Jg. 46, H. 3 – Themenheft: Bann und Fluch. Zur Rhetorik sprachlicher Gewalt zwischen antiker Tragödie und deutscher Dramatik um 1800, hg. von Oliver Völker und Marten Weise. Mit Beträgen von Carolin Rocks, Joachim Harst, Michael Niehaus, Maximilian Bergengruen und Peter Metzel

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Inhaltsverzeichnis

Oliver Völker/Marten Weise
Zur Rhetorik von Bann und Fluch. Einleitung, S. 189

Carolin Rocks
Der Verfluchteste. Zur tragischen Form nach Sophokles’ König Ödipus, S. 205

Abstract
Der Beitrag diskutiert die strukturgebende Bedeutung des Fluchs in Sophokles’ Tragödie König Ödipus. Es wird argumentiert, dass der Fluch die tragische Form vollends bestimmt. Den Fluchtpunkt der Überlegungen bildet Schillers viel zitierte Einschätzung des König Ödipus (,tragische Analysis‘). Die generische Produktivität der Verquickung von Fluch und Tragödie wird primär anhand des mehr als nur einschlägigen antiken Textes aufgezeigt, dessen ,verfluchte‘ Form noch Schiller als Verfahrensskript beschäftigt.

Joachim Harst
Tragische Flüche: Viermal Ödipus (Sophokles, Seneca, Tesauro, Kleist), S. 217

Abstract
Der vorliegende Aufsatz untersucht die veränderliche Rolle des Fluchs in dramatischen Adaptionen des Ödipus-Mythos. Während sich an der sophokleischen Fassung das Spannungsverhältnis des Fluchs zwischen Mythos und Recht ablesen
lässt, wird der Fluch in späteren Adaptionen seit Seneca zum Gattungsmerkmal der Tragödie schlechthin. Eine weitere wichtige Modifikation nehmen christliche Versionen des Stücks vor, die Ödipus’ Selbstblendung als Opferhandlung verstehen, mit der der mythische Fluch gelöst wird. Eben diese christliche Wendung wird wiederum von Kleist reflektiert, dessen Lustspiel Der zerbrochne Krug den mythischen Ödipus mit dem biblischen Adam überblendet. Hier verwandelt sich der Fluch vom potenten Sprechakt in ein intransitives Fluchen, das zuallererst die ungefügige Sprache selbst betrifft.

Michael Niehaus
Der Fluch und seine Rekapitulationen. Zum Beispiel Der vierundzwanzigste Februar von Zacharias Werner, S. 233

Abstract
Der vierundzwanzigste Februar von Zacharias Werner, 1810 in Weimar uraufgeführt, gilt als Paradigma des Schicksalsdramas. Verhandelt wird in diesem Einakter das Schicksal einer Familie, die unter der „Wirkung des Fluchs“ – so der ursprüngliche Titel – ihre eigene Auslöschung rekapituliert und damit vorantreibt. Der Fluch ist einerseits ein übergroßer väterlicher und gleichsam mythologischer Sprechakt, dessen Wirkung aber andererseits dadurch am Leben gehalten wird, dass er innerhalb einer Familienkommunikation ständig wieder aufgerufen wird. Auf eine
bewundernswert folgerichtige Art und Weise buchstabiert das Drama die nur scheinbar einfache Tautologie aus, dass der Fluch ein Fluch ist. Denn zwar erweist es sich, dass der Fluch innerhalb einer Familie nur unverantwortlich und voreilig in großem Zorn ausgesprochen wird, aber es erweist sich auch, dass jede Selbstzuschreibung des Verflucht-Seins heillos ist.

Maximilian Bergengruen
„Werde Du eine Hure“. Massenmobilisierung und inszeniertes Wahrsprechenin Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, S. 247

Abstract
Gegenstand dieses Aufsatzes sind die institutionalisierten Sprechweisen von Eid, Schwur und Fluch in Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ausgehend von Foucault und Agamben werden diese als eine Form des Wahrsprechens begriffen, bzw. genauer gesagt: als ein Anspruch auf Wahrsprechen. Dieser Anspruch wird deswegen vom Republikaner Verrina und seinen Anhängern erhoben, weil sie gegenüber den (potenziellen) Tyrannen Gianettino und Fiesko im Hintertreffen sind: Letzterer agiert nämlich im Drama als ein Magnet, durchaus im Sinne des sich gerade etablierenden animalischen Magnetismus, der die Massen anziehen und für den Umsturz auf seine Seite ziehen kann. Anders das Verrina-Lager, das über diese natürliche Fähigkeit zur Massenmobilisierung nicht verfügt und daher zu medialen und rhetorischen Kunstgriffen greifen muss; Kunstgriffe, die, wie gezeigt werden soll,
die Wahrheit aufs Spiel setzen, die eigentlich durch Eid, Schwur und Fluch versichert wird. Auch die republikanische Ordnung kann also, das wird in Schillers Drama anschaulich vorgeführt, nicht ohne die manipulative Gewalt ins Werk gesetzt werden, die sie eigentlich zu überwinden verspricht.

Peter Metzel
Der gemeine Feind der Menschlichkeit. Acht und Bann in Schillers Wallenstein, S. 263

Abstract
Der Beitrag untersucht konkurrierende Dynamiken gesellschaftlichen Ausschlusses in Schillers Wallenstein, indem er eine Formulierung aus einer Selbstanklage Wallensteins ins Zentrum der Lektüre rückt. Wallenstein spricht von sich selbst dort als dem „gemeinen Feind der Menschlichkeit“. Erstmals wird hier der diskursgeschichtliche Kontext dieser Wendung aufgezeigt. Es handelt sich um eine naturrechtliche Kategorie, die unter dem Namen hostis humani generis auf eine große Bandbreite von sich dem rechtlichen Zugriff entziehenden Akteuren angewandt worden ist. Der durch Wallenstein aufgerufene naturrechtliche Diskurs wird in ein interpretatives Argument integriert: Der „gemeine Feind der Menschlichkeit“ erhält seine Bedeutung für die Trilogie durch einen Kontrast mit einer staatlichen Ausschlussstrategie. In ihm wird ein Bann gedacht, der über den souveränen Machtbereich, den die kaiserliche Reichsacht in der Trilogie festigen soll, hinausweist: auf einen negativ-unbestimmten Begriff menschlicher Gemeinschaft.