Jacques Aumont

Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film

Wiedergabe in Auszügen aus: Aumont, Jacques: Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 1 (1992),  S. 77–89. Der Artikel beruht auf folgendem Text: Aumont, Jacques: L’œil interminable, erweiterte und aktualisierte Auflage, Paris 2007 [EA 1989]. [NJ]

Der Film – damit meine ich: der Film als Kunst – hat seit seinem Entstehen Beziehungen zu anderen Künsten unterhalten, mit bestimmten Künsten geflirtet und hat sich mit einigen von ihnen eingelassen. Mit Blick auf das Theater, seinen Bruder und Gegner, ist dies nur allzu offensichtlich; oder ebenfalls mit Blick auf die Literatur. Aber auch mit Blick auf die Musik oder die Poesie, worauf eine Vielzahl von Avantgarden, von der impressionistischen französischen Schule bis zum amerikanischen Undergrou[n]d Wert gelegt haben. Darüber hinaus fand sich das Kino als Institution im Konflikt mit anderen Institutionen oder bildete vorübergehende Allianzen mit ihnen, dies vor allem mit dem Schauspiel. Man konnte zum Beispiel nachweisen, daß der Western der Stummfilmzeit in einer engen Verbindung mit dem Vaudeville (Leutrat 1985) existierte oder daß die historische Funktion des italienischen Kinos der 30er Jahre auf dem Einsatz von Strategien der vokalen Präsenz gründete, von Strategien, die denjenigen des Vorkriegs-Mediums, des Radios glichen. Kurzum, der Film als Kunst, der Film/das Kino als Institution (und als Dispositiv) hat seinen Platz und seine Existenz in Relation zu anderen Künsten und anderen Institutionen – seien diese nun konkurrierend oder befreundet – immer wieder aufs neue definiert.Es ist vermutlich deutlich geworden, in welche Richtung meine Argumentation zielt. Bei diesen institutionellen Allianzen und bei dieser Suche nach künstlerischer Filiation (oder bei deren Leugnen) fehlt eine der Künste: die Malerei. Die Suche nach den Wurzeln des Films verläuft, als ob dieser – als visuelle Kunst par excellence und allgemein als solche anerkannt – keinerlei Anleihen bei der Malerei einzugestehen hätte und als ob einen Film zu sehen, nichts mit den Erfahrungen zu tun hätte, die wir machen, wenn wir ein Bild betrachten. Der Film hat die Malerei ignoriert, oder vielleicht hatte er Angst vor ihr, so sehr, daß er sie als möglichen Ursprung abgelehnt hat. (Diese Ablehnung fand auch ihren Niederschlag in Form von filmischen Fehlleistungen, z.B. in den pikturalen Pastiches, die zu produzieren sich der Film zu allen Zeiten berufen fühlte und deren kanonisiertes Beispiel etwa die faden und langweiligen ‚Zitate‘ der flämischen Malerei in Feyders KERMESSE HEROIQUE bilden.)

Jacques Feyder, La kermesse héroïque, F/DE 1935, S/W, 110 Min., Filmausschnitt

Glossar: Dispositiv, franz.: dispositif  (aus dem lat. dispositivo) = Anordnung 

Der Begriff Dispositiv wird in mehreren Zusammenhängen verwendet, um eine Regelung oder einen Mechanismus zu beschreiben, der für die Organisation oder Steuerung einer bestimmten Situation oder eines bestimmten Systems verantwortlich ist.

Im filmischen Kontext bezieht sich der Begriff Dispositiv auf die Gesamtheit der technischen, ästhetischen und narrativen Elemente, die zur Herstellung eines Films verwendet werden. Es umfasst die Kombination von Kameraarbeit, Beleuchtung, Ton, Schauspiel, Szenenbild, Schnitt und weiteren filmischen Komponenten, um eine spezifische filmische Erfahrung zu schaffen. Es berücksichtigt außerdem die Rezeption des Films durch das Publikum und die Wechselwirkung zwischen Film und BetrachterIn. Da dies technische und ästhetische Aspekte miteinander verbindet, wird eine einzigartige filmische Sprache entwickelt. (Literatur: Kirsten, Guido. Dispositiv, in: Das Lexikon der Filmbegriffe, Universität Kiel, 2022, URL: https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/d:dispositiv-7749) [MW+KE]

Was die Theorie des Films betrifft, so scheint sie den Film und die Malerei – so selten dies auch der Fall gewesen sein mag – einzig und allein miteinander verbunden zu haben, um sie besser gegeneinander stellen und voneinander unterscheiden zu können. Selbst ein Bazin, der leidenschaftlich das verteidigt, was man von der Kontamination des Films durch die Kunst der Worte weiß, widmet dem Vergleich des Films mit der Malerei nur einen kurzen Artikel, um beide wechselseitig in ihrem Gegensatz zu beleuchten. Der Film ist keine Malerei, so hat man es wiederholt geäußert (oder jahrzehntelang mit Blick auf diese Frage geschwiegen). So ist es dann auch nur konsequent, daß der Zeichentrickfilm, dieser unentschlossene Zwitter und Bastard, zusammen mit all den anderen ‚Störenfrieden‘, etwa den experimentellen Filmen, immer an den Rand der Filmgeschichten und -theorien gedrängt wird.

Kommentar: Die Geschichte des Animationsfilms ist eine faszinierende Entwicklung, die von den per Hand gezeichneten Bildern über Stop-Motion-Techniken bis hin zur digitalen Animation reicht. Der Animationsfilm geht dem Realfilm historisch voraus, denn bereits 1825, bevor man versuchte Fotografieren „Frame-bei-Frame“ aneinanderzureihen, um eine bewegte Abfolge dieser zu kreieren, wurden unter anderem Techniken wie das Thaumatrop [Link] oder Phenakistiskop (auch: Phantasmaskop) [Link] bekannt, mit denen bereits die Illusion bewegter Bilder  erzeugt werden konnten. Eine Weiterentwicklung dieses Phänomens stellt der Zeichentrickfilm dar, die früheste Form des animierten Films, bei dem jede einzelne Zeichnung per Hand erstellt wurde. Die Tricks zur Herstellung von Animationen, wie zum Beispiel die bekannte Stop-Motion-Technik, wurden im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert, wobei die zumeist grafische Darstellung der Elemente als Basis verblieb. Fotografische Bilder wurden erst deutlich später verwendet. Nach Lev Manovich ist der gezeichnete und nicht der fotografische Film der eigentliche Ursprung für das digitale Kino der Gegenwart, wobei die Animation “ihren künstlichen Charakter in den Vordergrund” stellt sowie einräumt, “daß ihre Bilder nur Repräsentationen sind. Ihre visuelle Sprache ist mehr mit der Grafik als mit der Fotografie verbunden“. Auch das digitale Kino der Gegenwart benötigt ein großes Team von Grafikern und 3D-Artists: “Heute werden einige der raffiniertesten digitalen Effekte oft mit der gleichen einfachen Methode erzielt: durch mühsame manuelle Veränderung von Tausenden von Bildern. […] 90 Minuten, d.h. 129600 ganz neu gemalte, aber vom Aussehen nicht von der normalen Fotografie unterscheidbare Bilder.” Die fotografische Aufnahme ist nunmehr nur ein “Spezialeffekt” des Digitalen Kinos. “Der Film wird zu einem besonderen Teil der Malerei, zum Malen in der Zeit.” [Link] [KE]

Seit einigen Jahren allerdings, man könnte behaupten, in dem Maße, wie sich das Kino zunehmend seines bevorstehenden Ablebens bewußt wird, nimmt der Diskurs eine umgekehrte Richtung: Kritiker, Cinéasten und Theoretiker scheinen sich (zumindest in Europa) einig, daß ganz im Gegenteil der Film oder Bereiche des Films, gewisse Momente des kinematographischen Handelns oder gewisse Merkmale bestimmter Filme, sehr wohl etwas mit der Malerei zu tun haben, wenn sie nicht schon gleich als Malerei etikettiert werden. Dies ist auf eine ebenso symptomatische wie unabgestimmte Art und Weise der Fall. Der neue Trend ist übrigens viel zu disparat, um durch einen einzigen Faktor hinlänglich erklärbar zu werden, und noch schwieriger wäre es, seinen Ursprungsort exakt zu bestimmen. Jean-Luc Godards Film PASSION hat sicherlich mit seiner beeindruckenden Arbeit über die mise en scene der großen darstellenden Malerei des Westens sehr viel dazu beigetragen, Spekulationen zu nähren. Godard hat den Spielball – eher in seiner Rolle als Kritiker und Theoretiker denn als Cinéast – selbst auch sogleich wieder aufgenommen, und sein Videofilm SCENARIO DU FlLM PASSION, den er ein Jahr nach dem Film produzierte, ist unter anderem eine der erhellendsten Äußerungen, die je zu dieser Frage gemacht wurden und die sich mit dem so eingängigen Gleichnis und der so einleuchtenden Gleichsetzung von der Filmleinwand und der Leinwand des Gemäldes befassen. Dennoch kann nicht allein Godard die Vaterschaft und die Entdeckung dieser Fragestellung zugeschrieben werden. Es gibt selbstverständlich eine Reihe von Malern (z.B. Jacques Monory), von Historikern (etwa Bouvier/Leutrat 1981 über Nosferatu), von Kritikern (insbesondere in den Cahiers du cinéma), von Kunsthistorikern (wie Hubert Damisch), von Journalisten, die sich mit unserem Thema in einer Weise beschäftigt haben, als ob dies geradezu auf der Hand läge.

Kommentar: Jean-Luc Godard lässt in Passion (1982) den polnischen Schauspieler Jerzy Radziwilowicz als Regisseur Jerzy auftreten. Dieser dreht in der französischen Provinz einen Film, dessen zentrales Merkmal die Darstellung von reinszenierten Kunstwerken Delacroix‘, Rembrandts, Goyas und weiteren Künstlern ist. Scénario du film Passion (1982) ist ein Video-Film über den Entstehungsprozess von Godards kurze Zeit zuvor fertiggestellten Film Passion. Godard legt darin seinen kreativen Schaffensprozess offen, indem er in lyrischen Gedankensprüngen und in assoziativer Art und Weise die „weiße Leinwand“ inmitten seines Schnittplatzes mit videotechnisch eingeblendeten Bilderns füllt. Er deckt auf, wie er Bilder schafft, bzw. wie sie sich interpretieren lassen. Zum Beispiel die Szene, in der die gekündigte Arbeiterin Isabelle im raschen Wechsel mit Goyas Gemälde der Erschießung der Aufständigen gezeigt wird, während Godard erläutert, dass er hiermit die Macht bzw. Ohnmacht darstellen wollte, der sich Isabelle ausgesetzt sieht. [DB]

Welche Beziehungstypen sind nun für das Verhältnis von Film und Malerei denkbar? Ich werde mich natürlich vor der Anmaßung hüten, in einem kurzen Artikel bessere Antworten formulieren zu können, als sie in all den Unternehmungen, die ich bereits erwähnt habe, zu finden sind. Überdies ist es nur allzu wahrscheinlich und naheliegend, daß die Konturen des Problems, so wie ich es artikuliert habe, nur äußerst vage erscheinen können. Der Film und die Malerei sind viel zu offene Begriffe – immer in Gefahr, substantialistisch definiert und verstanden, anstelle historisch spezifiziert zu werden.

Ein Sachverhalt ist jedoch klar: Der Film (oder besser gesagt, der Typus künstlerischer Praxis, den man gemeinhin als „Film“ bezeichnet) war niemals ein wirklicher Zeitgenosse der Malerei (unseres 20. Jahrhunderts). Mit der bemerkenswerten, aber in ihrer Erscheinung dennoch sehr begrenzten Ausnahme des sogenannten Expressionismus, befanden sich die einzigen Berührungspunkte zwischen dem Film und der zeitgenössischen Malerei in Institutionen, die im Kontext des Filmbetriebs minoritär waren. Damit müssen diese Minderheiten natürlich nicht sogleich als uninteressant erscheinen, allerdings können sie nicht als wirklich repräsentativ für die Kunst des Films betrachtet werden. Wenn nun Film und Malerei in Beziehung zueinander oder vielmehr in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, so impliziert dies weder ein Plagiat der einen Kunst durch die andere noch ein paralleles Arbeiten über gemeinsame Problemstellungen, sondern einzig die Wiederaufnahme von Fragen, Konzepten, Prinzipien, die im Laufe der Geschichte der repräsentativen abendländischen Malerei (zum größten Teil vor der Erfindung des Kinos) entwickelt wurden, durch den Film oder vielmehr durch die Kunst des Films als visueller und narrativer Kunst.

Ich werde auf diese Ungleichzeitigkeit, die von großer Bedeutung für eine korrekte Annäherung an unsere Fragestellung ist, zurückkommen. Sie bildet den Rahmen meiner Reflexionen. Den Film aus der Perspektive der Malerei und mittels deren Kategorien zu betrachten, heißt drei Gruppen von Fragen, die m1temander verbunden sind, zu stellen: Zunächst die grundlegende Frage nach der Geschichte oder genauer gesagt die Frage nach der einzigen historischen Ebene, wo sich beide treffen können, der Ebene des Sichtbaren. Das Sichtbare und Wahrgenommene wird in der Tat historisch definiert, und das, was ich (mit Michael Baxandall 1972) das Auge des 19. Jahrhunderts nennen werde, ist sowohl das Produkt der Funktionsgeschichte. der Malerei als auch die ideologische Grundbedingung der Erfindung des Kinos. Dann stellt sich die Frage der mise en scene, der Dramatizität (wenn dieser Neologismus gestattet ist) und damit letztendlich auch die der Fiktion .. Wenn die offensichtlich plastischsten Formen des Films marginal bleiben, dann unter anderem deshalb, weil sich der Film nahezu gänzlich und mit Vehemenz dem Erzählen zugewandt hat. Davon ausgehend, müssen wir das, was in der Malerei zum Narrativen gehört, d.h. zum Drama und zum Theater, neu in Augenschein nehmen. Schließlich sind wir noch mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Pikturalem und filmischem, auf der Ebene des. Materials und der Figuration (der bildlichen Darstellung), konfrontiert – eine konkretere Frage, die aber nur dann gewinnbringend gestellt werden kann, wenn der ‚Um-Weg‘ über die ersten beiden gegangen wurde und wenn so vermieden wird, in die gewohnten Banalitäten und in die Sackgasse aller Reflexionen über den Film als belebte Malerei zurückzufallen. […] Der Film erweist sich als Erbe der Malerei, aber als perverser und exzessiver Erbe. Der Maler und der Photograph, sein feindlicher Bruder, hatten sich das Recht erkämpft, ihr Auge in der Natur schweifen zu lassen, aber dies immer unter Beibehaltung einer geziemenden und vernünftigen Distanz. Die Kamera besteht auf diesem Recht bis in seine letzte Konsequenz, sie mißbraucht es (ist es das Schicksal des Films, die Malerei zu mißbrauchen?). Sie geht sogar so weit, die Humanität, die bislang immer die von der Malerei oder vom Photo eingenommene Distanz kennzeichnete, aufzugeben, um bis zur Obszönität in inhumane Distanzen einzudringen.Mit Blick auf dieses Phänomen erscheint auch der alte Gemeinplatz von der Ablösung der Malerei durch den Film in einem neuen Licht: der Film vollendet in Perfektion die Handhabung des point of view, wie er von der Malerei entwickelt wurde. Es wäre sehr hilfreich, wenn es den englischen Begriff des vantage point in der deutschsprachigen Filmtheorie gäbe, den vantage point als guten und vorteilhaften Blickpunkt, der die visuelle Situation meisterlich konstituiert, sie befreit und vermittelt. Während eines jeden Augenblicks im Film gilt es, Vorzugsperspektiven zu produzieren – so vorteilhafte Blickpunkte, daß sie keinen einzigen Rivalen dulden. Genau aus diesem Grund war der Zuschauer des Films (des ambitionierten, künstlerischen Films) zur Unbeweglichkeit verurteilt, wie der Betrachter eines Panoramas oder der Reisende am Fenster seines Zugabteils.

Kommentar: Zum Panorama siehe hier: Link Glossar: Der Begriff point of view oder auch subjektive Kamera, bezieht sich im filmischen Kontext auf die Perspektive, aus der eine Szene oder Handlung im Film präsentiert wird und  bezeichnet die subjektive Sichtweise eines Charakters oder einer Kamera auf das Geschehen, um es dem Publikum zu ermöglichen, sich mit den Erfahrungen und Emotionen des Charakters zu identifizieren. 

Der point of view ist folglich ein wichtiges filmisches Werkzeug, um das Publikum in die Handlung einzubeziehen und eine immersive Erfahrung zu schaffen, denn dadurch kann der Regisseur die Perspektive und Wahrnehmung des Publikums lenken und so die emotionale Resonanz verstärken sowie die Erzählung intensivieren. (Literatur: Lahde, Marcel. “point-of-view-Shot“, in: Das Lexikon der Filmbegriffe, Universität Kiel, 2022, URL: https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/p:pointofviewshot-2453)

Unter dem Begriff vantage point versteht man den Blickwinkel oder die genaue Position, von der aus eine Szene oder ein Ereignis im Film präsentiert wird, es bezeichnet also den Standpunkt, von dem aus das Geschehen (von der Kamera) beobachtet wird. Die bewusste Wahl des vantage points ermöglicht es dem Regisseur, die visuelle Darstellung, die Perspektive des Publikums, die emotionale Wirkung der Szene, bestimmte Atmosphären, sowie die Themen des Films zu steuern. (Literatur: Wulf, Hans Jürgen. “angle of view“ in: Lexikon der Filmbegriffe, Universität Kiel, 2022, URL: https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/a:angleofview-69; Wulf, Hans Jürgen, “Kameraperspektive” in: Lexikon der Filmbegriffe, Universität Kiel, 2022, https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/k:kameraperspektive-220) [MW+KE]

Wir können an dieser Stelle als erste These formulieren: Malerei und Film partizipieren an ein- und derselben ideologischen (oder, wenn wir einen anderen Begriff vorziehen, mythologischen) Konfiguration, der des variablen Auges. Sie sind zwei institutionell beständige Dreh- und Angelpunkte dieser Konfiguration. Als Konsequenz unserer ersten These ergibt sich die Variabilität als Mobilität, d.h. das, was wir mit dem paradoxen Resultat der Erfindung des beweglichen Blickpunktes als Zwangs-Blickpunkt bezeichnet haben. Aber das variable Auge impliziert auch einen zweiten Sachverhalt der in direkter Beziehung zur Zeitlichkeit steht: in Beziehung zur Repräsentation der Zeit und zur Zeit der Repräsentation. Malerei und Zeit: altbekannter Fallstrick im Dickicht der Theorien über den die Forscher in periodischen Abständen stolpern und dessen Koordinaten gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dem berühmten Lessingschen Diktum vom schöpferischen Augenblick deutlich markiert wurden. Lessings These ist es, so bekannt sie auch sein mag, immer noch wert, wiederholt zu werden. Die Malerei habe die Fähigkeit, ja die Aufgabe, das Ganze eines Ereignisses, einschließlich seiner fundamentalen Bedeutung, so zu repräsentieren daß dies mit Hilfe der Repräsentation eines – d.h. eines einzigen – gezielt–  und sorgfältig ausgewählten Augenblicks des Ereignisses geschehen könne, eines Augenblicks, der bedeutender sei, als all die anderen. (Es ist sicherlich kein Zufall, wenn das Englische aus der lateinischen Wurzel des französischen Adjektivs pregnant, das Wort pregnancy, Schwangerschaft, herausgebildet hat: der schöpferische Augenblick [l’instant pregnant] trägt bereits jedes Ereignis als Keim in sich.)

Kommentar: Aumont bezieht sich hiermit auf die These in Gotthold Ephraim Lessings Buch Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie aus dem Jahr 1766. In diesem Werk beschreibt er die Laokoon-Gruppe, welche bereits in der Antike von mehreren Autoren beschrieben wurde und in der frühen Neuzeit wiederentdeckt wurde und dadurch einen erheblichen Einfluss auf die Kunst der Renaissance hatte. Lessing macht an der Statuengruppe seine These des Diktums vom schöpferischen Augenblick deutlich. Dabei soll es sich um eine Form der Darstellung handeln, in der die gesamte Handlung einer Geschichte, in diesem Fall der des Laokoon und seiner Söhne, in nur einem bewegten Augenblick dargestellt wird. Lessing stellt sich damit in Konkurrenz zu Winckelmann, dem Gründer der Klassischen Archäologie, sowie anderen Autoren der Aufklärung wie Johann Christoph Gottsched, Johann Jacob Bodmer und Johann Jakob Breitlinger. Diese gingen davon aus, dass Kunst und Dichtung miteinander in Zusammenhang stehen und miteinander vergleichbar sind. Lessing dagegen geht davon aus, dass Dichtung aus aufeinanderfolgenden Worten besteht im Gegensatz zu Malerei und Bildhauerei, die aus nebeneinander existierenden Farben und Formen besteht und daher nicht vergleichbar sind.

Rudolf Arnheim untersucht in seinem Text Der Neue Laokoon die Verbindung von Bild und Wort im Theater und Sprechfilm. Übertragen auf den Film ließe sich Arnheim zufolge argumentieren, dass im Film eine Verbindung zwischen Kunst (im Sinne von Malerei) und Dichtung (im Sinne des gesprochenen Wortes) möglich werde. Ähnlich wie das Theater verbindet der Film Bild und Wort miteinander und bildet somit eine ganz neue Form der Darstellung, in der die Grenze der jeweiligen Systeme überschritten werden. Die Kunst besteht darin, eine Einheit aus beiden zu bilden. [CS]

Der Film ist keine Kunst des Schnappschusses. Er ist die erste Technik der Repräsentation, die erste Kunst, die ausschließlich und von ihrer Anlage (ihrem Dispositiv) her nur ein Mittel der Enthüllung und der Bild-Entwicklung sein kann. Wenn Malerei und Photographie in sich (die) Zeit einschliessen, dann nur in metaphorischer Art und Weise (die Zeit in-formiert diese Repräsentationen). Die Einstellung, die kinematographische Ansicht, ist im wörtlichen Sinne von der Zeit modelliert, sie ist eine Form der Zeit- und dies manifestiert sich auch in den augenfällig banalsten Details, wie etwa der Geschwindigkeit, mit der die Handkurbel des Projektors gedreht wird, und der starken Deformation, welche die alten Filme auf modernen Apparaten erfahren, mit dem bekannten Resultat ihrer De-Rhythmisierung. Der Film hat sich also sehr bald daran gemacht, als Konsequenz eines ganz logisch scheinenden Umkehrschlusses – oder eines zumindest unter den historischen Bedingungen logisch scheinenden Umkehrschlusses -, eine Synthese zu suchen, indem er das Erbe einer pikturalen Problematik antrat. Ich möchte hier nur kurz auf einen besonders aussagekräftigen, ja fast schon karikativen Augenblick dieses filmischen Bemühens hinweisen. Als Eisenstein sich vorgenommen hatte, Marxens Kapital zu verfilmen, und als er die unüberwindbare Schwierigkeit erkannt hatte, in direkter Weise Konzepte auf die Leinwand zu bannen, stieß er genau auf dieses Problem: Wie kann ich die Kraft der Enthüllung, der direkten und unmittelbaren Evokation der gefilmten Sache und den Hauch von Authentizität der Orte, in Einklang bringen mit der zeitlichen/ideellen Synthese, mit der Zuschreibung einer Bedeutung und mit einer Interpretation des Gezeigten?

Kommentar: Sergej M. Eisensteins Filme sind Ausdruck seines politischen Kunstverständnisses: Er vertrat die Auffassung, Kunst dürfe schlechte (Lebens-)Umstände nicht beschönigen, sondern sie müsse die Rezipient*innen von ihren Illusionen befreien, damit diese eine politische Revolution initiieren können. Seine Filme enthalten deswegen stets eine gesellschaftskritische Haltung. Um diese wirksam umzusetzen, etablierte er die Montage-Technik, die mit den bekannten Sehgewohnheiten der Filmbetrachter*innen brach und damit die kritische Reflexion des Gesehenen filmtechnisch unterstützte.

Ein Großprojekt im Sinne dieses politischen Ansatzes war Eisensteins Versuch der Verfilmung von Karl Marx‘ Das Kapital. Ideologisch stimmte der Stoff mit Eisensteins politischer Haltung überein, er bot jedoch nicht von sich ein Narrativ, das sich filmisch hätte gut umsetzen lassen können, da es sich nicht um einen klassisch erzählbaren Stoff handelt, sondern um eine theoretische Schrift, deren Umsetzung nicht nur auf das Auge, sondern auch auf den Verstand wirken soll. Neben der Montage wollte sich Eisenstein an den literarischen Erzählstrategien des irischen Schriftstellers James Joyce orientieren und diese für das Kino fruchtbar machen. Ähnlich assoziativ wie in „Ulysses“ hätte Eisensteins Verfilmung des Kapitals aussehen sollen, bei der einzelne Filmsequenzen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten in einer arbiträren Ordnung arrangiert worden wären. Wie in „Ulysses“ hätte in einem Teil des Filmprojekts das Alltagsleben eines Arbeiters im Vordergrund stehen sollen. Um dieses soll jedoch keine Geschichte gespannt werden, sondern schlaglichtartig wären Fragmente des Lebens herausgegriffen und weiterverfolgt worden. Die Wirkmechanismen des Kapitalismus und die destruktive Macht des Wirtschaftssystems hätten inhaltlich entlarvt und die Rezipient*innen zur dialektischen Auseinandersetzung angeregt werden sollen, wobei sich Eisensteins Stil der Ironie und der Groteske bedient hätte. Er konnte das Filmprojekt jedoch nie realisieren, was nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Kritik seiner Zeitgenossen am Projekt zusammenhängt. Stattdessen nahm sich Alexander Kluge 2008 in seinem Filmessay Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital der Thematik an. Er beleuchtet in dem fast zehnstündigen Filmessay Eisensteins Vorhaben und wagt selbst einen Versuch der Realisierung des Projekts. Diskutabel bleibt dabei, inwiefern die Realisation von Kluge tatsächlich der Vision Eisensteins entspricht oder nicht vielmehr das Ergebnis seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Stoff sind (vgl. Kannapin). [JW]

Die Lösung des Problems ist bekannt: Es ist die Montage. […] Nichts ähnelt visuell der kinematographischen Montage; nichts verändert in unserem Alltag alle seine Charakteristika so gänzlich und brutal, wie das filmische Bild (und nichts produzierte diesen Effekt in den Spektakeln, die die Vorläufer des Kinos waren, selbst nicht in denen, die sich die Veränderung des Bildes zunutze machten).  Auf einer anderen Ebene indes, der intellektuellen, war die Montage immer anerkannt. Selbst wenn man bisweilen das Urteil über sie sprach „sie schädige und verderbe die Augen“, wurde sie schon sehr bald nicht nur als Repräsentation einer visuellen, sondern auch geistigen Aktivität verstanden. Einer Bewußtseinstätigkeit, die wahrscheinlich kognitiver Art sein mußte, wie es heute fast alle Modelle visueller Wahrnehmung suggerieren. Montage als Diskurs, das ist das Thema, welches von den sowjetischen Cinéasten der heroischen Epoche immer wieder aufgegriffen wird und welches im Zentrum der Reflexion über die Frage der Montage steht […]. […] Der visuelle Sprung, der eine andere brutale Manifestation des variablen Auges ist, fordert und provoziert eine besondere Herrschaft des Blicks. Auf einer Diskontinuität im Innern einer Kontinuität aufruhend (was sie wieder einmal zur gänzlich neuen Erscheinung macht) wurde diese Herrschaft des Blicks in Ermangelung einer wirklichen Theoretisierung z.B. mit dem von. Vertov vorgeschlagenen Begriff des Intervalls bezeichnet. Ein Begriff, der ein wenig schwammig ist, der als recht mysteriöse Metapher der Musiksprache entleh[n]t wurde, der aber dennoch in treffender Weise auf die Distanz, auf den Abstand zwischen zwei sukzessiven Filmbildern verweist. Das Intervall ist gleichzeitig ein schwarzes Loch (ein Nichts, ein Mangel, eine Lücke zwischen aufeinanderfolgenden Aufnahmen) und ein Abstand (eine signifikante Differenz). Für Vertov ist das Verknüpfen von Einstellungen immer gleichzeitig die Konstruktion eines Parcours des Bewußtseins und eines visuellen Parcours, wobei letzterer das möglichst exakte Mittel zur Erlangung des ersteren darstellt. Wenn mir nun das Vertovsche Intervallmodell suggestiver zu sein scheint als die rationaleren und elaborierteren Vorschläge zum Problem der Montage (von Eisenstein bis zur ‚klassischen‘ Semiologie), so gibt es dafür zwei Begründungszusammenhänge. Der erste liegt im Insistieren dieses Modells auf der Notwendigkeit eines stillschweigenden Einvernehmens zwischen der Reproduktion einer Welt, die unseren Sinnen zugänglich ist, und ihrem Verständnis und ihrer Interpretation. Der zweite liegt im Insistieren auf den Sprüngen, den Lücken der Wahrnehmung (dort, wo Eisenstein auf der Fülle, auf der positiven Konstruktion des Sinns und der Bedeutung insistiert).Die Malerei (oder die Photographie) treffen in der Tat quasi automatisch auf die genannte Modalität des Intervalls, wenn sie die Repräsentation der Veränderung in der Zeit frontal angehen wollen. Erstaunlicherweise tauchen die pikturalen ‚Sequenzen‘ genau zur selben Zeit auf wie das Phänomen, von dem wir gerade sprachen. (Ich meine hier natürlich nicht Sequenzen einer ganz anderen Art, etwa der Gattung Kreuzgangmalerei, bei welcher der zeitliche Abstand zwischen zwei Bildern alles andere als meß- oder fühlbar ist.) Dies ist übrigens ganz logisch, da der Zweck der Übung ja darin besteht, nicht allein den visuellen Aspekt des Motivs zu fixieren, sondern vor allem die atmosphärischen und in gewisser Weise zeitlichen Begleitumstände der Repräsentation. Was ereignet sich zwischen zwei Zuständen desselben Gegenstandes/Subjekts? Z.B. zwischen zwei Ansichten des Monte Cavo in den Wolken die erklärtermaßen kurz nacheinander am selben Tag gemalt wurden? Abgesehen von der Mikro-Narration, die sich zum Teil einstellt, ist der entscheidende Effekt gerade jener des Zwischen-den-Bereichen-Liegens, des Intervalls. Ein Effekt, der zugleich kognitiver (es findet eine mentale Leerstellenfüllung mit Blick auf die Repräsentation statt) als auch visueller Art ist. Dies ist ein Effekt, den ich an anderer Stelle Eklipse oder Verdunkelung des Blickes genannt habe.

Kommentar: Es handelt sich um die folgenden beiden Gemälde des französischen Malers Pierre-Henri de Valenciennes (1750-1819):

Pierre-Henri de Valenciennes, Bei Rocca di Papa, Der Monte Cavo in Wolken, 1782-84. Öl auf Papier, 15,1 x 28,5 cm. Musée du Louvre, Paris. lnv. Nr. R.F.2941 [ConedaKor] und Der Monte Cavo von Wolken verhüllt, 1782-84. Öl auf Papier, 14,4 x 29,7 cm. Musée du Louvre, Paris. lnv. Nr. R.F.2938 [ConedaKor].

Wir wissen, daß die Malerei noch andere Modalitäten des multiplen Bildes kennt, dies gilt insbesondere für das zusammengesetzte Bild und für den Einschluß verschiedener Repräsentationen in einem einzigen Bild. Die wohl bekanntesten historischen Beispiele für dieses Verfahren finden sich im ‚analytischen‘ Kubismus oder im Futurismus mit ihren Gemälden, in denen das Objekt in eine Vielzahl von Blickwinkeln de-konstruiert wird, um dann als Collage (sei sie nun real oder imaginär) re-konstruiert zu werden. Diese Gemälde – oder ebenso gut die photographischen Collagen und Montagen, z.B. die unlängst erschienenen von David Hockney – bieten dem Auge ein einzigartiges und komplexes Bild. Ein Bild, das nichts mehr mit dem Schnappschuß gemein hat; das Auge ist in Netzwerken, in zahlreichen und variablen Kreis-Bewegungen gefangen, und das Werk selbst liefert dem Betrachter weder Schlüssel noch vorgezeichnete Wegstrecken.Bei all diesen Formen der Malerei (einschließlich derer, die mittels Photographien realisiert werden) bildet sich auf der Basis des Intervalls ein variabler Blick des Typs Film heraus. Die Kunst- und Mediengeschichte kann hier als in sich perfekt abgerundet betrachtet werden: Die Befreiung des Blicks, seine Mobilisierung, die von der Malerei am Rande des 19. Jahrhunderts eingeleitet wurde, kehrt zu ihr zurück, sie kehrt um diese weitere Befreiung (nämlich die Eklipse des Blicks im Intervall) bereichert zurück. Wenn sich die Futuristen noch damit bescheiden, Mareys chronophotographische Dekompositionen platt zu imitieren, so versucht der Kubismus offen, sich die Montage einzuverleiben und sie zu transponieren. Beide und all die Nachfolger, die sie immer noch haben, versuchen in das pikturale Werk etwas von der Zeit seiner Kontemplation einzubringen. Wie ich eingangs bemerkt habe, sehen wir hier, daß es sich bei diesem Phänomen weder um ein Plagiat, noch um Einflußnahmen handelt, sondern vielmehr um die verschiedenartige Manifestation gemeinsamer Probleme oder besser eines großen gemeinsamen Problems, nämlich der raum-zeitlichen Variabilität des Blicks auf das, was unserer Sicht zugänglich fist.

Kommentar: Der Futurismus begann mit einem Manifest, das sich ausdrücklich gegen die Traditionen in Kunst und Literatur richtet. Inspiriert von dem Aufkommen der Technisierung will jener in der Malerei die Simultaneität eines Objektes mit oder einer Bewegung darstellen. Dabei entsteht ein surreales Bild von Gleichzeitigkeit, das aus Einzelansichten komponiert wird. Als Beispiel sei Umberto Boccioni genannt, dessen Bild: Der Lärm der Straße dringt ins Haus (Öl auf Leinwand, 1911, 100 x 100,6 cm, Sprengel Museum in Hannover), einerseits die Arbeiten am Bau und den Lärm, der dadurch entsteht vermittelt. Dabei wird Zeit mit abgebildet, da die Abläufe der dynamischen Bewegung des Bauens in Einzelteile zergliedert wurden.

Der Kubismus hingegen reduziert die gemalten oder bildhauerisch gestalteten Objekte auf geometrische Figuren, die wiederum in den formalen geometrischen Bildaufbau eingefügt werden. Die meistgewählten waren Kreis, viereckige Formen und Dreiecke. Als Beispiel sei Die Dryade (Öl auf Leinwand, 1908, 185 x 108 cm, Das Museum der Staatlichen Eremitage, St. Petersburg) von Picasso genannt. 

Für Kasimir Malewitsch ist der Film die Weiterentwicklung der neuen Malerei mit den Prinzipien: Gegenstandslosigkeit und Dynamismus. (Vgl. Malewitsch 1997. S. 12) Die reine Abstraktion kann zu neuer Form führen, die Grundlage einer neuen dynamischen-kinetischen Struktur wird. Dennoch hinkt der Film, welcher mit der Malerei gleichberechtigt sein könnte, noch hinter dem Kubismus, Impressionismus und Suprematismus hinterher. Der Kubismus ist deshalb so fortschrittlich, da er sich bereits des Inhalts befreit und der Form zuwendet. Der Suprematismus, den  Malewitsch  fordert, ist die Abwendung von der Gegenständlichkeit der Darstellung, den konkreten Dingen. Für ihn sind bevorzugte Grundformen: Quadrat, Kreuz und Kubus (Malewitsch 1997 S. 17). Mit diesen Formen wird der Film  “eine räumliche Art des Suprematismus und ein Modell für die neue visuelle Kultur und die alten Künste“ (Malewitsch 1997, S.17f.). Die Beispiele können zwei- und dreidimensional gesehen werden. [FS]

Ich formulierte zu Beginn dieses Artikels: Es ist paradox, daß sich der Film piktural geben möchte, wenn dieser Anspruch nur auf das Feld der plastischen Erscheinungen zielt. Bild für Bild ist der Film dem photographischen Bild nahe – nicht aufgrund irgendeiner Ontologie, sondern weil es die Filmgeschichte so beschlossen hat. Wenn der Film eine Beziehung zur Malerei hat, dann nicht als simple Übersetzungs-Relation, welche die Kamera mit dem Pinsel gleichsetzt, den Film mit dem Gemälde, sondern vielmehr im verborgensten und implizitesten Bereich der Kunst, welcher es notwendig macht, der gemeinsamen und differenten Geschichte künstlerischer Praxis Rechnung zu tragen. Wenn ich den größten Teil dieser Seiten einer (immer noch zu kurz greifenden) Erörterung von Erscheinungsformen und Prinzipien gewidmet habe, die bei weitem über den Rahmen rein film- oder malereispezifischer Probleme hinausgehen, dann geschah dies im Bewußtsein, daß es nicht mehr möglich ist, die Beziehung zwischen diesen beiden Künsten in der Art der klassischen Ästhetiken abzuhandeln, nämlich als Suche nach ‚Korrespondenzen‘ oder Filiationen.

Gewiß, der Film als Kunst weckt das Interesse der Malerei – aber als autonome, als Film-Kunst (und sei es in Farbe oder maniriert). Nichts ist unangebrachter als die Idee einer siebten Kunst, zumindest wenn wir darunter die Summe und Synthese aller anderen Künste verstehen und nicht über das simple Verfahren einer reinen Aufzählung hinausgehen, wie es etwa Canudo und andere vorschlugen. Das, was uns die Untersuchung des Verhältnisses von Malerei und Film lehrt, ist unter anderem gerade der Sachverhalt, daß die Malerei nicht als konstituierte Kunst in den Film eingeschlossen ist, sondern daß sie in ihre Konstituenten aufgespalten wurde, und daß der Film keine Synthese wovon auch immer ist.Eine letzte Bemerkung. Die Cinéasten von heute (und ich meine jene, die außer rein ökonomischen Zielen noch bewußt andere Ziele im Auge haben) fragen sich, wie ihr sozialer und institutioneller Status zu begreifen ist. Sind sie Autoren? Doch heute, wo beinahe jeder ein Autor ist, scheint es nicht unbedingt vielversprechend, diesen Anspruch zu erheben. Sind sie Künstler? Noch nicht; dazu müßten sehr viele Ambiguitäten, auch innerhalb der Institution „Kino“, aufgelöst werden. (Wie soll man sich als Cineast definieren, wenn das Wort „Film“ ohne Unterschied die Produktion von Godard und Duras und die von Spielberg oder Schlimmeres umreißt?) Aber diese Cinéasten zitieren am häufigsten den Maler mit seinem Status als ihr Modell; dieser gilt als ‚Künstler‘ par excellence. In einem Augenblick, wo sich der Film (eine Kunst, die auf der technischen Reproduzierbarkeit gründet) als Beute einer ‚Reproduktion‘ und einer Vulgarisierung im Video und Fernsehen sieht, kann es da überraschen, daß er sich angesichts dieser Bedrohung daran erinnert, was aus der Malerei in der Ära ihrer vermehrten und vulgarisierenden Reproduktion wurde, und daß einige seiner Protagonisten, stärker als jemals zuvor, das Bedürfnis verspüren und auch offen den Wunsch äußern, als Künstler anerkannt zu werden?

Filmtitel

Jean Epstein, Der Untergang des Hauses Usher, F 1928, S/W, 63 Min.

Jacques Feyder, La kermesse héroïque, F/DE 1935, S/W, 110 Min.

Jean-Luc Godard, Passion, F/CH 1982, Farbfilm, 83 Min.*

Jean-Luc Godard, Scénario du film ‚Passion‘, F/CH 1982, Video, Farbe, 54 Min.*

Alexander Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, DE 2008, Farbfilm/S/W, 570 Min.*

Walther Ruttmann, Berlin: Die Sinfonie der Großstadt, DE 1927, S/W, 62 Min.*

Dziga Vertov, Der Mann mit der Kamera, SU 1929, S/W, 67 Min.*

Jean Vigo/Boris Kaufmann, À propos de Nice, F 1930, S/W, 24 Min.Peter Watkins, Munch, SE/NO 1974, Farbfilm, 210 Min.

Literatur

Rudolf Arnheim, Neuer Laokoon. Die Verkoppelung der künstlerischen Mittel, untersucht anläßlich des Sprechfilms (1938), in: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, hg. von Helmut H. Diedrichs, Frankfurt/M. 2004, S. 377-412.

Esther Leslie: Eisenstein – Joyce – Marx; Cosmic, Comic, in: Enclave Review, 2011, S. 10-12, unter: http://enclavereview.org/eisenstein-joyce-marx-cosmic-comic/ (zuletzt abgerufen: 21.06.2023).

Detlef Kannapin: Sergej Eisenstein und Das Kapital, in: OXI, 11 (2016), unter: https://oxiblog.de/sergej-eisenstein-und-das-kapital/ (zuletzt abgerufen: 21.06.2023).

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte (1766), Stuttgart 1994.

Kasimir Malewitsch: Das weisse Rechteck, Schriften zum Film, hg. v. Oksana Bulgakowa, Berlin, 1997

Kommentare: Dennis Bruns, Kristina Ernst, Nicole Jager, Christian Schmittel, Friederike Steiner, Jacqueline Katharina Weiß, Meike Winde 

Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig