Dziga Vertov

Was ist Kino-Auge? (1929)

Typoskript zum 1929 in Berlin gehaltenen Vortrag, Bibliothek der Deutschen Kinemathek, Berlin, Sig. 5.2.Vertov 1/26, handschriftlich paginiert, in Auszügen abgedruckt in: Filmspiegel, 25, 5. Dezember 1973, S. 8-9 sowie in: Film und Fernsehen, 2, Februar 1974, S. 38-41; vgl. auch den französischen Wiederabdruck Ce qu’est le Ciné-Œil, in: Dziga Vertov, Le ciné-œil de la révolution. Écrits sur le cinéma, hg. v. François Albera, Antonio Somaini, lrina Tcherneva, Dijon 2019, S. 301-313.

Kommentar: Vermerk auf dem Deckblatt: „Dsiga Wertow [2.1.1896 – 12.2.1954] hielt 1929 in Berlin diesen Vortrag in deutscher Sprache. Zur Wertow-Ausstellung in BERLIN, Hauptstadt der DDR, November 1973 bis Januar 1974 überreichen wir den aus dem Wertow-Archiv von Frau Elisaweta Wertowa-Swilowa zur erstmaligen Publikation übergebenen Vortrag Dsiga Wertows in der von der damaligen FIlmprüfstelle Berlin „besiegelten” Originalfassung. Staatliches Filmarchiv der DDR.“ Vertov hielt seinen Vortrag am 9. Juni im Phoebus-Palast in Berlin und zeigte dabei Ausschnitte aus Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera), Odinnadcatyj (dt. Das elfte Jahr) und Kinopravda Nr. 21. Vgl. auch die Berichte zum Vortrag in der Zeitung Tempo, vom 11. Juni 1929 und im Film Kurier, vom 14. Juni 1929 (Österreichisches Filmmuseum, Wien, Pr De 022 und Pr De 028.I).

Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, S. 233, P 19.

1.) Das Dorf Pawlowskoje. In der Nähe Moskaus. Kino-Vorführung. Der kleine Raum ist von Bauern, Bäuerinnen und Arbeiter<n> aus der nahen Fabrik überfüllt. Der Film „Kino-Wahrheit“ läuft ohne Musikbegleitung. Nur das Geräusch des Vorführungsapparates ist zu hören. Auf der Kino-Leinwand rast ein Zug vorbei. Ein kleines Mädelchen erscheint / und kommt den Zuschauern entgegen. Plötzlich ein Aufschrei im Zuschauerraum. Irgend eine Frau läuft zur Leinwand, auf das Mädelchen zu. Weint. Streckt ihm die Hände entgegen. Ruft das Kind mit Namen – aber das Mädelchen verschwindet. Auf der Leinwand rast wieder ein Zug. Im Zuschauerraum wird Licht gemacht. Man trägt die Frau, die das Bewusstsein verloren hat, aus dem Raum. „Was ist los?“ fragt der Arbeiter-Correspondent? Einer der Zuschauer antwortet: „Das ist Kino–Auge“. Sie haben das Mädelchen gefilmt als es noch lebte. Vor kurzen wurde es krank und ist gestorben. Die Frau, die zur Leinwand lief – ist – die Mutter.

Kommentar: Vertov könnte sich hier auf eine Episode seiner zwischen 1922 und 1925 produzierten Wochenschauen Kino-Pravda („Kino-Wahrheit”) beziehen. Eine dokumentarische Filmchronik, die von ihm in Zusammenarbeit mit den Kinoki angefertigt wurde. Mit dem Titel huldigte Vertov explizit der von Lenin gegründeten Zeitung „Pravda”. Vgl. die Online Edition von Vertovs Wochenschau-Filmen auf der Website des Österreichischen Filmmuseums, Wien. Die im Typoskript beschriebene Szene, des auf der Leinwand vorbeirasenden Zugs erinnert nicht nur an den berühmten Film der Gebrüder Lumière (L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat, 1895/96), sondern auch an das Finale in Vertovs eigenem Film Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera), der anlässlich des Vortrags vorgeführt wurde.

Dziga Vertov, Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera), 1929, Filmausschnitt (‚Die Ankunft des Zuges‘ im Kino, schneiden im Takt der Zeit, Signalübertragung auf den Gleisen und im Kino über den Lichtstrahl des Filmprojektors)

3.) Ein Brand. Die Bewohner werfen ihre Sachen aus dem brennenden Haus. Jeden Augenblick erwartet man die Ankunft der Feuerwehr-Miliz. Aufgeregte Menge. Am Ende der Strasse erscheint schon die schnell daherjagende Feuerwehr. Im selben Moment rast aus der Seitenstrasse ein Auto auf den Platz. Auf dem Auto dreht ein Mann am Handgriff eines Apparates. Neben ihm steht noch einer der sagt: „Wir sind noch zur rechten Zeit gekommen, dreht die Ankunft der Feuerwehr!“ – Kino-Auge, – „Kino Auge“, – murmelt die Masse.

Clip aus “Mann mit der Kamera”. Feuerwehr, Minute 31:30.

4.) Kolonnen-Saal im Gewerkschaftsbau Moskau. Im Sarg auf dem Podium der Körper Lenins. Am Sarg vorbei bewegt sich Tag und Nacht die Masse der Werktätigen Moskaus. Der Platz vor dem Bau und die Nachbarstrassen sind mit Menschenmassen überschwemmt. Nebenan wird auf dem roten Platz in der Nacht bei Scheinwerferlicht das Mausoleum gebaut. Dichtes Schneegestöber. Von Schnee und Scheinwerferlicht bedeckt, wacht die ganze Nacht der Mann mit dem Apparat, um ja nichts Wichtiges und Interessantes zu versäumen. Das ist auch, – „Kino-Auge“.

Kommentar: Vgl. hierzu Vertovs Filme Die Beisetzung Lenins (1924), die Kino-Pravda Nr. 21 (1925, Leninsche Kinopravda. Ein Filmpoem über Lenin) sowie Drei Lieder über Lenin (1934).

6.) Moskau. Ende 1919. Ungeheiztes Zimmer. Zerbrochenes Fenster. Am Fenster ein Tisch. Auf dem Tisch ein vom gestrigen Tage eingefrorenes Glas Thee. Neben dem Glas ein Manuskript. Wir lesen: „Manifest über die Entwaffnung der theatralischen Kinematographie.“ Eine der Varianten dieses Manifests unter dem Titel „WIR“ wurde später 1922 in der Zeitschrift „Kino-Photo“ <…> Moskau veröffentlicht. 

Kommentar: Die Erstveröffentlichung des Manifests erfolgte 1922 in der Zeitschrift Kino-fot („My. Variant manifesta“, Kinofot, Nr. 1, 1922). Eine frühere Veröffentlichung lässt sich bibliographisch nicht nachweisen.

6a.) Dieses Manifest schlägt den Kino-Arbeitern vor: „Aus den wüsten Umarmungen der Romanzen, aus den Tatzen des Theater-Liebhabers, aus dem Gift der psychologischen Romanze“ zu fliehen, wegzugehen in den vierdimensionalen Raum, (3+Zeit) auf der Suche nach eigenem Material, eigener Metrik und <eigenem> Rhythmus. Dieses Manuskript spricht von dem Kino-Werk als einer „Organisation notwendiger Bewegungen der Gegenstände in Raum und Zeit | als <einem> rhythmischen Ganzen, entsprechend den Eigenschaften des Materials und inneren Rhythmus jedes Gegenstandes.“

Hier wird auch von der Montage, „als von einem geometrischen Extrakt der Bewegung, als von einem hinreissenden Wechsel der Darstellungen“ gesprochen. Als Baumaterial des Kinowerkes werden die Intervalle (der Sprung von einer Bewegung zur anderen) und keinesfalls die Bewegung selbst erklärt. Eben diese Intervalle bringen die Handlung zu einer kinetischen Lösung. (Ausführlicher hierüber im Weiteren.) 

Kommentar: Hier zeigt sich bereits eines der wichtigsten Merkmale der Filmtheorie Vertovs. Er formuliert sein Vorhaben, eine dem Film eigene Formsprache zu entwickeln, die dem Theater absagt und stattdessen die Kinetik bzw. die durch Montage organisierte Bewegung ins Zentrum rückt. vgl. Aragon, Dekor: „Das Kino […] sollte sich von allem Verbalen befreien; die Kunst muss die Sprache ersetzen, und das bedeutet mehr als die getreue Wiedergabe des Lebens. Unter dieser Bedingung wird sich das Kino von allen zusammengewürfelten, unreinen und unseligen Verbindungen befreien, die es an das Theater fesseln, dessen unerbittlicher Feind es ist.“

7.) Das nächste, wichtige Hervortreten der Gruppe des „Kino-Auges“ war das Manifest über die „Ungestellte Kinematographie“, das unter dem Titel „Kinoki-Umwälzung“ in der Zeitschrift „Leff“ 1923 publiziert wurde. Das Manifest <zeigt> den Weg an, den die Entwicklung des „Kino-Auges“ künftig einschlagen wird. Die Grundlosung des Manifestes<:> „Ueberrumpeltes Leben“ und „das Leben wie es ist“. Aber nicht vom Standpunkt des unvollkommenen menschlichen Auges gesehen, sondern vom Standpunkt des gelenkten Kino-Auges, vom Standpunkt des durch des Kino-Apparat „bewaffneten“ Auges. Vom Standpunkt aller unbegrenzten Möglichkeiten des sich immer mehr vervollkomm<n>enden physikalischen Instrumentes.

In das scheinbare Durcheinander des Lebens greift entscheidend ein:

a) das „Kino-Auge“ – es bestreitet die visuelle Vorstellung von der Welt durch das menschlichen Auge und schlägt das eigene „Schaue“ vor.

b) Der Kinok und Montageur – der zuerst die so geschauten Augenblicke des Lebensaufbaues montiert.

Kommentar: In „Kinoki-Umwälzung” oder „Kinoki-Umsturz” (1923) legen Vertov und die Gruppe der Kinoki (zwischen 1922 und 1923 unter Eigennamen “Gruppe der Drei” bekannt, da sie aus Vertov, seiner späteren Frau Elisaveta Swilowa und seinem Bruder Mikhail Kaufmann bestand) erstmals schriftlich die Theorie des „Kino-Auges” dar. Vertovs Manifest erschien gemeinsam mit Eisensteins Text Montage der Attraktionen in der Zeitschrift Lef, Nr. 23, Moskau 1923. Das Verständnis des „Kino-Auges” als ein dem menschlichen Auge überlegenes mechanisches, bzw. technisches Auge findet hier Formulierung. [vgl. Harms, Bazin, Panofsky]

8.) Diesen beiden Manifesten ging die Arbeit des Autors in der Abteilung der Kino-Chronik beim Volksaufklärungs-Kommissariat ab 1918 voran, wo eine Reihe Kino-Wochenschauen und thematische Chroniken herausgegeben wurden.

Kommentar: Vertov arbeitete 1918 und 1919 als Assistent und Editor in der Wochenschau-Sektion des Filmkomitees Moskau. Er realisierte hier seine ersten eigenen Filmprojekte.

II.

1.) „Kino-Auge”-russisch Kino-Glas, Kino-Oko. Daraus abgeleitet „Kinoki“. Das ABC der Kinoki definiert das „Kino-Auge“ kurz durch die Formel: „Kino-Auge“ ist Kinoschrift der Fakten. Das heißt der Tatsachen.

Kommentar: So auch Viktor Šklovskij: „Für Dziga Vertow zählt nur das Authentische: die Tatsache”, Viktor Šklovskij, Dsiga Wertow, in: Klemens Gruber (Hg.), Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, Wien, Köln und Weimar 1996, S. 27-29, hier S. 27. Oder Kracauer, der den Begriff der Tatsache mit „Wirklichkeitssplitter” umschreibt: „Wertow [gewinnt] durch die Montage dem Zusammenhang der Wirklichkeitssplitter einen Sinn ab.” Siegfried Kracauer, Der Mann mit dem Kinoapparat, in: Gruber 1996, S. 33-36, hier S. 34.

2.) <Abschnitt durchgestrichen> „Kino-Auge“ ist Kinoschauen (ich schaue durch den Kino-Apparat) + Ich Kino schreibe (schreibe durch den Apparat auf das Filmband) + ich Kino-Organisiere (montiere)

Kommentar: Thematisierung der Materialität des Films. Aufnahmemedium (Kamera), Speichermedium (Filmband) und Montage als Organisationsprozess des Aufgezeichneten.

3.) Die Methode des „Kino-Auges“ – ist eine wissenschaftlich experimentelle Methode zur Erforschung der sichtbaren Welt.

a) Auf Grund planmässiger Festlegung der Lebens-Fakten auf dem Filmband.

b) Auf Grund planmässiger Organisation des auf dem Filmband festgehaltenen dokumentaren Kino-Materials.

Kommentar: „The cinema was the typical survival-form of the Age of Machines” (Frampton, For a Metahistory of Film, 1971). Vertov legt hier zugrunde, was Frampton später als eine Überlebensform im Zeitalter der Maschinen bezeichnen soll. Nämlich die planmäßige Erschließung der modernen, technisierten Welt – der Maschinen-Welt – durch den kinematographischen Apparat.

4.) „Kino-Auge“ ist nicht nur die Bezeichnung einer Gruppe von Kino-Arbeitern, ist nicht nur die Bezeichnung eines Films (der Film „Kino-Auge“ wurde auf der internationalen Ausstellung in Paris preisgekrönt) ist auch nicht irgend eine Richtung der sogenannten <„>Kunst“ (Links oder Rechts). „Kino-Auge“ ist eine unaufhaltsam wachsende Bewegung, durch die Einwirkung der Fakten (der Tatsachen) die Einwirkung durch Ausgedachtes und Theatralisches aufzuheben. „Kino-Auge“ = ist die dokumentale Kino-Dechiffrierung der Sichtbaren, durch das unbewaffnete Auge, nicht wahrnehmbaren Welt.

Kommentar: „Kino-Auge” als Wahrnehmungsapparat. Es bietet „sein eigenes ‘Ich sehe!’” an (Kinoki-Umsturz, 1923) und eröffnet somit eine visuelle Wahrnehmungsebene, die das, nach Vertov, unvollkommene menschliche Auge nicht erfahren kann.

5.) „Kino-Auge“ = ist die Ueberwindung des Raumes. Ist die visuelle Verbindung der Menschen der ganzen Welt auf Grund des ununterbrochenen Austausches der sichtbaren Tatsachen der Kino-Dokumente. Dies im Unterschiede zu dem Austausch von Kino-Theatralischen Vorstellungen, mehr oder weniger gewöhnlicher Art. (Lenin).

Kommentar: Die Stichworte „visuelle Verbindung der Menschen der ganzen Welt“ und der „ununterbrochene Austausch“ spielen auf das Kino als Kommunikationsmittel und universale Sprache an. Vgl. auch Aragon: „Dieser große Dämon mit weißen Zähnen und nackten Armen spricht auf der Leinwand eine unerhörte Sprache, doch es ist die der Liebe. Menschen aller Länder verstehen sie“. [Link]

6.) „Kino-Auge“ = ist die Ueberwindung der Zeit. Die visuelle Verbindung zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Erscheinungen. „Kino-Auge“ = ist Konzentration und Zerlegung der Zeit. „Kino-Auge“ = gibt die Möglichkeit, Lebensprozesse in einem x–beliebigen, dem menschlichen Auge unerreichbaren Zeitablauf zu sehen, in einer x–beliebigen , dem menschlichen Auge unerreichbaren Schnelligkeit.

Kommentar: „Vertovs ‘Filmauge’ ist entkörperlicht und allsehend” (Filmtheorie zur Einführung, S. 107). Die filmische Grammatik ist nicht an die räumlichen und zeitlichen Parameter der menschlichen Wahrnehmung gebunden, so Vertov. Sowohl zeitliche als auch räumliche Distanzen können mit einem einzigen Filmschnitt überwunden werden. In „Kinoki-Umwälzung” heißt es z.B.: „Du gehst durch eine Straße, heute im Jahre 1923, doch ich lasse dich den verstorbenen Genossen Volodarskij grüßen, der im Jahre 1918 durch eine Straße in Petrograd geht und deinen Gruß erwidert.” (Kinoki-Umsturz, 1923)

7.) „Kino-Auge“ – verwendet alle dem Kino-Apparat erreichbaren Aufnahmemittel, wobei Zeit-Raffer, Zeit-Lupe, Mikro-Aufnahme, Rücklauf<->Aufnahme, Trickfilm, Aufnahme vom bewegten Standpunkt aus, Aufnahmen unerwarteter Verkürzungen nicht als Trickmittel aufgefasst sind, sondern als normale, breit anwendbare Aufnahme-Methoden. 

Clip aus Mann mit der Kamera einfügen: Sportsequenz. 46:45 Minute

8.) „Kino-Auge“ verwendet alle erdenklichen Montagemittel. Stellt alle möglichen Punkte der Welt einander gegenüber und verkuppelt sie. Bricht, wenn nötig, mit allen Gesetzen und Gewohnheiten der bisherigen Aufbau-Methoden der Kino-Werke.  

9.) Indem es tief in das scheinbare Chaos des Lebens einschneidet ist das „Kino-Auge“ bemüht, die Antwort auf das gestellte Thema im Leben selbst zu finden. Die Resultante aus Millionen von Erscheinungen die mit dem gegebenen Thema verbunden sind, zu geben. Mit dem Apparat das Charakteristischste und Zweckmässigste aus dem Chaos herauszureissen und zusammen zu montieren. Die aus dem Leben aufgegriffenen Stücke in eine visuell sinnfällige Reihe, in eine visuell sinnfällige Formel zu organisieren, in ein extrahiertes „Schaue!“

Dziga Vertov, Kino-Auge (Kinoglaz), 1924 (Ausschnitt)

Kommentar: Das „Kino-Auge” „extrahiert„ den Produktionsprozess eines Brot-Laibes. Das einzelne Brot ist das Ergebnis eines komplexen und arbeitsteiligen Herstellungsprozesses, der dem menschlichen Auge nicht ersichtlich ist. Das „Kino-Auge” macht diesen sichtbar, indem die Produktion des Brot-Laibes – vom Markt bis zum Acker – zurückverfolgt wird. 

III.

1.) Montieren = bedeutet Teilstreifen (Cadren) in Kino-Werke zu organisieren, mit den aufgenommenen Cadren Kino-Werke zu schreiben – es bedeutet aber nicht die Cadren irgendwelchen „Scenen“ (theatralischer Art) oder beliebigen Aufschriften (literarischer Art) anzupassen. 

Kommentar: Mit „Teilstreifen (Cadren)” meint Vertov den Bildkader, das Einzelbild auf einem Filmstreifen.

2.) Jedes Werk des „Kino-Auges“ wird von dem Augenblick an, wenn das Thema gewählt ist, bis zum Ende des Filmes fortwährend montiert, das heisst es wird während des gesamten Herstellungsprozesses fortwährend montiert.

Kommentar: Ein Film-Projekt ist für Vertov ein Montage-Projekt. Die Themenwahl, die Konzipierung eines thematischen Plans, die Auswahl der Filmorte und zu filmenden dokumentarischen Gegebenheiten, sowie die Festlegung eines Aufnahmeplans, stellen für ihn, neben der klassischen Montage am Schneidetisch, allesamt Montageprozesse dar.

4.) „Kino-Auge“ das ist:

Ich montiere, wenn ich das Thema wähle (aus 1000 möglichen Thematas ist das einzige zu wählen)

Ich montiere, wenn ich das Thema beobachte (aus 1000 Beobachtungen ist aus<?> dem Thema die zweckmässigste Auswahl zu treffen). Ich montiere, wenn ich aus dem Aufgenommenen die Vorführungsordnung für das Thema aufstelle. (aus 1000 möglichen Kombinationen der Cadre ist die Entscheidung, die zweckmässigste Kombination zu treffen, wobei die Eigenschaften des aufgenommenen Kinomaterials, sowie die Forderungen des sich gestellten Themas in Betracht gezogen werden.)

Montage-Sequenz aus Mann mit der Kamera. Aus dem Schneideraum. Minute 22

5.) Die Schule des „Kino-Auges“ fordert den Aufbau des Kino-Werkes auf Grund der „Intervalle“, das heißt der Sprünge aus einer Bewegung <auf eine> andere. Auf Grund des visuellen Verhältnisses der Cadren (d.h. Teilstreifen) zu einander, der Uebergänge von einem visuellen Stoss zum andern. Zwischen-Cadre Verschiebung = ist gleich visueller Intervall = ist gleich visuelles Verhältnis der Cadren, stellt eine („nach Kino-Auge“) komplizierte Grösse dar, die sich aus einer Summe verschiedener Verhältnisse zusammensetzt, von welchen die hauptsächlichsten sind:        

1) Verhältnis der Aufnahmen (Gross-Aufnahme, Klein-Aufnahme u.s.w.)             

2) Verhältnis des „der Einstellungen“                 

3) Verhältnis der Bewegung innerhalb der Teilstreifen.

4) Verhältnis von Licht und Schatten.                 

5) Verhältnis der Aufnahme-Schnelligkeit.

Von irgend einer Kombination dieser Verhältnisse ausgehend, bestimmt<?> der Autor-Montageur 1) die Reihenfolge des Wechsels, die Reihenfolge des Ablaufes einzelner Stücke. 2) Die Dauer jedes Wechsels (in Meter und Cadrenzahl) das heisst, die Demonstationszeit, die Vorführungszeit jedes einzelnen Cadres.

Wobei die Zwischen-Cadrebewegung (Intervall) zwischen 2 Nachbarcadren in Rechnung gezogen wird, sowie das visuelle Verhältnis jedes einzelnen Cadres zu allen anderen – zu den Teilnehmern der begonnenen „Montage-Schlacht“.        

Aus allen diesen Aufeinander-Wirkungen, gegenseitigen Anziehungen und Abstossungen der Cadren muss für das Zuschauer-Auge die zweckmässigste Marschroute gefunden werden. Die gesamte Menge der Intervalle zu einer einfachen Formel, zu einer einfachen visuellen Gleichung zu bringen, die am besten das Grundthema zum Ausdruck bringt, – das ist die schwierigste und hauptsächlichste Aufgabe des Autors und Montageurs. Die Arbeit am „Elften Jahr“ und am „Mann mit dem Kino-Apparat“ illustriert am schärfsten diese Theorie des „Kino-Auge“ über die Intervalle.

Kommentar: Wenn Vertov oben das „Kino-Auge” als eine Kinoschrift bezeichnet, ist seine Auffassung von Intervallen zentral für den Aufbau dieser Schrift. Diese Intervalle fügen sich zu einzelnen Sätzen zusammen und geben der Handlung ihre „kinetische Lösung” (Aus: WIR. Variante eines Manifests, 1922). „In jedem Satz gibt es einen Aufschwung, Errungenschaft und Fall der Bewegung.” (Ebd.) Vertovs graphische Skizzierung des Konzeptes:                                     

Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, S. 172, V 14

IV.

Die Vergangenheit des „Kino-Auges“ von 1919 ist ein harter Kampf über die Aenderung des Kurses der Welt-Kinematographie. Für die Verlegung des Schwerpunktes in der gesamten Welt-Kinoproduktion von dem Spielfilm zum „Ungestellten Film“. Von der Inscenierung zum Dokumentalen, von der Theater-Arena in die Arena des Lebens. Versuchen wir eine kurze Bilanz über die Arbeit des „Kino-Auges“ in dieser Richtung aufzustellen:

ERSTENS: Publiziert und zu weiterer Entwicklung gebracht das „Manifest der Kinoki über die ungestellte Kinematographie“.

ZWEITENS: als Beweis und Verstärkung dieses Manifestes bis zu hundert Beispiele verschiedener Art des ungestellten Films geschaffen, angefangen von der primitiven Kino-Wochenschau bis zu den kompliziertesten dokumentarischen Kino-Werken. <gestrichener Text: (Hierher gehören die Nummern der Kino-Wochenschau aus der „Geschichte des Bürgerkriegs“, „Staats-Kino-Kalender“ und „Kino-Wahrheiten“. Besonders ausgezeichnet haben sich im Sturm gegen die Spiel-Kinematographie die Filme „Der Kampf bei der Stadt Zaritzen“, „Das überrumpelte Leben“, „Lenina-Wahrheit“, „Marschiere Sowjet“, „Der sechste Teil der Welt“, „Das elfte Jahr“ und endlich „Der Mann mit dem Kino-Apparat“.)>  Hier seien auch die Arbeiten der Schüler Werthoffs angeführt: „Moskau“, „Kinderkrippe“ – von M. Kaufmann. „Für die Ernte“ und „Der Feiertag der Millionen“ von Kopalin, Schub, Swolowa und andere.

DRITTENS: eine eigene Kinosprache ausgearbeitet, eigene (von dem Spielfilm unterschiedliche) Aufnahme- und Montagemethoden. Die vollständige Abgrenzung der Kinosprache von der Sprache des Theaters und der Literatur <…?> durchgeführt. Den Begriff „Dokumentale Kino-Schrift“ aufgestellt.

VIERTENS: Aufstellung eines Projektes für eine „Versuchs-Kino-Station“, für die Festlegung der Fakten</>Tatsachen. Und weiter die Fabrik des „Ungestellten Filmes“, die „Fabrik der Fakten“.

FÜNFTENS: Der Kampf um die „Leninsche Proportion“ in der Kino-Produktion, das heisst, die Umstellung des Verhältnisses von Spielfilm zum „Dokumentalen Film“. SECHSTENS: Auf den Spielfilm wurde ein kolossaler Einfluss hinsichtlich seiner Kino-Sprache ausgeübt. Die zunehmende Anlehnung an die rein äusserliche Manier des „Kino-Auges“ durch die sogenannten Kunstfilme (Streik, Panzerkreuzer Potemkin u.a) genügte schon, um bei uns (und im Auslande) eine immer grössere Wirkung auf die gestellte, schauspielerische Kinematographie auszuüben. Diese rein äusserlich in der Art des „Kino-Auges“ gestalteten Filme sind jedoch nur ein Detail, ein zufälliger Beweis der immer mehr zunehmenden Bewegung „Des Kino-Auges“.

Kommentar: Die teils polemische Auseinandersetzung zwischen Vertov und Eisenstein dreht sich hauptsächlich um die Frage des fiktionalen oder dokumentarischen Anteils im Film. (Man denke hier an Eisensteins berühmtes Zitat: „Wir brauchen kein Filmauge, sondern eine Filmfaust” (Eisenstein, zit. n. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1 [1983], Frankfurt/M. 2013, S. 295, Anm. 11, vgl. auch Aragon [→Link]). Vertov stellt sich gegen Eisensteins „Kunstfilme”. So schreibt er: „Influence through facts (Kino-Eye) and influence through invention (the art drama) are POLAR OPPOSITES. An „invented fact” is as useless as an „Attraction”.” (On the Newsreel, 1926; aus: Lines of Resistance. Dziga Vertov and the twenties) Er fährt fort: „Critics have been confused and stupefied by the fact that the opium of art drama has here been encoded and intentionally shaped to look like Kino-Pravda” (Ebd.)

Vertov kritisiert hier Eisensteins Übertragung der formalen Elemente des „Kino-Auges” in einen inszenierten “Kunstfilm”, wodurch die eigentlichen Tatsachen, die das „Kino-Auge” zeigen und offenlegen soll, hinter der Attraktion verschwinden.

SIEBTENS: Auf fast sämtliche Gebiete der vorgenannten Kunst wurde ein grosser Einfluss ausgeübt, besonders im Gebiete der Musik und des Wortes. <gestrichener Text: (Wir erinnern wie schon in ihrem „Ungestellten Manifest“ die Kinoki sich an die Arbeiter des Wortes mit der Aufforderung wenden, die „Hörbare-Chronik“, „Die Radio-Chronik“ herauszugeben. Wir erinnern wie später 1925 Ossinski die Literatur auffordert, dem „Kino-Auge“ auf dem eingeschlagenen Weg zu folgen, dem Weg der Organisation der fixierten Fakten.)> <unleserl. hs. Ergänzung> 

„Kino-Auge</> Werthoff hat Recht“, schreibt Brigg 1926 und mahnt die Photographen, dem Beispiel des „Kino-Auges“ zu folgen. Ruft sie auf, aus dem Bezirk des gewöhnlichen menschlichen Schauens herauszugehen, ruft sie die Wirklichkeit festzuhalten, nicht imitierend – sondern durch die Erweiterung des Umfangs des menschlichen Sehens.     

Kommentar: Folgende Autoren und Zeitschriften sind gemeint: N. Ossinski, Pravda, Nr. 1, 1925; Ossip Brik, Sovetskoe kino, Nr. 2, 1926.

V. Radio-Auge

1) Schon in ihren ersten Anmeldungen auf den zukünftigen, damals noch nicht erfundenen Tonfilm haben die „Kinoki“, – jetzt „Radioki“, ihre Marschroute also vom „Kino-Auge“ zum „Radio-Auge“ führend angezeigt. Das heisst zum „hörbaren und per Radio zu übergebenden „Kino-Auge“.

In dem vor einigen Jahren erschienenen Aufsatz: „Kino-Wahrheit“ und „Radio-Wahrheit“ spricht „Kino-Auge“ von der durch das „Radio-Auge“ zu schaffenden Möglichkeit die Entfernung zwischen den Menschen aufzuheben, von der Möglichkeit für die Werktätigen aller Erdteile, sich nicht nur zu sehen, sondern, gleichzeitig voneinander zu hören.

Es wurde damals auch eine spezielle Zeitung herausgegeben, die dem „Radio-Auge“ gewidmet war. Aber dann hat man der Frage des „Radio-Auges“ bald die Aufmerksamkeit entzogen, als einer Frage der zu fernen Zukunft. Die „Kinoki“ begrenzen sich nicht allein mit dem Kampf um den „Ungestellten Film“, sie sind vorbereitet, um in voller Rüstung an die erwartete Arbeit in der Richtung des „Radio-Auges“, in der Richtung des „Ungestellten Tonfilms“ zu schreiten.

Schon im „Sechsten Teile der Welt“ werden die Aufschriften durch kontrapunktlich aufgebaute Wort-Radio-Thema ersetzt.

„Das Elfte Jahr“ ist schon als ein schaubar-hörbares Kinowerk konstruiert. Das heisst es ist nicht nur allein in visueller, sondern auch in geräuschartiger, tonaler Beziehung montiert. In der Richtung vom Kino-Auge zum „Radio-Auge“ ist auch „Der Mann mit dem Kino-Apparat“ aufgebaut.

Die theoretische und praktische Arbeit der Kinoki und Radioki hat den technischen Möglichkeiten längst vorgegriffen. Sie erwarten jetzt nur die verspätete technische Basis für den Tonfilm und Plastischen Film.

Kommentar: Vgl. auch Arnheim anlässlich einer Vorführung von Enthusiasmus: „Werthoff sagte mir neulich im Gespräch, daß ihm als Ideal eine Art plastischer Film vorschwebe, der nicht mehr in der flachen Projektionswand lokalisiert sei, sondern dessen Figuren ins Publikum hineinzulaufen schienen oder leibhaftig hineinliefen.” Arnheim, Rudolf, Die Russen spielen [1931], in: Klemens Gruber (Hg.), Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, Wien, Köln und Weimar 1996, S. 37f. (=Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 42. Jg. H. 1), hier S. 37.

Die letzten technischen Erfindungen auf diesem Gebiet liefern in die Hände der Anfänger und der Schaffenden für die dokumentale Ton-Kino-Schrift eine mächtige Waffe für <die> „Revolution der Kinematographie“ 

VON DER MONTAGE DER SCHAUBAREN UND AUF DEM FILMBAND AUFGEZEICHNETEN FAKTEN (KINO-AUGE) / ZU DER MONTAGE DER SCHAUBAREN, HÖRBAREN UND PER RADIO ZU UEBERGEBENDEN FAKTEN (RADIO-AUGE).

ZU DER MONTAGE VON GLEICHZEITIG SCHAUBAREN, HÖRBAREN, TASTBAREN RIECHBAREN FAKTEN.

ZUR UEBERRUMPELTEN AUFNAHME DER MENSCHLICHEN GEDANKEN,– UND ENDLICH ZU DEN GROESSTEN EXPERIMENTEN DER DIREKTEN ORGANISATION DER GEDANKEN (FOLGLICH DER HANDLUNGEN) DER GESAMTEN MENSCHHEIT –

DAS SIND DIE TECHNISCHEN PERSPEKTIVEN DES „KINO-AUGES“, DIE DURCH DEN  O  K  T  O  B  E  R  INS LEBEN GERUFEN WURDEN. 

Literatur:

Arnheim, Rudolf, Die Russen spielen [1931], in: Gruber 1996, S. 37f.

Dawson, Jonathan, Vertov, Dziga, in: Senses of Cinema. Great Directors, 2003. https://www.sensesofcinema.com/2003/great-directors/vertov/

Elsaesser, Thomas und Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007.

Frampton, Hollis, For a Metahistory of Film. Commonplace Notes and Hypotheses, in: ders., On the Camera Arts and Consecutive MattersThe Writings of Hollis Frampton, hg. v. Bruce Jenkins, Cambridge, MA 2009, S. 131–139.

Gruber, Klemens (Hg.), Maske und Konthurn. Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, Wien 1996 (=Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 42. Jg. H. 1).

Kracauer, Siegfried, Der Mann mit dem Kinoapparat, in: Gruber 1996, S. 33-36, hier S. 34).

Šklovskij, Viktor, Dsiga Wertow [1927], in: Klemens Gruber (Hg.), Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, Wien, Köln und Weimar 1996, S. 27-29

Tode, Thomas (Hg.), Dziga Vertov: Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, Wien 2006.

Tsuvian, Yuri (Hg.), Lines of Resistance. Dziga Vertov and the Twenties, Pordenone 2004.

Vertov, Dziga, WIR. Variante eines Manifests [1922], in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 31–36.

Vertov, Dziga, Kinoki-Umsturz [1923], in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 36–50.

Vertov, Dziga, Le ciné-œil de la révolution. Écrits sur le cinéma, hg. v. François Albera, Antonio Somaini, lrina Tcherneva, Dijon 2019.

Kommentare: Leonard Schwanig

Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig

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