Jg. 46, H. 2 – Themenheft: Biodiversität, hg. von Roland Borgards. Mit Beiträgen von Lena Kugler, Tanja van Hoorn, Evi Zemanek, Urte Stobbe und Lars Friedrich

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Inhaltsverzeichnis

Roland Borgards
Vorwort, S. 111

Lena Kugler
Bio/Diversität als Theater. Kim de l’Horizons „Dann mach doch Limonade, bitch. Pieces aus dem Schlurz“ (2022) und die Volksherrschaft im Garten_Berlin, S. 115

Abstract
Dass Biodiversität nicht nur ermöglicht, sondern auch erzählt werden muss, scheint gegenwärtig Konsens zu sein. Was aber, wenn ‚Biodiversität‘ weniger als Erzählung, sondern vielmehr als Theater erscheint – beispielsweise als regelrechte Survivalshow? In der Auseinandersetzung mit Kim de l’Horizons Dann mach doch Limonade, bitch. Pieces aus dem Schlurz (2022), dem Diskurs der biologischen Invasion und der repräsentativen Organismendemokratie der Volksherrschaft im Garten (Berlin) geht der Text den unterschiedlichen Erscheinungsformen bio/diverser Theatralitäten nach.

Tanja van Hoorn
„stellt euch vor“.  Artenvielfalt und Artensterben bei Jan Wagner („franz de hamilton: konzert der vögel“ und „das verschwinden des riesenalks“), S. 131

Abstract
Artenvielfalt gestaltet Jan Wagner als ein ekphrastisch inspiriertes Heraufbeschwören schöner Mannigfaltigkeit („franz de hamilton: konzert der vögel“); Artensterben als das Verschwinden eines Endlings im Abendrot („das verschwinden des riesenalks“). In beiden Gedichten sind Tiere nur (noch) imaginär erreichbar und werden betont anthropozentrisch dargestellt. Die Gedichte unterscheiden sich hinsichtlich zentraler Darstellungsverfahren (katalogartige Parataxen für die Vielfalt, Narration eines Artschicksals im Fall des Aussterbens); gleichermaßen aber wird in ihnen das Lynchen eines Vogels bzw. der zum Erlöschen einer ganzen Art führende Massenmord gespiegelt in der abergläubischen Ideologiebildung der Menschen. Kaum zufällig scheinen die beiden Gedichte daher in den inhaltlich und rhythmisch ähnlichen Abschlussformeln („ein pamphlet“ / „ein gerücht“) echoartig aufeinander zu antworten.

Evi Zemanek
Die literarische Inventarisierung der Flora und Fauna Spitzbergens oder enumeratio delectat, S. 145

Abstract
Der Beitrag untersucht literarische Bestandsaufnahmen von Artenvielfalt in Flora und Fauna auf Spitzbergen. Verglichen und mit älteren Expeditionsberichten korreliert werden Alfred Anderschs ästhetischer Reisebericht Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze (1969) und Ulrike Draesners poetischer Essay „Radio Silence“ (2019) sowie Christoph Ransmayrs postmoderner Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Martin Mosebachs pikaresker Roman Nebelfürst (2001). Gemeinsam ist den faktualen und fiktionalen Texten genreübergreifend, dass sie auf die Wahrnehmung einer relativ geringen Artenvielfalt reagieren, indem sie Leere evozieren und diese narrativ und deskriptiv, imaginativ und (auto-)reflexiv füllen. Auf eine anfängliche Desillusionierung folgt prozessual eine Schulung der Sinne und die Entdeckung einer unscheinbaren Vielfalt. Im Fokus stehen wissenschaftliche und poetische taxonomische Verfahren, insbesondere die Bestandsaufnahme ex negativo und die Kompensation verlorener Artenvielfalt durch Imagination urzeitlicher Biodiversität.

Urte Stobbe
Sarah Kirschs experimenteller Kurzfilm Moorschnucken. Ein multimodales Prosagedicht über Schafe, „die uns verlassen werden in aller Schönheit und Fremdheit“, S. 161

Abstract
Mit ihrem Kurzfilm Moorschnucken (1983/84) folgt Sarah Kirsch der Einladung des Autorenmagazins im Fernsehsender Saarländischer Rundfunk, ein experimentelles Filmprojekt zu den Grenzen und Möglichkeiten des Mediums Film beizutragen. Sarah Kirschs Film handelt von einer Herde Moorschnucken, die durch die geänderten Wirtschaftsformen vom Aussterben bedroht sind. Ihr Verlust käme einer Verringerung der Biodiversität gleich, doch hebt der Film besonders auf die Schönheit dieser Schafe ab. Sarah Kirsch spricht dazu ein von ihr selbst verfasstes Prosagedicht ein, dessen Inhalt im Film symmetrisch, komplementär und kontrapunktisch zu den audiovisuellen Zeichen in Beziehung steht – daher die Bezeichnung ‚multimodales Prosagedicht‘. Moorschnucken zeigt die Schafe so, als würden sie durch ihr tierliches Verhalten gewissermaßen für sich selbst sprechen und als Akteure mitspielen. Zu dieser filmischen Inszenierung hat auch beigetragen, dass Sarah Kirsch in den Monaten zuvor begonnen hat, selbst Schafe in Tielenhemme zu halten. Anders als der Film, der Moorschnucken mit einem Schäfer und Hütehunden zeigt, praktiziert sie selbst neue Formen des Mit-seins mit Schafen. Sie experimentiert gewissermaßen mit neuen Formen der Mensch-Schaf-Beziehungen.

Lars Friedrich
Versifizierung als Diversifizierung. Arno Holz’ Phantasus und die Naturformen der Lyrik, S. 179

Abstract
Auf der Grundlage eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses entwickelt Arno Holz Ende des 19. Jahrhunderts eine Lyriktheorie ‚natürlicher Rhythmen‘, die auf Metrum, Strophen und Reim verzichten und deren unregelmäßige Versstruktur in seinem Phantasus-Zyklus ihre poetische Umsetzung erfahren. An den Umarbeitungsstufen bzw. Erweiterungsstrategien einzelner Phantasus-Gedichte wird gezeigt, wie Holz Erfahrungen entgrenzter Natur- und Sprachvielfalt abzubilden versucht und seine Lyrik formpoetologisch als Applikation einer Diversitätsprogrammatik gelesen werden kann.

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