Mobile Augen. Pfade zu einer Geschichte des sich bewegenden Betrachters
Wiedergabe in Auszügen aus: Hensel, Thomas: Mobile Augen. Pfade zu einer Geschichte des sich bewegenden Betrachters, in: Ausst.kat. Ich sehe was, was du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten; die Sammlung Werner Nekes, Köln (Museum Ludwig), Göttingen 2002, S. 54-63.
“Die Kunst spiegelt nicht nur eine bewegtere Welt, sondern ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden.”
Georg Simmel
Im 19. Jahrhundert begannen motorisierte Vehikel, den Körper zu bewegen, und er wurde Geschwindigkeiten ausgesetzt, die in der Vergangenheit nicht vorstellbar waren und zu einschneidenden Veränderungen überkommener Sehgewohnheiten sowie zu neuen Darstellungskonventionen in der Kunst führten. Mit einer Industrialisierung des Sehens, der massenweisen Produktion von Sehmaschinen, korrelierte eine schockartig verspürte Dynamisierung des Lebens, vor allem durch die Erfahrung der Eisenbahngeschwindigkeit. Die neuen Sensationen steigerten den Appetit auf adäquate Bilder, und begierig kolportierten Karikaturisten die sich zunehmend beschleunigende Mobilisierung der Wahrnehmung. So zeigt ein 1845 in einer Nummer der “Fliegenden Blätter” publizierter Holzstich einen Landschaftsmaler in fliegender Kutschfahrt beim Skizzieren eines Landstriches. Zwischen den Speichenrädern des Einspänners wirbelt Staub auf; der Fahrtwind hat dem Maler die Mütze vom Kopf gerissen, so daß sein Haarschopf wie ein Fähnchen im Wind flattert. Sein Zeichenblock, den er ob der Geschwindigkeit kaum zusammenzuhalten vermag, zeigt zuoberst eine flüchtige Skizze, die ein fahrig erhaschtes hügeliges Panorama wiedergibt. Indessen scheinen der Kontur der Landschaft auf dem Skizzenblatt und das diesem nicht unähnliche Linienspiel der geschwungenen Peitsche in Analogie zueinander gesetzt. Fast hat man den Eindruck, als habe der Maler nicht einen Landstrich eingefangen, sondern die Peitsche selbst, und mehr noch, als schreibe sich die Peitsche, Symbol der gesteigerten Geschwindigkeit, selbst in das Papier ein.
Das Widerfahrnis der Eisenbahngeschwindigkeit resultierte in der Wahrnehmung einer Verflüchtigung der Gegenstandswelt, ihrer Fragmentierung und Entgegenständlichung. Dem verwischten Scheindruck wurden der lockere Strich und die Abstraktion als “Ausdruck des bewegungssüchtigen Jahrhunderts” kongenial. Im Medium der Graphik wurde die durch das Abteilfenster wahrgenommene Umwelt in Form aufgelöster Konturen und paralleler Schraffen anstelle scharf umrissener Objekte wiedergegeben. Dem Zerstieben der Welt setzte J.M. William Turner 1844 mit seinem Gemälde “Rain, Steam and Speed” ein Denkmal.
In der Tradition eines seit Plinius’ Würdigung der antiken Maler Aristeides und Antiphilos immer wieder die Künste herausfordernden Postulats, der Künstler möge Bewegung in unbewegten Medien zu imitieren versuchen und damit die Natur durch die Kunst herausfordern, erschien Turners Gemälde als ein radikales und provozierendes Novum. Wie stark es zu beeindrucken vermochte, illustriert etwa eine anläßlich seiner Ausstellung in der Londoner Akademie erschienene Besprechung aus der Feder William Makepeace Thackerays: Mit “Rain, Steam and Speed” habe Turner “fast alle früheren Wunder übertroffen. Er hat ein Bild mit wirklichem Regen, hinter dem wirklicher Sonnenschein liegt, gemalt, und man erwartet jeden Moment einen Regenbogen. Unterdessen kommt ein Zug tatsächlich mit fünfzig Meilen auf einen zu, und der Leser wird am besten gleich hineilen, um ihn zu sehen. Sonst wird er aus dem Bild herausstoßen und sich durch die gegenüberliegende Wand davonmachen und Charing Cross hinauffahren.”
Ein halbes Jahrhundert später sollte die veristische Illusion eines auf den Betrachter zurasenden Zuges in einem der berühmtesten Filme der Gebrüder Lumière, “Arrivée d’un train à La Ciotat”, einen initialen Moment der Filmgeschichte markieren. (61f.)
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Zurecht ist das panoramatische Sehen des Eisenbahnreisenden, “die neue Wirklichkeit der vernichteten Zwischenräume”, mit der “filmischen Wahrnehmung” verglichen worden. Im gerahmten Blick durch das Abteilfenster eines Eisenbahnwaggons auf die scheinbar in Bewegung versetzte Landschaft, “ein ununterbrochenes filmisches Band”, kündigte sich das Sehen bewegter Bilder im Kino an, und die Wahrnehmung en passant beförderte im Betrachter gleichsam “einen inneren Film”. Schließlich wurde der innere Film mit den sogenannten “Moving Movies”, an Zügen angehängten Kinowaggons, exteriorisiert. Während am Abteilfenster Landschaftspanoramen vorbeigezogen, gewärtigte der Betrachter in Zugkinos den Fluß der Leinwandbilder. Damit standen reale Bewegung und die filmische Illusion von Bewegung Seite an Seite. (62)
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Die ersten Filmpioniere beschränkten sich keineswegs darauf, die Welt mit feststehender Kamera aufzunehmen. Um den Bewegungsausdruck zu steigern, pflanzten die Filmoperateure schon früh ihre Kameras auf die Dächer von Fernzügen und Hochbahnen, auf die Decks von Schiffen oder auch auf Montgolfieren und versetzten auf diese Weise den Bewegungsaufschreiber mitsamt seinen bewegten Bildern selbst in Bewegung. So läßt sich “die bewegliche Kamera als allgemeines Äquivalent aller Fortbewegungsmittel, die sich zeigt oder deren [sic!] sie sich bedient (Flugzeug, Auto, Schiff, Fahrrad, Gehen, U-Bahn…) verstehen. Diese Kamerafahrten produzierten Bilder, die sich durch genau jene verwischten Konturen auszeichneten, die bereits den aufs Papier geworfenen Zeichnungen aus der Frühzeit der Bahnreise eigen waren: so das von einem Lumière-Operateur gefilmte “Panorama pris en chemin de fer”. (62f.)
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In jenen Jahren fiebrigen Bewegungsdrucks übertrug man die Eisenbahnfahrt über Land auch auf Innenräume. Das sich vermehrende, massenhafte Angebot visueller Reize, dem in der Großstadt der Flaneur mit seinem schweifenden Blick begegnete, und die zunehmenden Probleme, die die Weltausstellungen mit ihrer bislang unvorstellbaren optischen Opulenz der Aufnahmekapazität der Sinnesorgane stellten, zeitigten vielfältige Versuche, die Apperzeptionsfähigkeiten zu mobilisieren. Nicht nur ersann man für die Pariser Weltausstellung von 1900 sogenannte trottoirs roulants, auf Rollen gelagerte, elektrisch angetriebene Gehwege, die den Besucher um das Ausstellungsgelände gleiten ließen.
Der Apperzeptionsdruck führte auch zu Vorschlägen einer Installierung von indoor railways bereits im Gebäude der Londoner Weltausstellung von 1851. Hierfür berechnete der Physiker und Mathematiker Charles Babbage offene Eisenbahnwaggons, in welchen die Besucher durch den Kristallpalast hätten bewegt werden können. Mit komfortablen Sitzen ausgestattet, sollten die Wagen mit Gummirädern auf Trassen von acht Fuß Höhe mit einer Geschwindigkeit zwischen einer und drei Meilen pro Stunde entlang der Exponate fahren.
Gebahnte Reisen en miniature sollten um 1900 und in den darauffolgenden Jahrzehnten immer beliebter werden. 1898 eröffnete im Wiener Prater eines der ersten stationären Themenfahrgeschäfte, die selbsternannt “erste elektrisch betriebene Grottenbahn Europas”. Und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts folgten rasant die beliebtesten Vertreter jener Gattung, die Geisterbahnen, die bis heute nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt haben. Während der Betrachter etwa im Landschaftsgarten sich noch weitgehend ungebunden bewegen sollte, werden in den rides à la Disneyland seine Bewegungen präzise durch eine “totale Gestaltung” und hochmoderne Vehikel auf Trassen gesteuert. Es waren wiederum Geisterbahnen, in denen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mobile Augen und bewegtes Bild zusammentrafen. In sogenannten Filmbahnen fuhren die Fahrgäste an mehreren Projektionsflächen vorbei, auf denen Untote zu sehen waren, die dem ausgelieferten Betrachter Messer oder Spinnen entgegenzuwerfen schienen. (63)
Bearbeitung: Yunus Emrah Fazlioglu, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig und Ruth Lindner