Film und Malerei (1938)
Wiedergabe in Auszügen aus: Kracauer, Siegfried: Film und Malerei, in: ders., Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt am Main 1974, S. 53-57, (Originaltext: Neue Zürcher Zeitung vom 15.05.1938). [NJ]
In der letzten Zeit sind in Paris zwei Kurzfilme gelaufen, die Gemälde reproduzieren: der eine, ein russischer Schwarzweißfilm, gibt einen Überblick über die Schätze der Eremitage; der andere, ein Farbenfilm, zeigt Bilder von Rubens und Meisterwerke der holländischen Malerei, Filme, die eine völlig überraschende Wirkung erzielen. Schon der Russenfilm entlockt den von ihm überflogenen Bildern Effekte, deren auch die beste Photographie bisher nicht fähig gewesen ist. Und was auf ihn zutrifft, gilt doppelt vom Farbenfilm, der schlechterdings eine Sensation bedeutet. Mit ihm erstehen zum erstenmal Reproduktionen, die das reproduzierte Gemälde zu neuen Aussagen zwingen.
Kommentar: Laut der kommentierten Ausgabe der Schriften Kracauers von Inka Mülder-Bach “handelt es sich vermutlich um den Wochenschaubericht SOJUZKINOZHURNAL [d.i. der Name der sowj. Staatswochenschau, auch: Sojuskinoschurnal (TH)], Nr. 54 (1938), über Ausstellungsobjekte der St. Petersburger Museen aus der Zeit Peter des Großen. In einem Brief an Iris Barry […] vom 14.4.1939 (KN) charakterisiert Kracauer den Film, der Anfang 1938 im Théâtre Pigalle gezeigt wurde, als ”un documentaire qui s’efforce à montrer les richesses de quelques musées russes – surtout l’Eremitage et encore d’autres musées à Leningrad.” (S. 214) Bei dem Film über Rubens handelt es sich um den ersten Farbfilm über Malerei, der je gedreht wurde. Der Film, der von René Huyghe, dem damaligen Kurator des Louvre verantwortet wurde und von der Firma ‚Art et Couleur‘ (Paris/Berlin) produziert, lief 1938 auf der Biennale in Venedig. René Huyghe / Jacques Jaujard, Rubens et son temps, F 1938, Farbfilm, 11 Min. (Savoy 2014, S. 114; Florisoone 1938). [JW]
Vorauszuschicken ist, daß beide Filme selbstverständlich auf die Wiedergabe der Bilderrahmen verzichten und von der Freiheit Gebrauch machen, außer dem ganzen Gemälde Details in Großaufnahme vorzuführen. Das Phänomen selber ist leicht beschrieben. Zunächst stimmen die Filmbilder darin überein, daß sie ein Leben ausstrahlen, das man nicht immer gleich im Original entdecken wird; geschweige denn in den herkömmlichen Projektionsbildern, die das Leben des Originals eher ersticken. Der russische Filmstreifen enthält einen französischen Frauenkopf, der dem 18. Jahrhundert entstammen mag: die junge Frau verfügt auf der Leinwand über eine solche Daseinskraft, daß der Beschauer nicht die Reproduktion des Gemäldes, sondern die seines Urbildes vor sich zu haben glaubt. Des Urbildes? Es ist vielmehr, als habe das Frauenporträt selber körperliche Existenz angenommen und sich dann filmen lassen. Und wer hundertmal weiß, daß dem Filmbild ein gemaltes Original zugrunde liegt, kann angesichts dieser Augen und dieses Lächelns nicht die Vorstellung los werden, das Original sei dem Gemälde entstiegen und erfülle einen imaginären Raum. In dem ausgezeichneten amerikanischen Farbenfilm: Vogues 1938 werden bei einer Modeschau lebende Bilder gestellt: die Mannequins sind vor dem hellen Hintergrund zu Silhouetten- Gruppen arrangiert, auf die allmählich Licht fällt, in dem sie sich zu regen beginnen. Keine andere Absicht scheinen im Film die Figuren der wirklichen Bilder zu hegen.
Eine Illusion, die dadurch vertieft wird, daß der Film mit einem Schlag das Vergangene in die Gegenwart rückt. Jene Frau hat nicht gelebt; sie ist von heute und lebt unter uns. Der Film aktualisiert die historischen Gemälde. Bis zu welchem Grade er dem zeitlich Fernen Nähe schenkt und Bildern, die selber nur noch mittelbar ansprechen, die Unmittelbarkeit zurückerstattet, verrät nicht zuletzt der bärtige Silen, der einer Rubens-Komposition entnommen ist. Man meint, ihm gestern über den Weg gelaufen zu sein. Fast hat es den Anschein, als bewältigte der Film des Gemäldes aus eigener Kraft eine Aufgabe, die der Kunstkenner dem Gemälde gegenüber vollbringt – die Aufgabe, durch die historisch gewordenen Bildelemente hindurch zur ursprünglichen Konzeption vorzustoßen. Jedenfalls sind die Filmbilder frei von Moderschichten, die erst abgedeckt werden müßten. Gerade die farbigen Reproduktionen brechen mit einer erstaunlichen Kraft ins Heute ein. Unter ihnen findet sich ein Landschaftsdetail, das einer besonderen Anmerkung bedarf.
Aus einer jener holländischen Landschaften, denen man in sämtlichen Galerien begegnet, holt der Film eine kleine Partie heraus, die Gebüsch, Ebene und Wolkenstreifen umfaßt. Man kennt das Genre: Seine Vorliebe für eine barocke Natur und seine immer wiederkehrenden blauen und grünen Töne. Nach dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß diese Großaufnahme durch ihre Frische die konventionellen Gepflogenheiten des Originals in Vergessenheit bringt. Wesentlicher aber noch ist, daß sie auch die bisherigen Leistungen des Farbenfilms auf dem Gebiet der Naturwiedergabe überflügelt. Der erwähnte Farbenfilm: Vogues 1938 setzt mit einer kurzen Schilderung des abendlichen New York ein, die unter dem Niveau der folgenden figürlichen Szenen bleibt und beinahe zum Glauben verführt, sie sei nicht nach der Natur, sondern nach Ansichtskarten hergestellt. Während das Landschaftsfragment, das faktisch auf ein Gemälde zurückgeht, die Impression hervorruft, daß es die Natur mit überzeugender Echtheit banne. Seine Wolken sind greifbare Gebilde, seine Farben von einer Natürlichkeit ohnegleichen. Ein kurioser Befund: die Naturreproduktion gemahnt an mindere Bilder, die Bildreproduktion beschwört die Natur herauf. Zweifellos erklärt sich diese Verkehrung nicht nur aus den technischen Schwierigkeiten, sondern vor allem daraus, daß die Natur ein diffuses Gemisch von Farben enthält, das sich höchstens zufällig einmal in einer für Reproduktionszwecke wirklich geeigneten Weise zusammensetzt. Lassen sich Kostüme, Gesichter, Interieurs auf ihre Farbwerke hin komponieren, so ist dem Farbenchaos der Natur nicht ohne weiteres beizukommen. Die hier erforderliche Selektion der Farben wird allein im Gemälde bewerkstelligt und nicht am Objekt.
Zwei Fragen drängen sich auf, deren zureichende Beantwortung in diesem Zusammenhang freilich nicht einmal versucht werden kann. Die eine: woher rührt das ungeahnte Leben, das die Gemälde in den Filmbildern erlangen? Bei seiner Entstehung – soviel läßt sich immerhin andeuten – spielen technische Faktoren wie die Art der Anstrahlung des Originals und die ganze Art seiner Fixierung im Verlauf des filmischen Reproduktionsprozesses eine sehr wichtige Rolle. Diese Faktoren gestatten es, Nachdunkelungen und Übermalungen zu eliminieren, schaffen gewisse Ausgleiche und können auch deshalb nicht ohne belebende Wirkung sein, weil sie das Standobjekt einem bewegten Objekt gleichsetzen. Einzukalkulieren ist ferner ein subjektives Moment. Der Organismus hat sich so daran gewöhnt, vom Film die Widerspiegelung der dreidimensionalen und aktuellen Realität zu erwarten, daß er diese Realität unwillkürlich auch dort unterschiebt, wo sie gar nicht gegeben ist. Indem das Gemälde wie irgendein Mensch oder ein Fahrzeug im Film auftritt, nimmt es ohne eigenes Zutun einen Realitätscharakter an, der desto unausweichlicher wird, je mehr plastische Gewalt dem Gemälde selber innewohnt.
Die andere Frage gilt der Bedeutung des Lebens, das der Film den bemalten Flächen abgewinnt. Stellt er nur das heraus, was sie wirklich bergen, oder verändert er ihre Gehalte? Die Großaufnahme des Silenkopfes reißt diesen mit einem solchen Ungestüm ins Dasein, daß sich der Verdacht regt, sie begnüge sich nicht mit der Reproduktion des Kopfes, gestalte ihn vielmehr aus und um. Wäre der Silen ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, so könnte jeder Photograph Bilder von ihm anfertigen, die weder die gewohnten Züge des Silens zu vergegenwärtigen, noch auch sich untereinander zu gleichen brauchten. Durch die Variation des Standorts und der Beleuchtung ist der Photograph tatsächlich in der Lage, das Aussehen eines körperlich anwesenden Modells nahezu beliebig zu wandeln. Aber der Silen ist gemalt, und als ein flächiges Gebilde duldet das Gemälde nicht den unbeschränkten Wechsel der Aufnahmebedingungen, sondern verlangt von vornherein aus einer bestimmten Perspektive und unter einer bestimmten Beleuchtung visiert zu werden. Das heißt, es verweigert sich jenen Verwandlungskünsten, die dem subjektiven Ermessen entspringen. Hieraus folgt, daß der Film – zumal der Farbenfilm – keine Gegebenheiten veranschaulicht, die nicht schon im Gemälde steckten; mag er auch mit Hilfe von Großaufnahmen Partien herauszuarbeiten, deren Akzentuierung besonders wünschenswert ist. Das Mehr an Lebensfülle und Gegenwartsnähe, das die filmische Reproduktion nicht selten vor ihrem Original vorauszuhaben scheint, ist also im wesentlichen die Frucht der Bekenntnisse, die das Original selber im Film ablegt.
Unter allen Umständen ist erwiesen, daß durch den Farbenfilm die Werke der Malerei dem Publikum auf eine sehr zeitgemäße, sehr eindringliche Weise nahegebracht werden können.
Schon jetzt steht fest, daß sich die großen Museen über kurz oder lang diesem Zustand der Dinge anpassen müssen. Sie werden zur Anlage von Farbenfilm-Archiven und vielleicht auch zur Errichtung von Vorführungsräumen genötigt sein; ihre ganze Funktion wird sich durchgreifend ändern. Eine Epoche hebt an, in deren Verlauf sie sich aus sogenannten Kunsttempeln zusehends in Forschungsstätten und Laboratorien verwandeln werden.
Filmtitel
Irving Cummings, Vogues of 1938, US 1937, Farbfilm, 109 Min.
René Huyghe / Jacques Jaujard, Rubens et son temps, F 1938, Farbfilm, 11 Min.
Literatur
Michel Florisoone, „Plastique et mouvement. Le cinéma recréateur de l’oeuvre d’art„, in: L’Amour de l’art, Nr. 9, November 1938, S. 345-349, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k42260458#
Siegfried Kracauer, Film und Malerei (1938), in: ders., Kleine Schriften zum Film. Band 6.3. 1932 – 1961, hrsg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 2004, S. 210-215.
Bénédicte Savoy, „Vom Faustkeil zur Handgranate“. Filmpropaganda für die Berliner Museen, 1934-1939, Weimar u. Wien 2014.
Kommentare: Nicole Jager, Jacqueline Katharina Weiß
Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig