Louis Aragon

Dekor (1918)

Wiedergabe in Auszügen aus: Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz (Hg.), Die Zeit des Bildes ist angebrochen! Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino: eine historische Anthologie 1906–1929, Berlin 2016, S. 172–178; Du décor, in: Écrits sur l‘art moderne, hg. von Jean Ristat, Paris 1981, S. 29–32.

Louis Aragon, 3.10.1897–24.12.1982, beginnt schon als Kind Gedichte und Prosa zu schreiben, nimmt 1916 ein Medizinstudium auf und trifft 1917 auf André Breton, mit dem er im Bunde mit Philippe Soupault 1919 die Zeitschrift Littérature gründet. Den vorliegenden Text verfasst Aragon mit 21 Jahren. Bekannt wird er vor allem durch seinen 1926 erschienenen Roman Le paysan de Paris, in dem die in Dekor aufs Kino bezogene angelegte Mythologisierung des alltäglichen Lebens in Romanform umgesetzt wird. Wie viele andere der surrealistischen Bewegung tritt Aragon 1927 der Kommunistischen Partei Frankreichs bei. 1928 trifft er auf Elsa Triolet, die er 1939 heiraten und die Gegenstand zahlreicher literarischer Arbeiten werden wird. Um denselben Zeitraum beginnt eine innere Krise der Surrealisten, die sich insbesondere in der Distanzierung Aragons und Bretons manifestiert. Neben der für Aragon allzu prominenten Stellung Bretons in der Bewegung und dessen Auffassung, der Roman sei für den Surrealismus ungeeignet, liegt der Grund für Aragons Absonderung vor allem in seiner zunehmenden Politisierung, die in seiner Reise in die Sowjetunion 1930 einen starken Antriebspunkt findet. Aragon bleibt bis zu seinem Tod Mitglied der Kommunistischen Partei und verteidigt Stalin bis in die 60er Jahre vehement.

[siehe auch: Leon Rohloff, Film-Poesie. Aragon und das Kino]

Das Zeitalter des Lebens

Dieser große Dämon mit weißen Zähnen und nackten Armen spricht auf der Leinwand eine unerhörte Sprache, doch es ist die der Liebe. Menschen aller Länder verstehen sie und werden weit mehr von einem Drama ergriffen, das sich vor einer poesievoll geschmückten Plakatwand abspielt, als von einer berühmten Tragödie, auch wenn uns der einfühlsamste Schauspieler vor ein pompöses Bühnenbild einlädt. Hier scheitert das Trompe-l‘oeil, das nackte Gefühl triumphiert, und die Rahmung muss es mit poetischer Kraft aufwiegen, um unser Herz zu berühren.

Kommentar: Aragons erster Satz leitet mit einer Metapher ein, die sich mittels der Allusion auf Reinheit mit dem Mallarmé-Zitat zu Ende des Textes verbindet und dadurch eine poetische Rahmung des Textes präsentiert. Als Gegenpol zur Ergriffenheit, die sich im Kino einstelle,  wird das Theater vorgestellt, dessen Illusionskunst trotz aller Bemühungen (Schauspiel und Bühnenbild) hinter der Intensität des Kinos zurückbleibe. Dem poetologischen Aspekt spielt mit der Formulierung „Menschen aller Länder“, mit der Aragon auf die berühmte Schlussformel aus dem Kommunistischen Manifest („Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“) anspielt, zudem ein politischer bei. Vgl. auch Rudolf Harms: „Der Film ist seiner Natur nach ein massenvereinigendes Mittel, das sogar international bis zum Äußersten ist. Jeder Mensch versteht diese Bildsprache, und die Zwischentexte sind leicht in die entsprechende fremde Sprache übertragen.“ … „Bild kapiert man mühelos. Das ist die Verlockung des Kino. Bild brennt sich unentrinnbar ein und das ist seine Überlegenheit über die Schaubühne.” Rudolf Harms, Philosophie des Films (1926), Hamburg 2009, S. 171 u. 149.

Die Flügeltür einer Bar, auf ihren Scheiben die Großbuchstaben unleserlicher und phantastischer Worte, oder die schwindelerregende Fassade mit den tausend Augen eines dreißigstöckigen Hauses oder die hinreißende Auslage von Konservendosen (welch großer Maler hätte dies komponiert?) oder dieser Tresen mit dem Regal voller Flaschen, dessen Anblick allein trunken macht […].

Kommentar: Im französischen Original wird die Lautmalerei von „La porte d’un bar qui bat” deutlicher, ebenso wie die Fort-tragung von Phonemen der Beschreibung einer Szene in die nächste. Der auf phonetischer Ebene formulierten These, diskontinuierlich getrennte Szenen affektierten sich untereinander in ihrer rhythmischen Anordnung, kann im Deutschen nur vermindert, aber doch stellenweise durch Vokalwiederholung Rechnung getragen werden, so z.B. bei „unleserlicher und phantastischer“ zu „schwindelerregende Fassade“.

Vor dem Aufkommen des Kinematographen hatten es Künstler kaum gewagt, sich der faktischen trügerischen Harmonie der Maschinen und der eindringlichen Schönheit der Werbetafeln, der Plakate, der bedeutsamen vielversprechenden Großbuchstaben, der wirklich gewöhnlichen Dinge zu bedienen, all dessen, was unser Leben preist und keiner künstlichen Konvention folgt […]. Die Lettern, die eine Seife anpreisen, sind ebenso viel wert wie Inschriften an Obelisken oder Einträge in Zauberbüchern: Sie zeugen vom Geschick der Epoche. Wir haben sie schon als Kunstelemente bei [Pablo] Picasso, Georges Braque oder Juan Gris gesehen. […] Aber nur das Kino, das sich direkt an das Volk wendet, konnte diese neuen Quellen menschlicher Herrlichkeit einer rebellischen Menschheit, die ihr Herz sucht, erschließen.

…vor einer poesievoll geschmückten Plakatwand… die Schönheit der Werbetafeln, der Plakate, der… Großbuchstaben (Aragon). Montage einzelner Filmausschnitte aus Filmen Jean-Luc Godards (Thomas Helbig).

Kommentar: Unter dem Stichwort „Seifenpulver und Detergenzien” hat auch Roland Barthes der Seife und dessen Bewerbung einen Abschnitt innerhalb seiner Mythologies gewidmet: „Nun wird für diese Produkte seit einigen Jahren derart massiv Werbung betrieben, daß sie heute zu einem Bereich des Alltags der Franzosen gehören, auf den die Psychoanalysen, wenn sie auf der Höhe der Zeit bleiben wollen, ein wenig achtgeben sollten.” Roland Barthes, Mythen des Alltags (1957), aus d. Franz. v. Horst Brühmann, Berlin 2010, S. 47-49, hier S. 47.

Wider das Theater

Vor der Leinwand muss man die Augen öffnen, das Gefühl analysieren, das uns zu tragen scheint, und sich seines Verstandes bedienen, um die Ursache dieser Selbsterhebung zu entdecken. Welchen neuen Reiz finden wir, vom Theater abgestumpft, in dieser Sinfonie in Schwarz-Weiß, der – des Redetaumels und der Bühnenperspektive beraubt – weitaus weniger Mittel zur Verfügung stehen? […]

Kinder, die Poeten sind, ohne Künstler zu sein, starren manchmal auf einen Gegenstand, bis ihn die Aufmerksamkeit soweit vergrößert, dass er ihr ganzes Gesichtsfeld einnimmt, ein geheimnisvolles Aussehen bekommt und jeden Bezug zu jedwedem Zweck verliert.

Kommentar: Die Idee, die hinter der Beziehung von Kind und Poet steckt, entnimmt Aragon wohl Baudelaires Essay „Le Peintre de la vie moderne“, in dem es heißt: „L’enfant voit tout en nouveauté; il est toujours ivre [vgl. in Aragons erstem Absatz „trunken”]. […] L’homme de génie a les nerfs solides; l’enfant les a faibles. […] Mais le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté, l’enfance douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et de l’esprit analytique qui lui permet d’ordonner la somme de matériaux involontairement amassée. (Baudelaire, Charles: Oeuvres completes II, hrsg. von Claude Pichois, Paris 1975, S. 684.[1] Auffallend ist das wiederholte Auftauchen der kindlichen Wahrnehmung in der frühen Kinoliteratur. Vgl. etwa Harms: „[Das Kind] sieht in jedem Ding ein autonomes Lebewesen, das eine eigene Seele und ein eigenes Gesicht hat.“ (Harms 2009, S. 151). Siehe als weiteres Beispiel zum Rekurs auf kindliche Wahrnehmung auch André Bazins Artikel Schneiden verboten!.

Ebenso verwandeln sich auf der Leinwand die Dinge, die eben noch Möbel oder Notizblocks waren, bis zu einem Punkt, an dem sie bedrohliche und geheimnisvolle Bedeutungen annehmen. Das Theater ist zu einer vergleichbaren emotionalen Verdichtung nicht imstande.

Das Kino muss auf der Hut sein: Es sollte sich von allem Verbalen befreien; die Kunst muss die Sprache ersetzen, und das bedeutet mehr als die getreue Wiedergabe des Lebens.

Unter dieser Bedingung wird sich das Kino von allen zusammengewürfelten, unreinen und unseligen Verbindungen befreien, die es an das Theater fesseln, dessen unerbittlicher Feind es ist.

Das Leben der Dinge

Unser Glücksgefühl lebt in den geliebten alten amerikanischen Abenteuern fort, die den Alltag schildern und gewöhnliche Dinge dramatisieren: eine Banknote, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet; einen Tisch, auf dem ein Revolver liegt; eine Flasche, die zur Waffe werden kann; ein Taschentuch, das das Verbrechen enthüllt; eine Schreibmaschine, die den Horizont eines Büros bildet; den schrecklichen Papierstreifen der Telegramme mit seinen magischen Ziffern, die Bankiers reich machen oder umbringen. […]

Etwas mit einem poetischem Wert zu versehen, den es zuvor nicht besaß, wissentlich das Gegenstandsfeld einzuschränken, um den Ausdruck zu steigern, das sind zwei Eigenschaften, die dazu beitragen, aus dem kinematographischen Dekor einen der modernen Schönheit angemessenen Rahmen entstehen zu lassen. […]

Wenn sich das Kino nicht immer als der mächtige Beschwörer zeigt, der es sein könnte […], so rührt dies daher, dass die Regisseure, trotz eines gelegentlich ausgeprägten Gefühls für seine Schönheit, nichts von seinen philosophischen Bedingungen wissen. Ich wünschte, die Regisseure wären Poeten und Philosophen und ebenso die Zuschauer, die das Werk beurteilen. Um beispielsweise CHARLOT MUSICIEN wirklich schätzen zu können, halte ich es für unerlässlich, die Gemälde der ,Blauen Periode‘ von [Pablo] Picasso zu kennen und zu lieben, auf denen schmalhüftige Harlekine zusehen, wie sich elegant aufgerichtete Frauen kämmen.

Kommentar: Vgl. auch Harms: „Die Gesten der Menschen genügen nicht. Die Gebärde der Dinge muß hinzu. Jedes trägt die seine. Das macht Kino dem Theater so sehr überlegen”. (Harms 2009, S. 149).

Chaplin als Modell

Charlie Chaplin, The Vagabond (1916), Filmausschnitt

Das Kino als einzige Schule des Kinos, denken Sie darüber nach! Dort finden Sie nützliches Material, aber nur, wenn Sie zu unterscheiden wissen. Diese Neuigkeit ist gar nicht so vermessen: Charlie Chaplin erfüllt die Bedingungen, die ich stellen möchte. Sollten Sie ein Modell benötigen, so lassen Sie sich von ihm inspirieren. […] Das Dekor, dessen Elemente Chaplin um seine Figur anordnet, nimmt an der Handlung unmittelbar teil; nichts daran ist unnütz und nichts entbehrlich. Das Dekor ist Chaplins eigenste Weltsicht, einschließlich der Entdeckung der Mechanik und ihrer Gesetze, die dem Helden so zusetzen, dass in einer Umwertung der Werte jeder unbelebte Gegenstand zu einem Lebewesen wird, jede menschliche Person zu einer Aufziehpuppe, deren Schlüssel man finden muss. Gleich ob Drama oder Komödie, das liegt im Ermessen des Zuschauers, die Handlung kreist um den Kampf des Menschen mit der Außenwelt. Dieser versucht, den Schein zu durchbrechen oder sich zur Abwechslung von ihm narren zu lassen, und er entfesselt tausend soziale Katastrophen – als Konsequenz kleinster Veränderungen im Dekor. Ich fordere, den Aufbau des Dekors bei Chaplin zu studieren.

Weihe der Pfiffe

Ich habe das Publikum im Kino immer nur lachen hören. Es ist an der Zeit, ihm ins Gesicht zu schlagen, um zu erfahren, ob es Blut unter der Haut hat. Dem Kino fehlt noch die Weihe der Pfiffe, will es die Anerkennung der Leute mit Herz zu erringen. Verschaffen Sie sie ihm, damit endlich, die Reinheit zum Vorschein komme, die die Spucke löst!

Kommentar: Diese Forderung ähnelt einer Programmatik, wie sie später von Eisenstein (und in Absetzung zum Kino Vertovs) aufgerufen wird: „Was wir brauchen, ist kein Filmauge, sondern eine Filmfaust. Der sowjetische Film muß Schädel einschlagen“ und nicht nur „Millionen Augen versammeln”. Eisenstein, zit. n. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1 [1983], Frankfurt/M. 2013, S. 295, Anm. 11.

Wann werden wir vor der nackten Leinwand, allein unter dem Licht der Projektionslampe, endlich dieses Gefühl schauriger Jungfräulichkeit empfinden,

Das Weiß, die Sorge unserer Segel?

Oh, Reinheit, Reinheit!

Kommentar: Dieser letzte Vers entstammt Mallarmés Gedicht Salut, das dieser an den Beginn seiner Poésies, seinem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband, gestellt hat.

Anmerkungen:

[1] The child sees everything in a state of newness; he is always drunk. […] But genius is nothing more nor less than childhood recovered at will – a childhood now equipped for self-expression with manhood’s capacities and a power of analysis which enables it to order the mass of raw material which it has involuntarily accumulated.” Baudelaire, Charles: The Painter of Modern Life and Other Essays, hrsg. und übers. von Jonathan Mayne, London 1964, S. 8.

Kommentare: Leon Rohloff, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig