Stil und Medium im Film (1934/47)
Wiedergabe in Auszügen aus: Erwin Panofsky, Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt am Main 1993, S. 17–51. Panofskys Text, der auf einen früheren Vortrag zurückgeht, erschien zunächst 1936 unter dem Titel On Movies. Eine weitere Fassung wurde 1947 unter dem Titel Style and Medium in the Motion Pictures in der Zeitschrift Critique veröffentlicht.
Die Filmkunst ist die einzige Kunst, deren Entwicklung die Menschen von heute von Anfang an miterlebt haben; und diese Entwicklung ist um so interessanter, als sie unter Bedingungen stattgefunden hat, die zu den früheren in genauem Gegensatz stehen. (19)
[…]
Damit werden zwei grundlegende Tatsachen klar. Erstens: der Ursprung der Freude am Film war nicht ein objektives Interesse an bestimmten Inhalten, viel weniger ein ästhetisches Interesse an der Form der Darstellung von Inhalten, sondern ganz einfach die Freude an etwas, das sich zu bewegen schien, ganz gleich, was es sein mochte. Zweitens: die Filme – zuerst in Kinetoskopen gezeigt, das heißt in kinematographischen Guckkästen, und auf eine Leinwand projizierbar frühestens seit 1894 – sind ursprünglich ein Produkt genuiner Volkskunst. (19)
Kommentar: Panofsky betont zunächst die einzigartige Position der Filmkunst innerhalb der Kunst- und Kulturgeschichte. Diese resultiere aus der Herkunft des Kinos aus dem Umfeld einer “Volkskunst” (vgl. das “Kino der Attraktionen“ bei Gunning 1996). Der Film faszinierte zuallererst mit dem Phänomen der Bewegung. Inhaltliche oder ästhetische Aspekte hatten dagegen eine nur nachrangige Bedeutung. Gemeinsam mit dem Umstand, dass der Film eine junge Kunstform sei, deren Entwicklung die Menschen von Beginn an mitverfolgen konnten, bedeute dies ein eklatanter Unterschied zu den ‘alten Künsten’ (vgl. dagegen die weit zurückreichende Genealogie des Kinos bei Bazin 1946).
[Die] spezifischen Möglichkeiten des Films lassen sich definieren als Dynamisierung des Raumes und entsprechend als Verräumlichung der Zeit. Das ist evident bis zur Selbstverständlichkeit, aber eine Wahrheit jener Art, die gerade ihrer Selbstverständlichkeit wegen leicht vergessen oder übersehen wird. (22)
Im Theater ist der Raum statisch, das heißt: sowohl der dargestellte Raum auf der Bühne als auch die räumliche Beziehung zwischen Betrachter und Schauspiel ist unveränderlich. (22)
Beim Film ist die Situation umgekehrt. Auch hier hat der Zuschauer einen festen Platz inne, aber nur äußerlich, nicht als Subjekt ästhetischer Erfahrung. Ästhetisch ist er in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. (22f.)
Kommentar: Panofsky beschreibt die Besonderheiten des Films im Vergleich zum Theater. Er argumentiert, dass die Dynamisierung des Raumes und die Verräumlichung der Zeit im Film ein völlig anderes ästhetisches Erlebnis ermöglicht. Im Theater sei der Raum statisch, denn sowohl der dargestellte Raum auf der Bühne als auch die räumliche Beziehung zwischen dem Publikum und den Darstellern bleiben unverändert. Im Gegensatz dazu sei das Publikum beim Film ständig in Bewegung, selbst wenn es im Kino einen festen Standort zugewiesen bekommt. Das liegt daran, dass sich das Auge des Zuschauers (das ‘Subjekt ästhetischer Erfahrung’) mit dem Objektiv der Kamera identifiziert, das ständig seinen Fokus und seine Richtung verändert. Dementsprechend erscheint auch der Raum, der vor dem Publikum erscheint, in Bewegung versetzt. Vgl. auch Malraux [Link]. (vgl. Riesinger 2003)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die einzigartigen Fähigkeiten des Films darin liegen, Raum und Zeit auf dynamische Weise zu manipulieren, was ihn von anderen Kunstformen wie dem Theater abhebt.
Der Beginn des Tonfilms bedeutete weniger eine Erweiterung als eine Verwandlung, Verwandlung der Musik in artikulierte Sprache und dadurch der scheinbaren Pantomime in eine gänzlich neue Art von Schauspiel: sie unterscheidet sich vom Ballett und entspricht dem Theater, insofern ihre akustische Komponente von der sichtbaren nicht gelöst werden kann. (24)
Kommentar: Panofsky zeigt, wie der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm eine grundlegende ‘Verwandlung’ der Filmsprache bedeutete. Die Einführung artikulierter Sprache auf Ebene des Tons brachte eine neue Art von Schauspiel hervor. Die akustische Komponente war nun untrennbar mit der Sichtbaren verknüpft. Vgl. auch Malraux [Link].
Die Entwicklung von den abrupten Anfängen zu diesem großartigen Höhepunkt bietet das faszinierende Schauspiel, wie ein neues künstlerisches Medium sich schrittweise seiner legitimen, das heißt charakteristischen Möglichkeiten und Begrenzungen bewußt wird – ein Schauspiel, vergleichbar der Entwicklung des Mosaiks, die mit der Übertragung illusionistischer Genrebilder in dauerhafteres Material beginnt und in der hieratischen Übernatürlichkeit von Ravenna gipfelt; oder der Entwicklung des Holzschnitts und Kupferstichs, die mit dem billigen und praktischen Ersatz für Buchilluminationen beginnt und im rein ‚graphischen‘ Stil Dürers gipfelt. (35)
Kommentar: Im Vergleich zu den bildenden Künsten und dem Theater, die von einem idealistischen Weltbild ausgingen, beginnt der Film mit den Objekten der äußeren Welt. Der Film verleiht den materiellen Dingen und Personen einen Sinnzusammenhang, der seinen Stil und seine Symbolik weniger durch die Vorstellung des Künstlers erhält als durch die Arbeit mit den äußeren Objekten und der Aufnahmeapparatur. Dies zeigt, dass der Film die spezifischen Möglichkeiten und Begrenzungen seines Mediums (an-)erkennt (sich ihrer bewusst ist) und diese nutzt, um seine eigene Ästhetik auszubilden, sich als eigenständige Kunstform zu etablieren. Panofsky vergleicht diese Form der Medienspezifik mit traditionellen Bildkünsten, wie Mosaik, Holzschnitt und Kupferstich, die zunächst reproduzierende Funktionen erfüllten und sich später zu eigenständigen Kunstformen mit jeweils eigenem Stil ausdifferenzierten. Vgl. auch die Charakterisierung des Films als Ausdrucksmittel und nicht als Reproduktionsmittel bei Malraux [Link].
Es bildeten sich, identifizierbar, weil festgelegt in Erscheinung, Betragen und Attributen, die wohlbekannten Typen des Vamps und des Mädchens mit dem Herzen am rechten Fleck (vielleicht die überzeugendsten modernen Entsprechungen der mittelalterlichen Personifikationen der Tugenden und Laster), des braven Mannes und des Schurken, letzterer gekennzeichnet durch schwarzen Schnurrbart und Spazierstock. (39)
Kommentar: Panofsky definiert hier die Entstehung von festen Charakter- und Rollentypen im Film und vergleicht diese (nebenbei) mit Personifikationen aus dem Bereich der christlichen Ikonographie.
Es ist nicht nötig zu betonen, wie dieses Verfahren die seltsame Wesenseinheit steigern muß, die zwischen der Person eines Filmschauspielers und seiner Rolle besteht. Wenn die Figur aus einzelnen Stücken entsteht, ohne Rücksicht auf den natürlichen Ablauf der Ereignisse, dann kann sie nur zu einem einheitlichen Ganzen werden, wenn der Darsteller es fertigbringt, Heinrich VIII. oder Anna Karenina nicht nur zu spielen, sondern zu sein. (45)
Kommentar: Dieses Zitat beschreibt, wie die Montage im Film die Beziehung zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle verstärkt, indem es eine einheitliche Wesenseinheit kreiert. Der Darsteller dürfe seine Rolle nicht einfach nur spielen, er müsse sie verkörpern, um ein überzeugendes Ergebnis zu erzielen. Hier lassen sich Parallelen zu Malraux‘ Beschreibung des „Starphänomens“ ziehen, wonach Stars nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Projektionsflächen kollektiver Wünsche, Sehnsüchte fungieren, während sie gesellschaftliche Werte und Ideale repräsentieren [Link]. Das „Starphänomen“ beeinflusst darüber hinaus nicht nur die Wahrnehmung der Filme, sondern auch die gesellschaftliche Realität, indem es die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zunehmend verschwimmen lässt.
Man könnte sagen, daß der Film, der durch eine gemeinschaftliche Anstrengung ins Leben gerufen wird, in welcher alle Beiträge den gleichen Grad von Dauer erreichen, am ehesten das moderne Äquivalent einer mittelalterlichen Kathedrale ist. Die Rolle des Produzenten entspricht, mehr oder weniger, der des Bischofs oder Erzbischofs; die des Regisseurs jener des leitenden Baumeisters; die des Drehbuchautoren jener des scholastischen Beraters, der das ikonographische Programm aufstellt; und die der Darsteller, Kameraleute, Cutter, Toningenieure, Maskenbildner und der verschiedenen Techniker der Rolle jener, deren Arbeit die äußere Realität des ganzen Werkes vorbereitet, von den Bildhauern, Glasmalern, Bronzegießern, Zimmerleuten und erfahrenen Maurern zurück bis zu den Steinbrechern und Holzfällern. (46)
Dieser Vergleich mag frevelhaft erscheinen, nicht nur, weil es vergleichsweise weniger bedeutende Filme als bedeutende Kathedralen gibt, sondern auch, weil Filme etwas Kommerzielles sind. Wenn man indes alle Kunst als kommerziell definiert, die primär nicht den Gestaltungsdrang ihres Schöpfers befriedigen, sondern den Ansprüchen des Auftraggebers oder des Käuferpublikums entsprechen soll, dann muß man sagen, daß nichtkommerzielle Kunst mehr eine Ausnahme als eine Regel ist, und eine ziemlich neue und nicht immer glückliche Ausnahme obendrein. (46)
Kommentar: Panofskys Vergleich von Film und mittelalterlicher Kathedrale zielt auf die Erkenntnis, dass beide Kunstformen kollektive Kunstwerke darstellen. Der Produzent, Regisseur, Drehbuchautor und die verschiedenen weiteren Beteiligten werden verglichen mit der Vielzahl der Protagonisten und Gewerke, die an der Erbauung einer Kathedrale beteiligt sind. Der Vergleich mit der Kathedrale ergibt sich darüber hinaus auch aus gemeinsamen Aspekten von Architektur und sozialer Praxis. Die Kathedrale ist als beeindruckender Architekturtyp in der Geschichte des Stils bekannt und wie das Kino ein Ort gesellschaftlicher Zusammenkunft. Außerdem begegnet Panofsky dem Vorurteil, dass der Film aufgrund seiner kommerziellen Bedeutung nicht mit der Hochkunst (z.B. mittelalterlicher Kathedralbaukunst) verglichen werden könne. Tatsächlich sei eine nicht-kommerzielle Kunst seit jeher eine Ausnahme, wie Panofsky am Beispiel der langen Geschichte der Auftragskunst demonstriert. Es geht Panofsky darum, den Film als künstlerisches Medium ernst zu nehmen und ihn nicht als bloße Unterhaltung abzutun. Durch den Vergleich mit der Kathedrale möchte er verdeutlichen, dass der Film ebenso wie klassische Kunstformen einen wichtigen Beitrag zur Kunst- und Stilgeschichte leistet.
Daß es sich so wohl verhält, ist nicht nur soziologisch, sondern auch kunstgeschichtlich zu verstehen. Die Verfahrensweisen aller früheren bildenden Künste entsprechen, mehr oder weniger, einem idealistischen Weltbild. Diese Künste agieren sozusagen von oben nach unten. Sie beginnen mit einer Idee, die in die gestaltlose Materie projiziert werden soll, nicht mit den Objekten, aus denen die äußere Welt besteht. Ein Maler beginnt mit der leeren Wand oder Leinwand und gestaltet sie zum Abbild von Dingen und Personen gemäß seiner Idee, wie sehr diese Idee auch von der Realität gespeist sein mag. Er arbeitet nicht mit den Dingen und Personen selbst, auch nicht, wenn er ‘nach Modell’ arbeitet. (47)
[…]
Der Film und nur der Film wird jenem materialistischen Weltverständnis gerecht, das die gegenwärtige Kultur durchdringt, ob es uns nun gefällt oder nicht. Von der Sonderform des Zeichenfilms abgesehen, gibt der Film materiellen Dingen und Personen, nicht neutralem Stoff, einen Sinnzusammenhang, der seinen Stil und sogar seine Phantastik oder unbeabsichtigte Symbolqualität weniger durch die Vorstellung des Künstlers erhält als durch die Arbeit mit den äußeren Objekten und der Aufnahmeapparatur. (47)
[Anm. 2, S. 47:] Ich kann nicht umhin, die Schlußsequenz des neuen Films der Marx Brothers, Night in Casablanca – in welcher Harpo in unerklärlicher Weise auf den Pilotensitz eines großen Flugzeugs vordringt, unabsehbare Verwüstung stiftet, indem er eins ums andere Mal ein winziges bißchen auf die Kontrollhebel drückt und vor Vergnügen immer verrückter wird, je größer das Mißverhältnis ist zwischen der Winzigkeit seiner minimalen Anstrengung und dem Ausmaß des Unglücks – als ein großartiges und schreckliches Symbol des Menschlichen Verhaltens im Atomzeitalter zu verstehen. Gewiß würden die Marx Brothers diese Interpretation heftig zurückweisen; aber das hätte auch Dürer getan, wenn jemand ihm gesagt hätte, daß seine »Apokalypse« den gewaltigen Umsturz der Reformation habe vorausahnen lassen.
Kommentar: Der Vergleich zwischen Dürers Illustrationen zur Apokalypse (Offenbarung des Johannes) und dem komischen Remake der Marx-Brothers (nach Casablanca (Michael Curtiz, USA 1942)) erscheint gewagt. Interessant erscheint Panofskys Verweis auf eine „Phantastik oder unbeabsichtigte Symbolqualität“ filmischer Momente, die sich „weniger durch die Vorstellung des Künstlers […] als durch die Arbeit mit den äußeren Objekten und Aufnahmeapparatur“ einstellt, deutet auf ein optisch Unbewusstes, das ganz im Sinne der Ikonologie Rückschlüsse auf eine Gesellschaft und/oder eine Epoche („ein großartiges und schreckliches Symbol im Atomzeitalter“) erlaube. Rückblickend erinnern Panofskys Bemerkungen stärker noch an Stanley Kubricks Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, GB/USA 1964.
Zugleich tritt in Panofskys Anmerkung ein bedenkenswerter Widerspruch offen zutage, der sich gegenüber der Argumentation im Text ergibt. Im Gegensatz zu den traditionellen Bildkünsten, die ausgehend von der ‚leeren Leinwand’ ein ideelles Weltbild projizierten, resultiere der Film auf einem ‚materialistischen Weltverständnis’, d.h. der filmischen Registration der ‚äußeren Realität‘ der Dinge und Menschen. Wenn Dürers Apokalypse als Vorausahnung der Reformation gedeutet werden kann, so stellt sich die Frage, wie dieser Bedeutungsgehalt in Dürers phantastischer Symbolik ‚gemäß seiner Idee‘ eingetragen werden konnte.
Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche: die äußere Realität von Versailles im achtzehnten Jahrhundert – gleichgültig, ob es sich um das Original handelt oder um ein Hollywood-Faksimile, das sich ästhetisch praktisch nicht davon unterscheiden läßt […]. Alle diese Objekte und Personen müssen in einem Kunstwerk zusammengeordnet werden. Sie können in jeder beliebigen Weise angeordnet werden, wobei ‘Anordnung’ natürlich Schminke, Beleuchtung, Kameraarbeit usw. einschließt. Aber aus dem Weg gehen kann man ihnen nicht. So betrachtet, wird es evident, daß ein Versuch, die Welt einer künstlerischen Stilisierung zu unterwerfen, wie in den expressionistischen Dekors im Kabinett des Dr. Caligari (1919), nicht mehr sein konnte als ein anregendes Experiment, das auf den allgemeinen Lauf der Ereignisse nur geringen Einfluß gewinnen konnte. Die Realität stilisieren, bevor man sie anpackt, heißt letztlich dem Problem ausweichen. Das Problem ist: Mit der unstilisierten Realität so verfahren, sie so aufnehmen, daß das Ergebnis Stil hat. Diese Aufgabe ist nicht weniger legitim und nicht weniger schwierig als irgendeine Aufgabe in den älteren Künsten. (47f.)
Literatur:
Horst Bredekamp, »On Movies«. Erwin Panofsky zwischen Rudolf Arnheim und Walter Benjamin, in: Thomas Koebner und Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München 2006, S. 239–252.
Thomas Y. Levin, Die Ikonologie geht ins Kino: Panofskys Filmtheorie, in: Texte zur Kunst 6 (1996) 23, S.121–141.
Thomas Meder, Produzent ist der Zuschauer. Prolegomena zu einer historischen Bildwissenschaft des Films, Berlin 2006.
Regine Prange, Stil und Medium. Panofsky »On Movies«, in: Bruno Reudenbach (Hg.), Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg, Berlin 1994, S. 171–190.
Kommentare: Sebastian Lohmüller, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig