Jean-Luc Godard

Was ist das Kino? (1952)

Wiedergabe aus: Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950–1970), übers. u. bearb. v. Frieda Grafe, München 1971, S. 28f., frz.: Qu’est-ce que le cinéma?, in: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, hg. von Alain Bergala, 2 Bde., Bd. 1: 1950–1984 und Bd. 2: 1985–1998, Paris 1998, Bd. 1, S. 84f.; zuerst: Les Amis du Cinéma, Nr. 1, 1952.

[siehe auch: Sophie Herrlein: Une femme coquette: Die Inszenierung des Augenblicks im Kino Jean-Luc Godards]

Godards lebenslange Auseinandersetzung mit der Frage „Was ist Kino?“ findet auch in seinem späteren Videoessay Histoire(s) du cinéma ihren Niederschlag:

Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma (1988-98), Kapitel 3A: La monnaie de l’absolu (Filmausschnitt)

In dem, unter Pseudonym (Hans Lucas), im Oktober 1952 in der Zeitschrift Les Amis du Cinéma unter dem Titel Qu’est-ce que le cinéma? (dt. Was ist das Kino?) veröffentlichten Artikel, stellt Jean-Luc Godard eine andere Frage als der Titel zunächst vermuten lässt. Stattdessen setzt der Text mit einer harschen Beurteilung der modernen Kunstkritik ein. „Falsche Argumente” führten zu einem „Bankrott der Gegenwartskunst“, der die Fähigkeit abhanden gekommen sei, ein „Porträt des Individuellen” zu zeichnen.

Auf die Frage Was ist die Kunst? antwortet die moderne Kritik nur mit Ausflüchten, sie hat ein wenig Angst vor ihren eigenen Illusionen. Entwerfen wir kurz deren Bild: ein erschreckendes Bild, in das sich der Bankrott der Gegenwartskunst im ganzen Umfang eingezeichnet hat. Sehen Sie nicht, daß sie das verworfen hat, was durch Jahrhunderte der Stolz der ganz großen Meister wie der geringeren Handwerker war: das Porträt des  Individuellen? Falsche Argumente folgten, um diese Exzesse zu rechtfertigen. Ist es nicht wirklich seltsam, daß man heute am späten Matisse die Feinheit des Strichs bewundert und lobt, die zu Zeiten Botticellis und Tizians, sogar noch Ingres‘ und Davids zum Handwerk des Malers gehörte?

Sicher kann man Aragons Mangel an Geschmack tadeln, gegen sein übertriebenes Lob der russischen Malerei aufbegehren, aber stimmen wir doch dem Autor der Libertinage zu, wenn er das verdammt, was er einst so zu verehren schien. Unser Mann erkennt zu genau die Versprechungen der modernen Kunst, um ihnen nicht zu mißtrauen. Metaphysik ist an der Tagesordnung. Sie ist die große Mode. Aber das sagt nichts über ihr wirkliches Vermögen. Ihretwegen sind die Ideen – wie die Frauen – bereit, sich häßlich zu machen. Das ist es, was die Jugend lächerlich macht, die Schönheit in Gefahr bringt. Die absurde Opposition des Künstlers gegen die Natur ist um so absurder, selbstgefälliger, als nichts davon bei Manet, noch bei Schumann, noch bei Dostojewski angelegt war. Armer Roman, dessen ganzer Ehrgeiz die Vieldeutigkeit ist! Arme Malerei, die sich Fesseln anlegt aus Angst vor der Ähnlichkeit! Mit einem Wort, uneingeschränktes Lob für Aragon, wenn er unsere Zeit und ihre Kunst betrauert, deren Moral tausendfach zu vieldeutig ist.

Kommentar: Godard bezieht sich hier auf das 1924 von Louis Aragon veröffentlichte Buch Le libertinage (dt. Die Ausschweifung), eine Sammlung mehrerer Erzählungen sowie zweier Theaterstücke. Mit seiner hymnischen Besprechung von Godards Pierrot le fou (1965) antwortete Aragon 1966 übrigens mit einer Gegenfrage: „Was ist Kunst, Jean-Luc Godard?“ Dass Godard die Frage danach, was das Kino sei, mit einer Kritik an der modernen Kunst pariert, lässt sich ähnlich auch bei Aragon verfolgen. Malerei und Kino zusammendenkend fragt sich der Dichter ebenfalls, was Kunst sei: Seine Antwort: „Jean-Luc Godard.” (siehe auch Aragons Text Dekor, [Link])

Wie! Würde man über eine so fromm realistische Kunst erröten, übers Kino, wenn nicht die böse Lust, die Welt zu verwandeln, an uns nagte? Aber hier besteht der schöpferische Akt darin, nicht die eigene Seele in den Dingen, sondern die Seele der Dinge zu malen. Welch kostbarer Moment in Jean Renoirs Madame Bovary, wenn Emma und Leon aus der Kirche kommen und wir plötzlich den Geruch der Steine atmen und mit ihm den schalen Glanz dieses Lebens in Rouen, die enttäuschten Ambitionen von Emma Bovary.

Kommentar: Erst in der zweiten Hälfte des knappen Aufsatzes kommt Godard auf den Film zu sprechen. Das Kino wird dort als eine „fromm realistische Kunst“ bezeichnet, die die Zuschauer über ihren Idealismus („die Lust, die Welt zu verwandeln”) ‘erröten’ lasse. Der ‘fromme Realismus’ wird hier offenbar im Sinne eines filmischen Realismus verstanden (#vgl. Bazin#), der eine durch das Subjekt ‘getrübte’ Sicht auf die Dinge vermeide („nicht die eigene Seele in den Dingen, sondern die Seele der Dinge zu malen”). Ein ähnlich ‚materialistischer‘ Zug findet sich auch in der Argumentation von Erwin Panofsky in Stil und Medium wieder: „Die Verfahrensweisen aller früheren bildenden Künste […] beginnen mit einer Idee, die in die gestaltlose Materie projiziert werden soll, nicht mit den Objekten, aus denen die äußere Welt besteht. […] Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche […]. Die Realität stilisieren, bevor man sie anpackt, heißt letztlich dem Problem ausweichen.” [Link]

Anders als es Godards Formulierung gegenüber Jean Renoirs Film Madame Bovary (1933) vermuten lässt, dürfte die tatsächliche Grundlage dieser Bobachtung in der literarischen Vorlage des Romans (1856) von Gustave Flaubert zu suchen sein. Dort heißt es: „Léon flüchtete; ihm schien, dass seine Liebe, die seit bald zwei Stunden in der Kirche reglos geworden war wie die Steine, sich jetzt verflüchtigen würde wie eine Rauchwolke durch diesen abgestumpften Schlot von länglichem Käfig, von durchbrochenem Kamin, der sich so grotesk über der Kathedrale spreizte wie der extravagante Versuch eines phantasierenden Kesselschmieds.” (Frz.: „Léon fuyait; car il lui semblait que son amour, qui, depuis deux heures bientôt, s’était immobilisé dans l’église comme les pierres, allait maintenant s’évaporer tel qu’une fumée, par cette espèce de tuyau tronqué, de cage oblongue, de cheminée à jour, qui se hasarde si grotesquement sur la cathédrale comme la tentative extravagante de quelque chaudronnier fantaisiste.“ Flaubert 2019, S. 359f.)

Jean Renoir, Madame Bovary, 1933 und Claude Chabrol, Madame Bovary, 1991, Filmausschnitte

Es bleibt unklar, welche Steine Godard hier meint – die Pflastersteine der Straße oder die Steine, aus denen die Kathedrale gebaut ist. Vermutlich zielt seine Bemerkung auf den ‘frommen Realismus’ bzw. die ‘Seele der Dinge’, die im synästhetischen Überschuss eines scheinbar bedeutungslosen Details zum Vorschein komme. Godard zufolge ermögliche es die Filmbetrachtung, die Atmosphäre in Rouen „atmen” zu können – eine Form der Suggestion, die den Lektüreerfahrung eines Romans näher zu stehen scheint, als die szenische Übersetzung im Film. Offenbar wird hier der Versuch unternommen, den Reichtum der Sprache Flauberts aus der Filmsprache Renoirs ‚herauszulesen’. Vgl. ähnlich auch Aragon: „Ebenso verwandeln sich auf der Leinwand die Dinge, die eben noch Möbel oder Notizblocks waren, bis zu einem Punkt, an dem sie bedrohliche und geheimnisvolle Bedeutungen annehmen. […] Das Kino […] bedeutet mehr als die getreue Wiedergabe des Lebens.” [Link]

Dennoch, daß eine Landschaft ein Seelenzustand ist, heißt nicht notwendigerweise, daß die Poesie sich von selbst einstellt, wie unsere zu schlauen Dokumentarfilme glauben machen wollen, sondern daß die Ordnung der Dinge der des Herzens und des Geistes entspricht. Schließlich steht das Genie Flahertys dem Hitchcocks nicht so fern, Nanuk, der seine Beute belauert, gleicht dem Mörder, der auf sein Opfer wartet; es besteht darin, die Zeit der Lust gleichzusetzen, die sie verzehrt, die Verfehlung dem Leiden, die Angst und die Gewissensbisse dem Vergnügen und den Raum spürbar zum Ort unserer Unruhe zu machen. Die Kunst fesselt nur durch das Geheimnis, das sie in uns selbst freilegt. Von dieser Art Tiefe spreche ich. Offensichtlich setzt sie eine Idee vom Menschen voraus, die nicht revolutionär ist, und waren die großen Regisseure, von Griffith bis Renoir, zu konservativ, um das zu verleugnen. Auf die Frage Was ist das Kino? Antworte ich somit zunächst: der Ausdruck der schönen Gefühle.

Von ‚Nanook of the North‘ (Flaherty, 1922) bis ‚North by Northwest‘ (Hitchcock, 1959), Montage von Filmausschnitten der beiden Filme sowie der Fernsehproduktion ‚Höchste Zeit. Hitchcock für Eilige und Liebhaber‘ (Manfred Waffender, TVT Frankfurt 1987, TV-Mitschnitt, Mediathek, Kunstgeschichtliches Institut)

Kommentar: Der letzte Paragraph des Textes veranschaulicht anhand von Beispielen, was Godard unter dem „frommen Realismus des Kinos“ und der „Seele der Dinge“ versteht. In einem Film einen Seelenzustand durch Dinge zu vermitteln, bedeutet eine “Ordnung der Dinge” herzustellen, die sich gleichermaßen auf den Geist wie auf die Gefühle beruft. Auf Grundlage dieses Paradigmas lassen sich selbst so unterschiedliche Werke wie Robert J. Flahertys Nanook of the North (1922) und die Filme Alfred Hitchcocks miteinander vergleichen. Vgl. auch Godards spätere Charakterisierung der ‚Ordnung der Dinge‘ im Kino Hitchcocks: “Man braucht nur von jemandem zu verlangen, daß er einen Film Hitchcocks erzählen soll. Unweigerlich wird er antworten, indem er ein Bild beschreibt, das ihn beeindruckt hat. Und sogar meistens einen Gegenstand. Schuhe, eine Kaffeetasse, ein Glas Milch, Bordeaux-Flaschen. Es ist doch erstaunlich; man fragt jemanden, ob er Notorious gesehen habe, und er antwortet, das ist der Film mit den Bordeaux-Flaschen. Wie bei Cézanne. Man spricht von den Äpfeln Cézannes wie von den Bordeaux-Flaschen Hitchcocks in Notorious.” (Godard 1980, S. 282)

Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma (1988-98), Kapitel 4A: Le contrôle de l’univers (Filmausschnitt)

[Wiedergabe der Tonspur:]

man hat vergessen
warum sich Joan Fontaine
über die Klippe beugt

[…]

und was Joel McCrea
in Holland machen wollte
man hat vergessen, aus welchem Anlaß
Montgomery Clift ein ewiges Stillschweigen wahrt
und warum Janet Leigh vor Bates‘ Motel anhält
und warum Teresa Wright
noch immer in Onkel Charlie verliebt ist
man hat vergessen, wessen Henry Fonda
nicht ganz schuldig ist
und warum genau die amerikanische Regierung
Ingrid Bergman engagiert hat


aber
man erinnert sich an eine Handtasche
aber
man erinnert sich an einen Autobus in der Wüste
aber
man erinnert sich an ein Glas Milch

an Windmühlenflügel
an eine Haarbürste
aber
man erinnert sich an aufgereihte Flaschen
an eine Brille
an eine Musikpartitur
an einen Schlüsselbund
weil mit ihnen
und durch sie
Alfred Hitchcock dort erfolgreich ist
wo Alexander, Julius Cäsar, Hitler, Napoleon
scheiterten
die Kontrolle des Universums zu übernehmen


zehntausend Menschen haben vielleicht
den Apfel von Cezanne nicht vergessen
aber eine Milliarde Zuschauer
wird sich an das Feuerzeug
des Fremden im Zug erinnern
und wenn Alfred Hitchcock der einzige
poète maudit war, der Erfolg hatte
so deshalb, weil er der größte Formgeber
des zwanzigsten Jahrhunderts war
und weil es die Formen sind, die uns letztlich sagen
was es auf dem Grund der Dinge gibt
denn, was ist die Kunst
wenn nicht das, wodurch die Formen Stil werden


Godard 1999, Bd. 4, S. 26f.

Literatur:

Louis Aragon, Le libertinage, Paris 1924.

Louis Aragon, Was ist Kunst, Jean-Luc Godard?, in: Film (4. Jg. H. 1) Januar 1966.

Gustave Flaubert, Madame Bovary, hg. v. Jacques Neef, o.O. 2019; dt: Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz, aus dem Französischen von Ilse Perker und Ernst Sander, Ditzingen 2021.

Hans Lucas [d.i. Jean-Luc Godard], Was ist das Kino?, in: ders., Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950-1970), aus dem Französischen von Frieda Grafe, München 1971, S. 28f.

Jean-Luc Godard, Zum Tode von Alfred Hitchcock, in: Filmkritik, Juni 1980, Nr. 282, S. 281–284.

Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma, Complete Soundtrack, Deutsch übersetzt von Hanns Zischler, (ECM New Series, hg. von Manfred Eicher, remixed von François Musy, 4 Bde.), München 1999.

Kommentare: Sophie Herrlein, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig

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