Roland Barthes

Beim Verlassen des Kinos

Auszugsweise Wiedergabe aus: Roland Barthes, Beim Verlassen des Kinos, übers. v. Stephan Broser, in: Filmkritik, 235, Juli 1976, S. 290–293; zuerst: En sortant du cinéma, in: Communications 23, 1975, S. 104–108.  

Kommentar: Roland Barthes wurde 1915 in Cherbourg geboren und starb 1980 bei einem Verkehrsunfall in Paris. Er studierte klassische Literatur an der Sorbonne und war zunächst als Lehrer, Lektor und Bibliothekar in Rumänien, Ungarn und Ägypten tätig. 1976 wurde der vom Strukturalismus geprägte Theoretiker auf Vorschlag Michel Foucaults an das Collège de France berufen, wo er den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Literarische Semiologie bekleidete. Semiologie ist die Wissenschaft, die die Bedeutung von Zeichen (semeion) im Rahmen des sozialen Lebens untersucht. Als Autor veröffentlichte er zahlreiche einflussreiche Schriften zum Theater und zur Fotografie. Hervorzuheben ist insbesondere sein Buch Die helle Kammer (1980) [Link]. (DR)

Eines muß, der hier als Subjekt spricht, eingestehen: er liebt es, einen Kinosaal zu verlassen. Sich wiederfindend, auf der erleuchteten und ein wenig leeren Straße (es ist immer am Abend und unter der Woche, daß er sich dorthin begibt) und die Schritte sacht zum nächstbesten Café lenkend, läuft er schweigend (es widerstrebt ihm, sogleich über einen Film zu sprechen, aus dem er kommt), ein wenig benommen, mit eingezogenem Hals, fröstelnd, kurz schläfrig: er ist schlaftrunken, so geht es ihm durch den Sinn; sein Körper ist zu einem schlaffen, sanften friedlichen Etwas geworden: weich wie eine schlummernde Katze, fühlt er sich ein wenig aus den Fugen, oder auch (denn für eine moralische Ordnung ist die Ruhe nur dort): unverantwortlich. Kurz, es ist offensichtlich, daß er aus einer Hypnose auftaucht.

Kommentar: Die szenische Kombination eines dunklen Kinosaals mit den dunklen Straßen einer Großstadt – beim Verlassen des Kinos – ruft eine besondere Atmosphäre hervor. Selbst bei lauten und hellen Straßen spürt der Zuschauer eine innere Verbundenheit, die es erlaubt, durch das gemeinsame Ausblenden der äußeren Reizüberflutungen eine Identifikation zu erlangen. Die nächtlichen Straßenszenen symbolisieren das moderne Leben, welches sich durch Ungewissheit, Zwielicht und konstantem Wandel auszeichnet. Das Kino ist ein geschlossener Raum innerhalb dieser Stadt, welcher durch Anonymität eine Art von Freiheit und eine Welt der Prä-Hypnose präsentiert, die Barthes als Erotik beschreibt. Der Film selbst zieht den Besucher in seinen Bann und erlaubt diesem, sich der Realität zu entziehen und sich in einem Gefühl von Sicherheit zu wägen. (KG)

Martin Scorsese, Taxi Driver (1976), Filmausschnitt

Im Filmklassiker Taxi Driver (1976) von Martin Scorsese spielen die dunklen Straßen einer Großstadt eine besondere Rolle. Die Hauptfigur, Travis Bickle, die von Robert De Niro gespielt wird, erklärt zu Beginn des Filmes, dass das Gesindel auf den Straßen New Yorks auftauche, sobald es dunkel werde. Dennoch befindet er sich in vielen Filmszenen genau inmitten dieser Straßen. Nicht selten ist sein Herumstreifen durch die Straßen begleitet von inneren Monologen, die Einblicke in seine Gedanken und Wahrnehmung bieten. In der ersten Hälfte des Filmes besucht Travis häufiger ein (Erotik-)Kino. Für ihn ist es ein Zufluchtsort, den er besucht, wenn er nicht schlafen kann und nicht allein sein möchte. Das Kino symbolisiert einen Ort des Komforts, weswegen er darin nichts Verwerfliches sieht und seine Bekanntschaft, Betsy, zu einer Verabredung dorthin mitnimmt. Das Verlassen des Kinos kulminiert in einem Moment des Chaos. Betsy und er streiten, da sie den Kinobesuch als eine verletzende Beleidigung empfindet. Es folgen Sequenzen mit Monologen seitens Travis. Anders als zuvor erzählt Travis nun nicht von dem, was er sieht, sondern von seinen Gefühlen und seiner Verletzlichkeit. (KG)

[…] Es gibt eine „Kino-Situation“, und diese Situation ist prä-hypnotisch. Im Sinne einer echten Metonymie wird das Nachtschwarz des Kinos präfiguriert von der „dämmernden Träumerei“ […], die diesem Schwarz voraufgeht und von Straße zu Straße, von Plakat zu Plakat das Subjekt dahin führt, sich schließlich abgrundtief zu versenken in einen dunklen, anonymen, indifferenten Kubus, wo dies Fest der Affekte stattfindet, das Film heißt.

Kommentar: Roland Barthes’ phänomenologische Betrachtung der »Kino-Situation« betont die Bedeutung der äußeren Umgebung des Kinos und der Filmplakate, die die Zuschauer*innen auf das bevorstehende Filmerlebnis vorbereiten, welches schon auf den Straßen und in den Vorräumen der Kinosäle beginnt. Wie Barthes beschreibt, leiten sie schrittweise in das »Fest der Affekte« ein, indem sie Aufmerksamkeit erregen, Interesse wecken und eine Vorstellung von der Essenz des Films erzeugen. Anhand visueller Elemente der Plakate, wie die Auswahl bestimmter Bilder, Farben, Schriftarten und Designs sowie narrativer Fragmente werden thematische, ästhetische und emotionale Aspekte des Films vermittelt. Die Filmplakate schaffen eine Brücke zwischen der realen Welt außerhalb des Kinos und der diegetischen Welt des Films, indem sie die Wahrnehmung der Betrachter*innen beeinflussen und eine bestimmte Erwartungshaltung für das Kommende erzeugen. Sie fungieren als prä-hypnotischer Einstieg in das kinematische Erlebnis, indem sie das Publikum in die Atmosphäre des Films eintauchen lassen, bevor dieser überhaupt beginnt. (LE)

Was bedeutet hier das „Schwarz“ des Kinos (wenn ich Kino sage, kann ich nie umhin, „Saal“ zu denken statt „Film“)? Das Schwarz ist nicht nur die Substanz der Träumerei (im Sinne der Prä-hypnose); es ist auch die Farbe einer diffusen Erotik; die dichte Ansammlung von Menschen, die Abwesenheit des Mondänen (im Gegensatz zu dem kulturellen „Schein“ eines jeden Theatersaals), das Erschlaffen der Körperhaltungen (wie viele Zuschauer fläzen sich nicht in ihren Sessel wie in ein Bett, Mäntel oder Füße über die Vorderreihe geworfen) – all dies macht den Kinosaal (des gängigen Typus) zu einem Ort der Ungebundenheit, und es ist diese Ungebundenheit (mehr noch als die Droge), ist diese Lässigkeit der Körper, welche am besten die moderne Erotik definiert, nicht die der publicity oder des striptease, sondern die der Großstadt. In eben diesem städtischen Schwarz ist die Freiheit des Körpers am Werk; diese unsichtbare Arbeit aller möglichen Affekte nimmt ihren Ausgang von einem echten kinematographischen Kokon; der Filmzuschauer könnte die Devise der Seidenraupe zu der seinen machen: inclusum labor illustrat: weil ich eingeschlossen bin, arbeite und erstrahle ich in all meinem Begehren.

Martin Scorsese, Hugo Cabret, 2012, Filmausschnitt

In diesem opaken Kubus, ein Licht: der Film, die Leinwand? Ja, gewiß. Doch auch (doch vor allem?), sichtbar und unbemerkt, dieser tanzende Kegel, der das Schwarz durchlöchert, nach Art eines Laserstrahls. Dieser Strahl, der sich, gemäß der Rotation seiner Partikel, in wechselnde Figuren ummünzt; unser Gesicht ist der Münze einer leuchtenden Vibration zugewandt, deren herrischer Strahl über unseren Schädel hinwegrast, vom Rücken her, schräg, ein Haar, ein Gesicht streift. Wie von altersher in den Erfahrungen der Hypnose, sind wir, ohne ihn en face zu sehen, fasziniert von diesem leuchtenden Ort, reglos und tanzend. Es ist, als ob ein langer Lichtstiel ein Schloß durchstoßen hätte, und wir alle, gebannt, durch dieses Loch unseren Blick richteten.

Kommentar Peeping Tom + Feministische Lektüre (Filmbeispiele?)

[…]

So weit entfernt ich im Kinosaal meinen Platz haben mag, ich klebe mit der Nase, als wollte ich sie mir eindrücken, am Spiegel der Leinwand, an diesem imaginären „Anderen“, mit dem ich mich narzißstisch identifiziere (es heißt, daß die Zuschauer, die sich so nah wie möglich an die Leinwand setzen, die Kinder und die Cinephilen sind) […].

[…]

Wie sich abheben von dem klebrigen Spiegel? Riskieren wir als Antwort ein Wortspiel : indem man „abhebt“, „abfährt“ (so wie man in Bezug auf Aeronautik und Drogen davon spricht). Gewiß, es ist immer möglich, eine Kunst zu konzipieren, die den Kreis des Dualen, die filmische Faszination bricht und den Zauberbann, die Hypnose des Wahrscheinlichen (des Analogen) löst, indem sie auf den kritischen Blick (oder das kritische Gehör) des Zuschauers rekurriert; geht es nicht eben darum in dem Brecht’schen Verfremdungseffekt?  

[…]

Doch es gibt noch eine andere Art, ins Kino zu gehen (anders, als mit dem Diskurs der Konter-Ideologie bewaffnet): indem man sich zweimal faszinieren läßt: von dem Bild und seinem Ambiente, als ob ich zwei Körper zugleich hätte: einen narzißtischen Körper, der schaut, im nahen Spiegel verloren, und einen perversen Körper, der darauf lauert, zu fetischisieren – nicht das Bild, sondern genau, was darüber hinausgeht: das Korn des Tons, den Saal, das Schwarz, die obskure Masse der anderen Körper, die Lichtstrahlen, den Eingang, den Ausgang: kurz, um abzurücken, „abzuheben“, kompliziere ich eine Relation durch eine Situation. Was mir dazu dient, hinsichtlich des Bildes abzurücken – eben das ist es schließlich, was mich fasziniert: ich bin durch eine Distanz hypnotisiert; und diese Distanz ist keine kritische (intellektuelle); es ist, wenn man so sagen kann, eine amouröse Distanz […].

Kommentare: Dennis Bruns, Lisa Eisenlohr, Katharina Ghebrehiwet, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig