (1950), Filmausschnitt.

Dadurch wird eine Dynamik vermittelt, die bereits in Renoirs Gemälden angelegt ist und die Haesaerts als wesentlich für dessen Schaffen hält. Ihm gelingt es nicht nur die Kontinuität der herausgearbeiteten Kunststile bis in die französische Moderne nachzuvollziehen, sondern er zeigt durch die Adaption ihrer Merkmale im Filmischen auch, dass der Film als Kunstgattung selbst in der Tradition einer Stilgeschichte stehen kann.

Anmerkungen:

[1] Es handelt sich um Bildausschnitte der folgenden drei Werke: Pierre-Auguste Renoir, Le Jugement de Pâris, 1908, Öl auf Leinwand, 73 x 92,5 cm, Hiroshima (Hiroshima Museum of Art). Georges Seurat, Un dimanche après-midi à l’Île de la Grande Jatte, 1884-86, Öl auf Leinwand, 207,6 x 308 cm, Chicago (Art Institute of Chicago) [Coneda-Kor]. Pablo Picasso, Porträt von Dora Maar, 1939, Gouache auf Papier, 46,04 x 38,1 cm, Privatsammlung [Coneda-Kor].

[2] Vgl. Filmausschnitt: 00:04:51 – 00:05:57.

[3] Haesaerts wählte für diese Sequenz folgende Werke aus dem Œuvre Renoirs aus: Pierre-Auguste Renoir, Danse à la campagne, 1883, Öl auf Leinwand, 180,3 x 90 cm, Paris (Musée d‘Orsay). Pierre-Auguste Renoir, Danse à la ville, 1883, Öl auf Leinwand, 179,7 x 89,1 cm, Paris (Musée d‘Orsay). Pierre-Auguste Renoir, La Danse à Bougival, 1883, Öl auf Leinwand, 181,9 x 98,1 cm, Boston (Museum of Fine Arts).

[4] Vgl. Filmausschnitt: 00:08:53 – 00:10:00.

Literatur:

Amberg, George: Art, Films, And „Art Films“, in: Magazine of Art, 3 (1952), S. 124–133. Bossurt, Muriel: Paul Haesaerts, in: Philippe Dubois und Edouard Arnoldy (Hrsg.): Ça tourne depuis cent ans. Une histoire du cinéma francophone de Belgique, Brüssel 1995, S. 70‑71. Czeczot-Gawrak, Zbigniew: Le Film sur l’art en tant que nouvelle forme de la critique artistique, in: Polish Art Studies, 1 (1979), S. 131-146. Dinkelspühler, Bruno: Der Film und die moderne Malerei, in: Camera, 1 (1951), S. 28-29. Jacobs, Steven: Framing Pictures. Film and the Visual Arts, Edinburgh 2014. Jacobs, Steven und Dimitrios Latsis: Introduction: the mid-century celluloid museum, in: Steven Jacobs, Birgit Cleppe und Dimitrios Latsis (Hrsg.): Art in the Cinema. The Mid-Century Art Documentary, London et al. 2020, S. 1–38. Jacobs, Steven und Joséphine Vandekerckhove: Picturing Picasso: Revisiting Paul Haesaerts’s Visite à Picasso (1950), in: Temenuga Trifonova (Hrsg.): Screening the Art World, Amsterdam 2022, S. 235–251. Hagenbölling, Heide: Pablo Picasso in Documentary Film. A Monographic Investigation of the Portrayal of Pablo Picasso and His Creative Work in Documentary Films 1945-1975, Frankfurt am Main 1988. Haesaerts, Paul: Da Renoir a Picasso, übers. u. eingeleitet von Umbro Apollonio, Rom o. J. Laer, Robert van: Der Kulturfilm der Welt. Anregungen und Berichte aus 16 Staaten. Belgien, in: Filmkunst, 8 (1951), S. 21. Maes, Céline: Paul Haesaerts et le film sur l’art: pour un «cinéma-critique», in: Valentine Robert, Laurent Le Forestier, François Albera (Hg.): Le Film sur l’art. Entre histoire de lart et documentaire de création, Rennes 2015, S. 153–164. Penrose, Roland: Picasso. Leben und Werk, München 1961. Sadoul, Georges: L’art est-il anecdote ou réalité ? Films sur l’art : le Paradis perdu d’Emmer et Grass; De Renoir à Picasso de Paul Haesaerts; Gauguin de Resnais et Diehl; Guernica de Resnais, Hessens et Paul Éluard, in: 1895, 3 (2021), S. 194-200. Zurbuch, Werner: Bildende Kunst und Filmkunst, in: Geist und Zeit, 3 (1960), S. 146–148.

Text: Jacqueline Katharina Weiß

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig


Andrei Tarkowski, Andrei Rublev (1965/66)

Der lang ersehnte Klang einer Glocke durchbricht die Stille einer verheißungsvollen Gespanntheit. Boriska (Nikolai  Burljajew) der den Prozess des Glockengießen überwacht hat, kniet von seinen Anstrengungen völlig geschwächt und den Blick auf den Boden gewandt, auf den Boden im Schlamm, während der hohe Auftraggeber auf die neu geschaffene Glocke blickt. Eine Kamerafahrt führt in den Himmel, von wo aus der Ort des Geschehens gezeigt wird. Die erschöpften Arbeiter sind wie die Personage eines Gemäldes reglos erstarrt. Die Glockenschläge rufen Jubel hervor und immer mehr Menschen strömen in Richtung der Glocke. Das Leben Boriskas wird verschont. Mit der Vollendung des Bronzegusses, die mit dem Klang der Glocke ‚eingeläutet‘ wird, ist seine Kunst anerkannt.

Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow, SU 1966, Farbfilm/S/W, 205 Min., Filmausschnitt.

Der sowjetische Regisseur Andrei Tarkowski zeigt in seinem Film Andrei Rublev (1965/66) in welchem Verhältnis der Künstler zu der Gesellschaft, dem zeitlichen Kontext und dessen Realität steht.[1] Der Film ist in mehrere Abschnitte gegliedert, die den Ikonenmaler Rublev (Anatoli Solonizyn) zeigen und ihn im Prozess des Malens begleiten. Diese Unterteilung kann in einen „Prolog, acht ‚episodische Novellen‘, […] einen Epilog und eine Schlußeinstellung“ gegliedert werden.[2] Die „episodischen Novellen“ sind jeweils mit dem Titel der Episode und der Jahreszahl der gezeigten Handlung versehen.[3] Die genannte Szene gehört zu der Episode Kalakoll, 1423 (Die Glocke. Das Jahr 1423), die an das Ende des Filmes gestellt ist.

Der Film ist fast ausschließlich in schwarzweiß gedreht, lediglich die letzten beiden Abschnitte werden in Farbe gezeigt. So ist die Schlusseinstellung allein der Ikonenmalerei Rublevs gewidmet, die erst hier zur Geltung kommt, während in den vorigen Episoden von dieser nur gesprochen wurde. Die Episode der Glockengießerei, illustriert den spirituellen Aspekt, der in Tarkowskis Filmen von essenzieller Bedeutung ist. Neben der Bedeutung natürlicher Ressourcen, die Boriska äußerst zeitaufwendig für den Vorgang der Glockengießerei zusammensucht, thematisiert der Film die Verbindung zu den Elementen der Erde und macht darüber die Notwendigkeit der ‚Erdung‘ deutlich.[4] Die Glockengießerei kann in all ihren Schritten mitverfolgt werden.[5] Zugleich ist die Szene eine Allegorie auf das Wunder der Reinkarnation.[6]  Rublev hat seine künstlerische Kraft wiedergefunden.[7] Diese strahlt auch auf den Regisseur zurück. Die Ikonenmalerei Rublevs (sowie die Schwierigkeit des Glockengusses), sein Hadern und Zweifeln, korrespondiert mit der Herstellung des Films.[8] Versucht Tarkowski in Andrei Rublev gar, das Substantielle der Ikonenmalerei, als essentiellen Faktor einer Ästhetik des Filmbildes aufzufassen?

Anmerkungen:

[1] Vgl. Hensel 2006, S. 220-221.

[2] Ebd., S. 220.

[3] Ebd. Hensel zit. n. Andrej Tarkwoskij, Martyrolog II. Tagebücher 1981-1986, Berlin 1991, S. 38.

[4] Vgl. Dalle Vacche 1996, S. 153.

[5] Vgl. Hensel 2006, S. 228.

[6] Vgl. ebd., S. 227.

[7] Vgl. ebd., S. 229.

[8] Vgl. Dalle Vacche 1996, S. 138.

Literatur:

Angela Dalle Vacche, Cinema and Painting. How Art Is Used in Film, Austin 1996, S. 135-160.

Yevheniya Genova, Zur Verwendung von Literatur, Malerei, Architektur und Landschaft im russischen Kino. Filmkünstlerische Strategien in den Filmen Andrei Tarkowskijs und Sergej Eisensteins, Paderborn 2017.

Thomas Hensel, Der Regisseur als Autor als Maler zu Andrej Tarkowskijs Poetik einer Interikonizität, in: ders. u.a. (Hg.), Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006, S. 217-255.

Konrad Onasch, Das Problem des Lichtes in der Ikonenmalerei Andrei Rublevs, Berlin 1962.

Text: Anna-Maria Dergay

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig


Gustav Deutsch, Shirley: Visionen der Realität (2013)

Der von dem österreichischen Filmemacher Gustav Deutsch (1952-2019) gedrehte Film Shirley – Visionen der Realität (2013) ist ein filmisches Experiment, das die Grenzen zwischen Film und Malerei verwischt und die Betrachter*innen in eine visuelle Reise durch Gemälde Edward Hoppers (1882-1967), einem der bekanntesten amerikanischen Maler des 20. Jahrhunderts, entführt. Entlang der Gemälde erzählt der Film die fiktive Biografie einer emanzipierten Schauspielerin namens Shirley (Stephanie Cumming), die wir in ihrer Gedankenwelt durch das Amerika der dreißiger bis Mitte der sechziger Jahre begleiten. Den gesamten Film hindurch führt sie einen inneren Monolog, in dem sie sich mit beruflichen und gesellschaftspolitischen, aber auch existentiellen Fragen beschäftigt – insbesondere mit dem Problem der Unterscheidbarkeit von Inszenierung und Realität.

Edward Hopper, Hotelhalle, 1942, Öl auf Leinwand, 81,9 x 103,5 cm, Indianapolis Museum of Art, Indianapolis; Gustav Deutsch, Shirley: Visionen der Realität, 2013, Filmausschnitt.

In insgesamt dreizehn Episoden werden dreizehn Gemälde des Künstlers präsentiert, die in eine narrative Struktur verwoben und zum Leben erweckt werden. Der Regisseur nutzt Hoppers Gemälde als visuelle Vorlage und die spezifischen Eigenschaften des Mediums Film, um jede Einstellung präzise und detailgetreu nachzubilden. Für die Produktion des Filmes wurden die Szenerien in Hoppers Malerei anhand von Hintergrundgemälden, dreidimensionaler Modelle und bildhauerischer Objekte rekonstruiert. Durch geschickte Kameraperspektiven gelingt es ihm, die Kompositionen der Werke nachzuahmen. Dabei bleibt die Kameraposition immer gleich und es wird lediglich mit leichten Schwenks und Großaufnahmen gearbeitet, um die Perspektive des Gemäldes nicht zu verfälschen. Zudem achtet Deutsch sorgfältig auf die Proportionen, die Farbpalette und die Lichtsetzung, um eine visuelle Atmosphäre zu schaffen, die den Stil und die kühle, melancholische Stimmung von Hoppers Arbeiten auszeichnen. Eine ungewohnte Verbindung von Malerei und Film, die eine filmästhetisch außergewöhnliche Erfahrung freisetzt. Durch die Verwendung von Sprache, Musik und Ton sowie Kamerabewegung und Einstellungswechsel wird den Tableaux vivants eine zusätzliche Dimension hinzugefügt, deren emotionale Resonanz somit nur noch verstärkt wird.

Shirley – Visionen der Realität ist mehr als nur eine Hommage gegenüber der Malerei Hoppers. Deutsch übersetzt die Ästhetik Hoppers in die Sprache des Films und entfaltet darüber eine eigenständige künstlerische Vision,[1] die über den Umweg der Malerei neue Perspektiven für die Wahrnehmung von Film und Malerei freisetzt.


[1]  Vgl. Bazin, André: Malerei und Film, in: Fischer, Robert (Hg.): ders., Was ist Film?, Berlin 2004, S. 224-230, hier S. 228.

Text: Lisa Eisenlohr

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig

Paul Haesaerts, Visite à Picasso (1950)

Bezoek aan Picasso (Besuch bei Picasso)[1] ist ein 21 minütiger Kurzfilm des belgischen Kunsthistorikers und Filmemachers Paul Haesaerts. Schauplatz des Films ist Pablo Picassos Atelier in Vallauris, Frankreich, in dem der Filmemacher den Künstler besucht.

Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Aufzählung einzelner Ausstellungsplakate, gefolgt von einer Übersicht mit Ausstellungskatalogen und Monographien, die sich dem Werk Picassos widmen. Daran anschließend gibt Haesaerts einen Überblick über Picassos Schaffen von 1895 bis 1940. Dazu werden zu den entsprechenden Zeitabschnitten jeweils verschiedene Ausschnitte aus seinen Werken abgebildet. Abgesehen von dieser kurzen Vorstellung des Künstlers, wird im Film kaum gesprochen. Hiernach folgt der ,Besuch‘ bei Picasso. Im Anschluss auf eine Totale, die die französische Gemeinde zeigt, sehen wir den Künstler, wie er sein Atelier betritt.

Zwischen den einzelnen Szenen, in denen Picasso beim Malen oder beim Präsentieren seiner Skulpturen zu sehen ist, werden weitere Bilder (zumeist Zeichnungen) eingeblendet, die das jeweilige Motiv (Ziege, Taube, Stier) aufgreifen.[2] Den zentralen Aspekt des Films bilden jedoch Aufnahmen, in denen Picasso – für den Film – auf eine Glasscheibe malt. Die Bilder, bzw. der Prozess des Malens bleibt unkommentiert und wird lediglich mit Musik unterlegt, wodurch der Prozess des Malens selbst in den Vordergrund gerückt wird.

Paul Haesaerts, Bezoek aan Picasso, Frankreich 1950, S/W, 21 Minuten, Filmausschnitt.

Die Glasscheibe, auf der Picasso malt, ist zwischen Kamera und Künstler aufgestellt und dient als Träger für die weiße Farbe, die durch den Kontrast zur dunkleren Umgebung besonders gut sichtbar ist. Dieser Effekt wird noch gesteigert, indem Picasso gegen Ende des Films in einem völlig abgedunkelten Raum zu sehen ist, wobei die hellen Pinselstriche wie das per Langzeitbelichtung festgehaltene Licht einer Taschenlampe anmuten (vgl. das Header-Video). Beinahe scheint es so, als ob Picasso die weißen Linien direkt in den Raum hineinmalen würde. Durch die Beschaffenheit des gewählten Materials, ist es den Zuschauenden möglich, jede Handlung Picassos während des Malprozesses zu verfolgen. Sowohl seine Gestik als auch seine Mimik wird dokumentiert. Der Fokus wird ganz auf den Akt der Malerei gelegt. Anders formuliert: der Künstler und sein künstlerisches Genie[3] stehen im Vordergrund und nicht seine fertigen Werke. Es scheint fast so, als ob sich Haesaerts mit seiner filmischen Hommage respektvoll vor dem Künstler verneigt.[4]

Erwähnenswert ist die Verwandtschaft zu Henri-Georges Clouzots späteren Film Le Mystère Picasso (1956).[5] Indem Clouzot Picasso auf einer transparenten Leinwand malen lässt, scheint er die Idee Haesaerts aufgegriffen und weiterentwickelt zu haben.

Anmerkungen

[1] Paul Haesaerts, Bezoek aan Picasso, Frankreich 1950, S/W, 21 Minuten.

[2] Filmausschnitt: 00:07:20 – 00:08:31

[3] Jacobs, Steven; Vandekerckhove, Joséphine, Picturing Picasso. Revisiting Paul Haesaerts´s Visite à Picasso (1950), in: Temenuga Trifonova (Hg.), Screening the Art World, Amsterdam, 2022, S. 243.

[4] Dalle Vacche, Angela, André Bazin´s Film Theory. Art, Sience, Religion, Oxford, 2020, S. 52.

[5] Henri-Georges Clouzot, Le Mystère Picasso, Frankreich 1956, Farbfilm/S/W, 75 Minuten.

Literatur

Jacobs, Steven; Vandekerckhove, Joséphine, Picturing Picasso. Revisiting Paul Haesaerts´s Visite à Picasso (1950), in: Temenuga Trifonova (Hg.), Screening the Art World, Amsterdam 2022, S. 235–252.

Bernadac, Marie-Laure; Breteau-Skira, Gisèle, Paul Haesaerts. Visite à Picasso, in: dies. (Hg.), Picasso à l´écran, Paris 1992, S. 41–46.

Text: Meike Winde

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig


Harun Farocki, Das Silber und das Kreuz (2010)

Farockis Film Das Silber und das Kreuz (2010) wurde als Beitrag für die von Alice Creischer, Andreas Siekmann und Max Jorge Hinderer kuratierte Wanderausstellung Das Postosí-Prinzip entwickelt, die 2010 zuerst im Museo Reina Sofía in Madrid und dann im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt wurde. Der Film handelt von dem Werk Beschreibung des Cerro Rico und der kaiserlichen Stadt Potosí von Gaspar Miguel de Berrío aus dem Jahr 1758 (Gaspar Miguel des Berrío, Beschreibung des Cerro Rico und der kaiserlichen Stadt Potosí, 1758, Öl auf Leinwand, 262 x 181 cm, Museo Colonial Charcas de la Universidad San Francisco Xavier, Sucre.) Das Panoramagemälde zeigt den Berg Cerro Rico sowie die an seinem Fuß gelegene Stadt Potosí (Bolivien). Der Film präsentiert verschiedene Detailaufnahmen des Gemäldes, die mit einem Kommentar aus dem Off versehen werden. Korrespondierend dazu, werden vereinzelt Aufnahmen des heutigen Potosí gezeigt, die zum Vergleich mit dem Gemälde einladen.

Auffällig ist, dass das Videobild zudem als Split-Screen erscheint: Auf der linken Hälfte des Bildschirms zeigen sich andere Ausschnitte als auf der rechten Hälfte. Dadurch entstehen immer wieder Vergleichssituationen zwischen Ausschnitten aus dem Gemälde (Vergangenheit) und solchen aus der Stadt (Gegenwart).

Harun Farocki, Das Silber und das Kreuz, D 2010, 2-Kanal-Video-Installation, Farbe, 17 Min., Filmausschnitte.

Farocki stellt in seinem Film dem Damaligen das Heutige gegenüber. Er beleuchtet die Ausbeutung der südamerikanischen Bevölkerung am Beispiel der Zwangsarbeit in den Silberminen. Dies tut er nicht durch das frontale Vermitteln von Wissen und Fakten, sondern indem er sich detektivisch an das Werk herantastet: Er sucht das Bild ab und zeigt Parallelen auf. Seine Montage ermöglicht es, Zusammenhänge zwischen dem Gesagtem und dem Gezeigtem herzustellen und dennoch Raum für Interpretationen und Schlussfolgerungen der Betrachter zu lassen.  

Literatur/Links:

Alice Creischer, Andreas Siekmann und Max Jorge Hinderer (Hg.), Das Potosi-Prinzip. Wie können wir das Lied des Herrn im fremden Land singen? Koloniale Bildproduktion in der globalen Ökonomie, Ausst.kat. Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Köln 2010; Alice Creischer, Andreas Siekmann (Hg.), Potosí Principle-Archive, 4 Bde., Köln 2022; Nikolaus Perneczky, Ursprüngliche Akkumulation. Zur Ausstellung Das Potosí-Prinzip im Berliner Haus der Kulturen der Welt, in: Cargo, 8, Dezember 2010, S. 37–39, URL: https://www.cargo-film.de/heft/8/anderes-kino/ausstellung/ursprungliche-akkumulation/ (08.07.2023); o.A., Gallerie àngels Barcelona: The Silver and the Cross, URL: http://angelsbarcelona.com/en/artists/harun-farocki/projects/the-silver-and-the-cross/214 (30.05.2023); o.A., Johann Jacobs Museum Zürich: Das Familiensilber. Vom Elend und Abglanz der Dinge, URL: https://johannjacobs.com/de/formate/das-familiensilber-mit-einem-film-von-harun-farocki/ (29.05.2023); Website des Künstlers: https://www.harunfarocki.de/de/installationen/2010er/2010/das-silber-und-das-kreuz.html (08.07.2023).

Text: Nicole Jager

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig

Akira Kurosawa, Dreams (1990)

Akira Kurosawa’s Dreams ist ein im Jahre 1990 gedrehter Film des im Titel genannten japanischen Kult-Regisseurs. Der Film basiert auf den Träumen Kurosawas, die in episodischer Folge szenisch nachgebildet werden.

Die insgesamt acht chronologisch angeordneten Träume werden aus der Perspektive des von Traum zu Traum zusehends älter werdenden Protagonisten erzählt. Zugleich behandelt Kurosawa die Geschichte Japans im 20. Jahrhundert. Seine Träume setzten sich mit Themen wie Mythologie, Krieg, Umwelt und Tod auseinander. Letzterer wird in jedem Traum entweder direkt, wie im vierten Traum „Der Tunnel“, oder indirekt, wie im fünften Traum „Krähen“, thematisiert. Besonders diese Episode sticht heraus. Kurosawa tauscht dort den japanischen Schauplatz gegen einen europäischen aus. Die Zuschauer folgen Kurosawa durch Landschaften, die aus Werken Van Goghs gebildet sind. Ausgehend von einem Museumsbesuch, bricht Kurosawa die Grenzen der Malerei auf und ‚betritt‘ eine Welt, die in das Europa des 19. Jahrhunderts führt. Der Traum endet mit dem Gemälde Kornfeld mit Krähen (1890), das immer wieder mit dem kurz darauf folgenden Suizid Van Goghs in Verbindung gebracht wird.

Vincent van Gogh (1853- 1890), Krähen über dem Kornfeld, Juli 1890, Öl auf Leinwand, 50,5 x 103 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam; Akira Kurosawa, Akira Kurosawa’s Dreams, US/JP 1990, Farbfilm, 119 Min., Filmausschnitt.

Auch der achte und letzte Traum „Das Dorf mit den Wassermühlen“ sticht heraus. Der Protagonist besucht ein altes japanisches Dorf und trifft auf einen alten Mann. Das Auffallende ist jetzt die Direktheit in der der Alte – es ist Kurosawa selbst – seine Gedanken mitteilt. In einem für den Rest des Films untypisch direkten Dialog, wird über den Umgang mit Natur und Tod gesprochen. Der Film endet mit einer längeren Aufnahme eines Flusses, über den der Abspann läuft. Desson Howe schrieb in seiner Washington Post Rezension dazu passend: „Dreams ends on water, the one metaphor that has intrigued almost all the cinematic masters. After a lifetime of work, Kurosawa sees everything as perpetual flow: here now, gone tomorrow, back again in some other life.

Literatur/Links

Desson Howe, [Rezension] Akira Kurosawa’s Dreams, (Japan 1990), in: Washington Post, (1990), URL: https://www.washingtonpost.com/wp-srv/style/longterm/movies/videos/akirakurosawasdreamspghowe_a0b29a.htm, (13.06.2023).

Hans J. Wulff, Ins Bild gehen – Ein semiotisches Spiel. Die Krähen-Episode aus Yume (aka: Konna Yume wo Mita, dt.: Akira Kurosawas Träume, 1990) und andere Beispiele aus der Filmgeschichte, in: Henry Keazor u.a. (Hg.), Filmkunst. Studien an den Grenzen der Künste und der Medien, Marburg 2011, S. 211–224.

Text: Wesley Jenkins López

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig

Jean-Luc Godard, Passion (1982)

Der französisch-schweizerische Regisseur Jean-Luc Godard gilt als Mitbegründer der Novelle Vague, einer Strömung des französischen Kinos mit revolutionären Neuerungen für den Film die sich gegen die eingefahrene Bildsprache und den vorhersagbaren Erzählfluss des etablierten kommerziellen Kinos wandte.[1] Viele Filmemacher dieser neuen Strömung und Stilrichtung waren zu anfangs Filmkritiker für Cahiers du cinéma. Als ein programmatischer Text der Nouvelle Vague gilt François Truffauts Artikel Eine gewisse Tendenz im französischen Film (1954), in dem er die Abkehr von der‚ „Tradition der Qualität“ fordert, die sich in der Vorherrschaft einiger weniger Drehbuchautoren äußere, die literarische Werke adaptieren und dabei laut Truffaut immer die gleichen Geschichten erzählen.[2] Diese Tradition der Qualität, müsse von einem Kino der Autoren abgelöst werden, bei dem die Kontrolle über und die Verantwortung für den entstehenden Film, nicht bei den Szenaristen, sondern allein bei den Regisseuren liege.[3]

Die Novelle Vague zeichnete sich durch bis dato ungekannte Freiheiten im Film, wie z.B. ungewohnte Schnitte, Jump Cuts und die direkte Ansprache des Publikums aus. Es wurde vermehrt mit Handkameras gedreht und die Dialoge wurden teils improvisiert oder erst kurz vor dem Dreh an die Schauspieler:innen weitergegeben. Godard legte zudem großen Wert darauf, dass die Bedeutung von Bild und Ton gegenüber Drehbuch und Handlung prioritär behandelt wird.

Jean-Luc Godard, Passion, F/CH 1982, Farbfilm, 83 Min., Filmausschnitt

In Passion lässt Godard den polnischen Regisseur Jerzy, einer Art alter Ego, welcher der Solidarnosc-Bewegung nahesteht, Tableaux vivants berühmter Gemälde in Szene setzen. Jerzy dreht in der französischen Provinz einen Film, dessen zentrales Merkmal die Darstellung von reinszenierten Kunstwerken Delacroix‘, Rembrandts, Goyas und weiteren Künstlern ist. Um den Dreh dieser Tableaux vivants herum ist die Rahmenhandlung gespannt, welche sich aus den Problemen ergibt, die die beteiligten Charaktere und vor allem der Regisseur bei der Umsetzung haben. Der Regisseur beklagt, von beginn der Dreharbeiten an, die Lichtverhältnisse, die ihn offenbar daran hindern, die Gemälde ins Medium des Films übersetzen zu können.[4] Jerzy rekrutiert die Darsteller:innen aus einer lokalen Fabrik in der – bis vor kurzem – die Arbeiterin Isabelle (Isabelle Huppert) angestellt war. Dieser wurde nach einem Streit um bessere Arbeitsbedingungen gekündigt. Die Protagonist:innen bewegen sich allesamt in dem lokalen Umfeld des Filmdrehs. Hanna (Hanna Schygulla), die Besitzerin der Unterkunft in der Jerzy verweilt und mit der er eine Affäre hat, ist die Frau des Fabrikbesitzers Michel (Michel Piccoli), dessen taubstumme Nichte als Badende in der Rekonstruktion eines Gemäldes von Ingres eine Rolle erhält. Isabelle verkörpert eine träumerische junge Frau, die ihre Anstellung in der Fabrik verliert und für den Verbleib protestiert. Sie spricht von der Arbeit als Lebensrecht. Godard vermengt so die beiden zentralen Punkte Arbeit und Kunst. Der kreative und schöpferische Aspekt in der Kunst, z.B. die Reinszenierung der Gemälde von Rembrandt, Goya, Ingres, Delacroix und El Greco, auf der anderen Seite steht die Arbeit in der Fabrik, als Lebensrecht und dass Scheitern durch den Rauswurf der Arbeiterin durch den Fabrikbesitzer.

Anmerkungen:

[1] Kregel, Marko, Vacano, Jost, Die Kamera als Auge des Zuschauers. Marburg 2005. S. 232.

[2] François Truffaut, Eine gewisse Tendenz im französischen Film, in: Theodor Kotulla (Hg.), Der Film, Manifeste, Gespräche, Dokumente, Bd. 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 116−131, hier S. 128f.

[3] Ebd.

[4] Prange, Regine, Das Tableau vivant als Metapher des Videobildes. Zur Utopie des postkinematografischen Kinos in Godards Passion, Vortrag am Deutschen Filmmuseum, Frankfurt, abrufbar unter: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/5121/

Literatur/ Links:

Paech, Joachim, Passion. Oder die Einbildung des Jean-Luc Godard, Frankfurt/M. 1989.

Prange, Regine, Das Tableau vivant als Metapher des Videobildes. Zur Utopie des postkinematografischen Kinos in Godards Passion, Vortrag am Deutschen Filmmuseum, Frankfurt, abrufbar unter: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/5121/

Siehe auch das von Regine Prange geleitete Forschungsprojekt am Kunstgeschichtlichen Institut: https://www.kunst.uni-frankfurt.de/106181098/Malerei_im_Film__das_Beispiel_Godard

Siehe auch die zugehörige Bildsammlung: https://kor.uni-frankfurt.de/#/groups/admin/861

Text: Dennis Bruns

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig


Dorota Kobiela und Hugh Welchman, Loving Vincent (2017)

Loving Vincent ist ein Animationsfilm, der 2017 unter der Regie von Dorota Kobiela und Hugh Welchman als polnisch-britische Koproduktion gedreht wurde. Der 94-minütige Film widmet sich dem Leben des berühmten niederländischen Künstlers Vincent van Gogh, wobei insbesondere die Umständen seines Todes näher beleuchtet werden.            

Die visuelle Gestaltung von Loving Vincent sticht dadurch heraus, dass sie den Stil der Malereien van Goghs filmisch adaptiert. Jede einzelne Szene des Films wurde von einem Team von über 50 Künstler:innen gemalt. Diese studierten die Technik und Optik der Gemälde van Goghs: die Zerlegung der Motive in einzelne Pinselstriche, die charakteristische Farbpalette.

Im Film fließen die (gemalten) Bilder nahtlos ineinander über und erschaffen eine lebendige, surreale Welt, die sich inhaltlich mit dem Tod Vincent van Goghs auseinandersetzt. Ein junger Mann namens Armand Roulin wurde beauftragt einen Brief von van Goghs, welcher erst ein Jahr nach dessen Tode auftauchte an dessen Bruder Theo zu überbringen. Auf seinem weg trifft Roulin verschiedene Bekannte van Goghs, die er über ihre Begegnungen mit dem Künstler befragt. Während er mit jedem Gespräch tiefer in das Leben und die Gefühlswelt des Künstlers eintaucht, wächst die Ahnung heran, dass mehr hinter van Goghs tragischer Geschichte stecken könnte, als zunächst angenommen wurde.

Visuell einnehmend bleibt insbesondere die einzigartige Darstellungsweise auf Grundlage von 65.000 eigens für den Film angefertigten Ölgemälden, die hier filmisch animiert wurden. Dennoch wurde jede einzelne Szene mit echten Schauspielern gedreht, so dass der Film sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch auf der Ebene der Produktion Malerei und Film miteinander vermischt.

Literatur/ Links:

Loving Vincent in Munzinger Online/Film – Kritiken aus dem FILMDIENST, URL: http://www.munzinger.de.proxy.ub.uni-frankfurt.de/document/10000045159 (abgerufen von Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg am 27.5.2023

Robertson, Barbara: Painterly Impression. Artists at BreakThru films create an animated exploration of Vincent Van Gogh’s last days using the artist’s own paintings. Computer Graphics World, 2017. Vo. 40. Issue 5, S. 6-9.

Mackiewicz, Lukasz und French Melendez, Loving Vincent. Guiding painters through 64.000 frames, in: ACM SIGGRAPH 2016 Talks, ACM Digital Library, New York 2016, URL:  https://dl.acm.org/doi/10.1145/2897839.2927394 (abgerufen am 27.5.2023)

Siehe insbesondere das Interview und Making-of zum Film: Der erste Animationsfilm aus Ölgemälden, Deutsche Welle, 2018, URL: https://www.euscreen.eu/item.html?id=EUS_CC6DBC583C7A68DEC7F53E2780846887

Text: Kristina Ernst

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig

Peter Greenaway, Rembrandt’s J’Accuse (2008)

Die Nachtwache von Rembrandt gilt als eines seiner berühmtesten Gemälde. Es zeigt ein militärisches Gruppenbild, welches einige Geheimnisse, sogar Hinweise auf einen Mord birgt. In seinem Film Rembrandt’s J’Accuse[1](2008) untersucht der Regisseur und Künstler Peter Greenaway das Gemälde in einem historischen Kontext mit einer beinahe forensischen Herangehensweise. Diese Dokumentation kann als Zusatz oder Ergänzung zu Greenaways Spielfilm Nightwatching – Das Rembrandt-Komplott (2007) gesehen werden.

Greenaway behauptet, die Menschen hätten durch einen übermäßigen Fokus auf Sprache und Schrift das Betrachten und Analysieren von Gemälden verlernt. In diesem Sinne zeigt er dem Publikum mit seinem Film, wie viel in einem Gemälde entdeckt werden kann, wenn sich die Zeit genommen wird, sich tiefer damit auseinanderzusetzen. Den Großteil des Filmes spricht Greenaway aus dem Off, im Hintergrund spielt klassische Musik, während verschiedene Gemälde gezeigt werden. Hierbei bewegt sich die Kamera über die Gemälde, zoomt herein und heraus. Die Gemälde füllen nicht immer den gesamten Ramen des Bildschirms aus, sondern werden oft über andere Aufnahmen gelegt, was dem Film eine gewisse Dynamik verleiht. Gelegentlich wird Greenaway selbst über dem Gemälde in einem kleinen Quadrat eingeblendet. Er sitzt vor schwarzem Hintergrund und wendet sich direkt dem Publikum zu. Hier könnte kritisiert werden, dass dadurch die jeweiligen Gemälde nicht in ihrer Gänze zur Geltung kommen. Jedoch ist anzumerken, dass die Gemälde nicht vorrangig als Kunstwerke im Fokus des Films stehen. Vielmehr entfaltet der Film eine (Kunst-)Geschichtsstunde mit dem Thema der kriminalistischen Aufarbeitung einer Verschwörung, an deren Ende der Mord an dem Hauptmann Pers Hasselburg steht. Die Kunstwerke wirken dabei als Fenster in die Vergangenheit. Einige der historischen Szenen sind durch Schauspieler nachgestellt. Wie in einem Krimi gibt es Verhöre, in denen Greenaway die einzelnen Charaktere zu den Ereignissen und Spekulationen befragt.[2] Die Charaktere sitzen dabei frontal dem Publikum zugewandt, Greenaway selbst wird bei den Befragungen wieder eingeblendet. Diese Inszenierung erweckt den Anschein als seien die Betrachter selbst in die historische Spurensuche Greenaways involviert.

Anmerkungen:

[1] Deutscher Titel: Rembrandts Nachtwache – Geheimnisse eines Gemäldes

[2] Filmausschnitt, Minute 00:22:39 – 00:23:52: Verhör von Rembrandts Frau Saskia van Rijn, und zwei Dienerinnen.

Literatur/ Links:

Bauer, Matthias, Die Nachtwache als Bilderrätsel und Tagtraum. Diagrammatische Operationen bei Rembrandt und Greenaway, in: Alexander Hornold & Ralf Simon (Hg.), Das erzählende und das erzählte Bild, München 2010, 441-498; Braun, Micha, In Figuren erzählen. Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway, Bielefeld 2012; Fleckner, Uwe: Der Körper als Kunstwerk. Peter Greenaways “The physical self” und die Grenzen bildlicher Repräsentation, Berlin 2018; Greenaway, Peter, Nightwatching. A view of Rembrandt’s The night watch, Rotterdam, 2006; Jacobson, Harlan, Every Picture Tells a Story, in: Film Comment, Vol. 45 Issue 1 (2009), 20-21; Kauffmann, Stanley, A Painting, a Portrait, in: The New Republic, Vol. 240 Issue 21 (2009), 28-29; Paech, Joachim, Die Nachtwache, Analog (Godard) und digital (Greenaway), URL: http://www.joachim-paech.com/wp-content/uploads/2018/08/Die-Nachtwache-analog-und-digital.-2015.pdf; Sterritt, David, Rembrandt’s J’Accuse, in: Cinécaste, 35 (2010), 66-67.

Text: Celine Bergmann

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig


Lech Majewski, Die Mühle und das Kreuz

Lech Majewski verfilmte 2011 die gleichnamige Buchvorlage von Michael Francis Gibson. Młyn i krzyż stellt das 1564 entstandene Gemälde Die Kreuztragung Christi[1] von Pieter Bruegel d.Ä. filmisch nach und zeigt in den Haupt- und einzigen Sprechrollen den Maler (Rutger Hauer), den Auftraggeber (Michael York) und die Mutter Maria (Charlotte Rampling). Der Film führt den Blick in die Tiefe des Bildes, wie es dessen landschaftliche Motivik schon erlaubt, doch die Geschehnisse werden auch aus Winkeln und Schauplätzen heraus betrachtet, die das Gemälde selbst nicht bietet, die Zweidimensionalität des Gemäldes wird aufgebrochen bzw. filmräumlich erweitert. Die Figuren vor den digitalisierten Malereien wirken collagiert, ihre Bewegungen reduzieren sich zumeist auf ein Minimum, was an den erstarrten Charakter der Malerei erinnert. Davon ausgenommen sind die Hauptrollen, welche sich durch Dialoge und einen natürlich anmutenden Habitus von den übrigen Statistenfiguren absetzen, doch auch dadurch, dass sie von der Menge nicht beachtet werden. Dies lässt sie als Zuschauerfiguren im eigenen Geschehen erscheinen. Getreu dem ursprünglichen Medium bleibt neben den natürlichen Geräuschen, die auch beim Betrachten des Gemäldes erahnt werden könnten, viel Zeit der Stille, in der die Wirkung des Raums bedacht werden kann. Eine Ausnahme bietet das rhythmische Rattern der Windmühlenflügel, welches beinahe immerwährend die Geräuschkulisse prägt. Bruegel setzt die Mühle an die oberste Stelle seines Gemäldes. Der Müller verfolgt das unabänderliche Treiben des Bildpersonals, während sich die Mechanik der Mühle – scheinbar gleichgültig gegenüber den grausigen Ereignissen –, knarrend und ächzend weiterbewegt. Das Flügelrad der Mühle symbolisiert ein sich drehendes Kreuz, das den Takt der Welt bestimmt. In den Worten des Malers: „die Achse, um die alle Menschen zwischen Leben und Tod kreisen.“

Pieter Bruegel d.Ä.: Die Kreuztragung Christi, Öl auf Eichenholz, 124 x 170 cm, 1564, Kunsthistorisches Museum Wien, www.khm.at/de/object/324/ & Lech Majewks, Młyn i krzyż, (dt. Titel: Die Mühle & das Kreuz), 2010, Filmausschnitt.

Der Maler Bruegel befindet sich skizzierend in eben der Landschaft, die Schauplatz für das im Entstehen begriffene Gemälde Die Kreuztragung Christi ist. Ein Trommler hat das scheinbar obligatorische Rattern der Mühle übernommen. Der kreuztragende Christus wird zu seiner Hinrichtungsstätte gebracht, rundherum versperrt schaulustiges Treiben die Sicht auf dieses zentrale Ereignis. Nicolaes Jonghelinck, der Auftraggeber des Gemäldes, tritt ins Bild und formuliert seinen Wunsch, die (imaginierte) Szene in einem Gemälde festhalten zu lassen.

Bruegel lässt das Rad der Mühle mit einem Wink zum „Großen Müller des Himmels“ stoppen. Die Mühle steht still und mit ihr auch die gesamte Szenerie. Es folgt eine horizontale Fahrt durch die erstarrte Menschenmenge, begleitet durch Kommentare des Malers. Der Anblick, der Jonghelinck so erschütterte, wird als Momentaufnahme festgehalten. Das zentrale, in der Fülle des Bildes jedoch beinahe versteckte Ereignis der Kreuzigung, das von niemandem verhindert wird, kann nun betrachtet werden. Młyn i krzyż veranschaulicht, welche Fragen sich Bruegel bei der Konzeption seines Gemäldes gestellt haben könnte. Vor allem aber weist der Film (wie auch das Gemälde) auf die verschiedenen Zuschauerebenen hin und spielt mit den Möglichkeiten, die diesen jeweils gegeben sind, sei es um einzuschreiten, teilzuhaben oder (nur) zu beobachten.


Anmerkungen:

Młyn i krzyż, (dt. Titel: Die Mühle & das Kreuz), Polen/ Schweden, 2010, 92min., Regie: Lech Majewksi, Drehbuch: Michael Francis Gibson u. Lech Majewski.

[1] Pieter Bruegel d.Ä.: Die Kreuztragung Christi, Öl auf Eichenholz, 124 x 170 cm, 1564, Kunsthistorisches Museum Wien, www.khm.at/de/object/324/

Literatur:

Atkinson, Michael: [Rezension von:] Lech Majewski u. Michael F. Gibson: The Mill and The Cross, Polen/Schweden, 2010, in: Cinéaste, 4 (2012), S. 63-64; Breteau Skira, Giséle: Bruegel – Le Moulin et La Croix. Un film de Lech Majewski, Biarritz 2011; Frieden, Helmut u.a. (Hgg.): Geschichten des Augenblicks. Über Narration und Langsamkeit, Ostfildern-Ruit 1999; Korte, Helmut u. Johannes Zahlten (Hgg.): Kunst und Künstler im Film, Hameln 1990; Power, Dominic: Brueghel’s Cinema: Sound and Image in The Mill and the Cross. A conversation with Lech Majewski, in: The New Soundtrack, Bd. 1 Heft 2 (2011), S. 147-156; Thiele, Jens: Das Kunstwerk im Film. Zur Problematik filmischer Präsentationsformen von Malerei u. Grafik, Bern 1976; Hans J. Wulff, Ins Bild gehen – Ein semiotisches Spiel. Die Krähen-Episode aus Yume (aka: Konna Yume wo Mita, dt.: Akira Kurosawas Träume, 1990) und andere Beispiele aus der Filmgeschichte, in: Henry Keazor u.a. (Hg.), Filmkunst. Studien an den Grenzen der Künste und der Medien, Marburg 2011, S. 211–224.

Text: Cleo Timmermann

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig

Vincente Minelli, Lust for Life

Vincente Minnelli widmet sich mit seinem Film Lust for Life (1956) dem Leben und Schaffen Vincent van Goghs. Die Darstellung seiner Biografie wird entlang einer Auswahl von Kunstwerken entfaltet, die somit zu einem wesentlichen Bestandteil der Narration werden. Im Zentrum des Films steht der Versuch, van Gogh mitsamt seinen Problemen und Sorgen, aber auch seiner Leidenschaft für die Malerei, wiedergeben zu können. Ausgangspunkt dieser psychologisierenden Perspektive auf den Künstler ist das dramatische und gestenreiche Spiel von Kirk Douglas, der mit einer kaum minder ausgeprägten Leidenschaft in die Rolle des Malers schlüpft.

Die Betrachter:innen erhalten während des Films immer wieder Einblicke, sowohl in van Goghs Gedanken – geäußert in Form von Briefen an seinen Bruder Theo – als auch in Prozesse seines künstlerischen Schaffens, welches stets von lebhafter und spannungsvoller Musik untermalt wird. Während zu Beginn des Films noch einfarbige und skizzenartige Bilder auf Papier überwiegen, werden später detail- und farbenreiche Landschaften und Porträts gezeigt. Dabei lädt der Film zum direkten Vergleich zwischen der durch die Kamera eingefangenen Realität und dem Seheindruck van Goghs ein, der sich in dessen Malerei niederschlägt. Für van Gogh ist die Malerei ein Mittel, die Natur einzufangen und für die Betrachter:innen des Bildes erfahrbar zu machen.1

In diesem Kontext stellt der Film die Frage danach, wodurch sich „gute“ Kunst auszeichnet und wie sehr die Farbauswahl oder das Bildmotiv zum Wert eines Werkes beitragen. Die Kohärenz zwischen den Lebensumständen des Künstlers und dessen Kunst werden im Film dadurch verstärkt, indem sich die Filmkulissen in ihrer Farbauswahl ändern. In der Zeit, in der van Gogh einfarbige Skizzen malt, ist auch die ihn umgebende Natur eher dunkel und eintönig, wohingegen seine späteren Werke in einer von prächtigen Farben umgebenen Natur entstehen.

Vincente Minnelli, Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft (Originaltitel: „Lust for Life“), 1956. Die folgende Betrachtung bezieht sich auf die Szene 1:13:44 bis 1:16:02.

Literatur/Links:

Bantleon, Katharina, Vincent van Gogh im Spielfilm: Leben und Werk des Künstlers in Vincente Minnellis Lust for Life, Graz 2008.

IMDb, Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft (Originaltitel: „Lust for Life“). (URL: https://www.imdb.com/title/tt0049456/?ref_=nv_sr_srsg_0_tt_8_nm_0_q_lust%2520for%2520life letzter Zugriff am 25. Mai 2023).

Kennedy,      Ellen      Conroy,      Lust      for      Life,      1956,      S. 255-256 (URL: http://www.jstor.org/stable/30187410 letzter Zugriff am 27. Mai 2023).

Text: Julia Müller

Redaktion: Gabriela Gietl und Thomas Helbig