André Bazin

Malerei und Film (1949)

André Bazin (1918-1958) war ein französischer Filmkritiker und -theoretiker, der eine Vielzahl an einflussreichen Schriften über Filmtheorie und -ästhetik schrieb. Er war Mitbegründer der „Cahiers du cinéma“ und Filmkritiker für „Le petit Parisien“. Zudem gilt er als geistiger Vater der Nouvelle Vague, deren Stilistik vom italienischen Neorealismus inspiriert wurde. Die Schriften Bazins gaben wesentliche Anstöße für die Kritiker und späteren Filmkünstler der Nouvelle Vague: Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer und Jacques Rivette. Seine Ideen haben das Verständnis von Film verändert und die Entwicklung der “Autorentheorie“ inspiriert, die den Regisseur als kreativen Urheber des Films ansieht und den Film als eigene Kunstform anerkennt. [LE]

Textgrundlage: Andrè Bazin, Malerei und Film, in: ders., Was ist Film?, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 224-230 [frz.: Peinture et Cinéma, in: ders., Qu’est-ce que le cinéma, Bd. II: Le cinéma et les autres arts]. Laut Quellenverzeichnis des Herausgebers (Bazin 2004, S. 408) konnte die Erstveröffentlichung und die Entstehungszeit dieses Textes bislang nicht ermittelt werden. Der genannte Text weist jedoch große Ähnlichkeit zu zwei weiteren Artikeln auf die Bazin 1949 veröffentlicht hat, weshalb eine Entstehungszeit um 1949 vermutet werden kann. Vgl. André Bazin, L’espace dans la peinture et le cinéma. À propos de Van Gogh, in: ders., Écrits complets, Bd. 1, hg. v. Hervé Joubert-Laurencin u.a. Paris 2018, S. 524–526; ders., Le cinéma et la peinture: Van Gogh, in: ebd., S. 595–598. [TH]

Filme über Kunst, zumindest solche, die das Kunstwerk für eine filmische Synthese nutzen, wie die Kurzfilme von Luciano Emmer, wie VAN GOGH von Alain Resnais, Robert Hessens und Gaston Diehl, Pierre Kasts Goya-Film oder Resnais‘ GUERNICA, stoßen bei Malern und vielen Kunstkritikern auf einen grundsätzlichen Einwand.

Kommentar: Bei den namentlich genannten Filmen handelt es sich um: Alain Resnais, Van Gogh, F 1948, S/W, 18 Min; Pierre Kast, Les Désastres de la guerre, F 1951, S/W, 20 Min; Alain Resnais, Guernica, F 1950, S/W, 14 Min. Siehe unten für weitere Filme.

Einmal hörte ich ihn nach einer VAN GOGH-Vorführung sogar aus dem Mund eines für den Kunstunterricht zuständigen hohen Beamten aus dem Erziehungsministerium. Er läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Film verrät die Malerei, wenn er sie verwendet, und zwar in jeder Hinsicht. Die dramatische und logische Einheit des Films stellt völlig fiktive Zusammenhänge oder Chronologien zwischen inhaltlich und zeitlich oft sehr weit auseinanderliegenden Werken her. Emmer geht in GUERRIERI so weit, verschiedene Maler zu vermischen, doch die Verfälschung ist kaum geringer, wenn Pierre Kast seine Montage LES DESASTRES DE LA GUERRE mit Fragmenten der Caprichos anreichert oder wenn Resnais mit den einzelnen Epochen Picassos jongliert.

Kommentar: Luciano Emmer/Enrico Gras, Guerrieri, IT 1942, S/W, 11 Min.

Aber selbst wenn der Filmregisseur die kunstgeschichtlichen Daten gewissenhaft respektierte, stützte sich seine Arbeit noch immer auf ein ästhetisch widernatürliches Verfahren. Er analysiert ein seinem Wesen nach synthetisches Werk, er zerstört seine Einheit und stellt eine neue Synthese her, welche nicht die ist, die der Maler wollte. Mit welchem Recht, müßte man ihn eigentlich fragen. Es kommt noch schlimmer: Nicht nur der Maler, sondern die Malerei wird verraten, denn der Zuschauer glaubt, die bildnerische Wirklichkeit vor Augen zu haben, während er in Wirklichkeit dazu gezwungen wird, sie innerhalb eines Bildsystems wahrzunehmen, das sie zuriefst verfälscht. Erstens ist es schwarzweiß; hier wird auch der Farbfilm keine befriedigende Lösung bringen – seine Farben sind nie hundertprozentig getreu, und der einzelne Farbton läßt sich erst im Verhältnis aller Farben eines Gemäldes zueinander richtig bestimmen. Zweitens vermittelt die Montage eine horizontale, gewissermaßen geographische zeitliche Einheit, während die Zeitlichkeit des Gemäldes – sofern man sie ihr zuerkennt – geologisch ist, in die Tiefe reichend. Drittens schließlich und vor allem (dieses Argument wird kaum genannt, doch es ist das wichtigste) zerstört die Kinoleinwand den Raum des Gemäldes vollkommen. Wie das Theater durch Rampe und Bühnenarchitektur, setzt sich die Malerei durch den sie umschließenden Rahmen von der Realität ab – auch und vor allem von der Realität, die sie darstellt. Der Rahmen eines Gemäldes hat keineswegs eine bloß dekorative oder rhetorische Funktion. Die wirkungsvolle Darstellung der Komposition des Bildes ist nur eine sekundäre Konsequenz. Weit grundsätzlicher kommt dem Rahmen die Aufgabe zu, die Heterogenität des gemalten Mikrokosmos und des natürlichen Makrokosmos, in den das Gemälde sich einfügt, wenn nicht zu schaffen, so doch hervorzuheben. Daher die barocke Überladenheit des traditionellen Rahmens, der zwischen dem Gemälde und der Wand, an der es hängt, sprich: zwischen dem Bild und der Realität, eine geometrisch undefinierbare Abgrenzung bilden soll. Daher auch, wie Jose Ortega y Gasset es so überzeugend dargelegt hat, der Triumph des goldenen  Rahmens, »weil Gold das Material ist, das am meisten Reflexe erzeugt, und weil der Reflex jener Farb- und Lichtton ist, der in sich selbst keinerlei Form hat, der reine gestaltlose Farbe ist«.

Kommentar: Die zitierte Stelle lässt sich nur sinngemäß, jedoch nicht wortwörtlich auffinden. Dies ist vermutlich der (mehrfachen) Übertragung des (Ursprungs-)Textes geschuldet. Demnach zitiert Bazin hier aus Gassets Essay Meditationen über den Rahmen (1921). Vgl. José Ortega y Gasset, Meditationen über den Rahmen, in: ders., Triumph des Augenblicks. Glanz der Dauer (=Bücher der Neunzehn, Bd. 64), Stuttgart 1960, S. 63-70, hier S. 69. In der entsprechenden Stelle heißt es: Zitat: “Der Goldrahmen dankt seine Vorherrschaft wahrscheinlich dem Umstand, daß der Purpurfirnis besonders gut dazu geeignet ist, Reflexe zu erzeugen; und der Reflex ist die Sorte von Farbe, von Licht, die keine Spur von Dingform mehr mitführt, die reine, formlose Farbe ist.” [NJ]

Mit anderen Worten, der Rahmen des Gemäldes ist eine Zone räumlicher Desorientierung. Er stellt dem natürlichen Raum und dem unserer aktiven Erfahrung, der den  Rahmen außen umgibt, einen nach innen orientierten Raum gegenüber: Der kontemplative Raum öffnet sich nur auf das Innere des Gemäldes.

Die Umgrenzung der Kinoleinwand ist kein »Rahmen« des Kinobildes, wie die technischen Begriffe manchmal glauben machen, sondern ein Kasch, eine Abdeckung, die nur einen Teil der Realität freilegen kann. Der Rahmen polarisiert den Raum nach innen, hingegen ist alles, was die Leinwand uns zeigt, darauf angelegt, sich unbegrenzt ins Universum fortzusetzen. Der Rahmen ist zentripetal, die Leinwand zentrifugal.

Kommentar: Bazin stellt fest, dass der Rahmen eines Gemäldes auf die Betrachter:innen zentripetal wirkt. Indem es über den Rahmen von äußeren Einflüssen abgegrenzt wird, ist der Raum des Gemäldes klar definiert. Die Filmleinwand hingegen wirkt zentrifugal, der dargestellte Film wird von dieser nicht abgegrenzt, sondern lediglich kaschiert beziehungsweise überdeckt. Den Betrachter:innen ist bewusst, dass das präsentierte Geschehen hinter der Leinwand weitergeht. Der Filmwissenschaftler Volker Pantenburg nähert sich diesem Argument anhand von Jean-Luc Godards Film Pierrot le fou (1965) und denkt Bazins Überlegungen weiter. In Godards Film werden häufig Ausschnitte von Gemälden gezeigt, die ganz offensichtlich über den Rand der Leinwand hinausgehen. Pantenburg bezeichnet diese Synthese von Gemälderaum und dargestellten Film als “eine erzählerische Verlängerung im filmischen Plot“, also als narrative Erweiterung des Films über den Umweg der eingeblendeten Gemälde(reproduktionen). Zugleich werde die Leinwand zum Schauplatz einer potentiellen „Verlängerung dieses Prinzips in den Zuschauerraum” und damit einer wechselseitigen Überschreitung von Kunst und Leben (Volker Pantenburg, Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006, S. 104f.). [AMD]

 Jean-Luc Godard, Pierrot le fou (1965), Montage zweier Filmausschnitte [TH]

Wenn man also den Prozeß umkehrt und die Kinoleinwand in den  Rahmen einfügt, wird der Raum des Gemäldes seine Orientierung und seine Begrenzung verlieren und sich unserer Vorstellung als unbegrenzt aufdrängen. Ohne seine anderen Eigenschaften als Werk der bildenden Kunst zu verlieren, wird das Gemälde plötzlich mit den räumlichen Eigenheiten des Films ausgestattet, es wird Teil eines virtuellen Bilduniversums, das es von allen Seiten überschwemmt. Auf diese Geistestäuschung gründete Luciano Emmer seine phantastischen ästhetischen Rekonstruktionen, von denen der größte Teil der zeitgenössischen Kunstfilme sich herleitet, vor allem Alain Resnais‘ VAN GOGH. Der Regisseur behandelt darin das Gesamtwerk des Malers wie ein einziges großes Gemälde, in dem die Kamera sich mit ebensoviel Freiheit bewegt wie in einem beliebigen Dokumentarfilm. Von der »Rue d’Arles« »gelangen« wir durchs Fenster »in« das Haus Van Goghs und nähern uns dem Bett mit der roten Daunendecke. Und Resnais wagt es sogar, im »Gegenschuß« eine alte holländische Bäuerin zu zeigen, die in ihr Haus tritt.

Kommentar: Bazin beschreibt hier ein spezifisches Verfahren des Films, in dem durch Kamerabewegung (kein Zoom) und Montage eine filmische Inszenierung mehrerer (dem Ort und Motiv nach unterschiedlicher) Gemälde erzielt wird. Die Gemäldereproduktionen werden wie filmische Einstellungen behandelt. Türen, Fenster und motivische Ähnlichkeiten (Bauernhaus=Bäuerin) werden genutzt, um filmische Anschlüsse zu generieren. Die von Bazin beschriebenen Szenen erscheinen im Film in umgekehrter Reihenfolge und sind hier zum Vergleich zusammenmontiert:

Alain Resnais, Van Gogh, F 1948, S/W, 18 Min., Filmausschnitte

Ein Blick in den Drehplan des Films verrät, dass die Schnittfolge ursprünglich anders geplant war. Der von Bazin bemerkte „Gegenschuss“ auf die Bäuerin wurde offenbar erst beim Schnitt eingefügt. [TH]

Natürlich ist es ein leichtes zu behaupten, ein solches Verfahren verfälsche das Wesen der Malerei von Grund auf; daß es besser wäre, Van Gogh hätte weniger Bewunderer, die aber genau das verbergen, was sie bewundern, und daß eine Verbreitung von Kultur, die zuerst ihren Gegenstand zerstört, doch eigenartig sei.

Doch dieser Pessimismus hält der kritischen Prüfung nicht stand, weder von einem kontingenten, pädagogischen noch vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet.

Denn könnte man nicht, statt dem Film seine Unfähigkeit vorzuwerfen, uns die Malerei getreu wiederzugeben, ganz im Gegenteil hell erfreue sein über das endlich gefundene Sesam-öffne-dich, das Millionen von Zuschauern den Zugang zu den Meisterwerken ermögliche? Die Würdigung eines Gemäldes und der ästhetische Genuß sind ja tatsächlich fast unmöglich ohne eine vorausgehende Initiation des Betrachters, ohne Kunsterziehung, die ihn in den Stand setzt, die Abstraktionsleistung nachzuvollziehen, durch die sich die gemalte Oberfläche bewußt von der natürlichen äußeren Welt abhebt. Bis ins 19. Jahrhundert war das Alibi der Ähnlichkeit das Mißverständnis des Realismus, aufgrund dessen der Laie in das Gemälde eindringen zu können glaubte, und die dramatische oder moralische Anekdote bot dem ungebildeten Geist einen noch größeren Halt.

Bekanntlich ist das heute anders, und das Entscheidende an den filmischen Essays von Luciano Emmer, Henri Storck, Alain Resnais, Pierre Kast und einigen anderen scheint mir, daß es ihnen gerade gelungen ist, das gemalte Werk sozusagen in der natürlichen Wahrnehmung »aufzulösen«, so daß es wirklich genügt, Augen zu haben, um zu sehen, und weder Bildung noch Initiation länger nötig sind, um die Malerei, die sich dem Geist aufgrund der Struktur des Filmbilds wie ein natürliches Phänomen einprägt, unmittelbar, man könnte sogar sagen: zwangsweise zu genießen.Die Maler mögen in Betracht ziehen, daß es sich keineswegs um eine Rückbildung des künstlerischen Ideals, eine Vergewaltigung des Werks und die Rückkehr zu einem realistischen, anekdotischen Konzept handelt, denn diese neue Popularisierungsmöglichkeit hat keine Auswirkungen auf die Sujets der Malerei, schon gar nicht auf die Form! Der Maler kann weiter malen, wie er will, die Filmhandlung bleibt äußerlich; sie ist realistisch, gewiß, doch dabei handelt es sich – und das ist die ungeheure Entdeckung, über die jeder Maler sich freuen sollte – um einen Realismus zweiten Grades, basierend auf der Abstraktion des Gemäldes. Das ausgearbeitete, abstrakte Zeichen nimmt dank dem Film und den psychologischen Eigenheiten der Leinwand für jeden Geist die Evidenz und das Gewicht einer mineralischen Wirklichkeit an. Es sollte nun einsichtig sein, daß der Film die andere Kunst durchaus nicht verrät und verfälscht, sondern im Gegenteil dazu beiträgt, sie zu retten, indem es die Aufmerksamkeit der Menschen wieder auf sie lenkt.

Kommentar: Bazin spricht davon, dass mit der Malerei im Film eine Metaebene geschaffen wird. Diese erzeugt einen Realismus zweiten Grades. Das Kunstwerk bleibt unangetastet. Aber die Präsenz der Malerei im Film setzt dieses in einen neuen Bezug und ermöglicht eine veränderte Betrachtungsweise. Zudem nimmt Bazin Bezug auf die Behauptung, der Film „verrate“ oder „verfälsche“ die Malerei. Bazin stellt sich auf die Seite derer, die Kunst nicht nur einer Bildungselite, sondern vielmehr einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Somit schafft es der Film, den Zugang zur Kunst auch außerhalb des Museums zu ermöglichen. [DB]

Bei der Malerei ist die Kluft zwischen dem Künstler und der riesigen Mehrheit des nicht eingeweihten Publikums vielleicht tiefer als bei allen anderen modernen Künsten. Wer also nicht einem unfruchtbaren Elitedenken huldigt, wird sich beglückwünschen, daß das Werk an das Publikum zurückgegeben wird, ohne den Aufwand besonderer Bildung. Wenn eine solche Kostenersparnis die Verfechter eines Kultur-Malthusianismus [2] schockiert, sollten sie darüber nachdenken, daß sie uns auch eine künstlerische Revolution ersparen könnte: die des »Realismus« nämlich, der ganz anderes unternimmt, um die Malerei dem Volk zurückzugeben.Was die rein ästhetischen, vom pädagogischen Aspekt des Problems ganz verschiedenen Einwände angeht, so liegt ihnen offenbar ein Mißverständnis zugrunde, weshalb sie vom Filmregisseur etwas ganz anderes fordern, als was dieser uns anbietet. Denn in Wirklichkeit sind VAN GOGH oder GOYA nicht, oder nicht nur, eine neue Art, das Werk dieser Maler zu zeigen. Das Kino spielt keine untergeordnete, didaktische Rolle wie die Photographien in einem Album oder die Dias bei einem Vortrag. Diese Filme sind selbst Kunstwerke. Sie haben eine autonome Daseinsberechtigung. Sie dürfen nicht allein im Hinblick auf die Malerei beurteilt werden, die sie behandeln; man muß sie an der Anatomie oder vielmehr Histologie jenes neuen ästhetischen Wesens messen, das aus der Begegnung von Malerei und Film hervorgehe. Die Einwände, die ich oben formuliert habe, sind in Wirklichkeit nichts als die Definition der neuen Gesetzmäßigkeiten, die aus dieser Begegnung hervorgegangen sind. Der Film ist nicht gekommen, um der Malerei zu »dienen« oder sie zu verraten, sondern um ihr eine weitere Daseinsform hinzuzufügen. Der Malerei-Film ist eine ästhetische Symbiose zwischen Leinwand und Gemälde wie die Flechte zwischen Alge und Pilz. Die Empörung darüber ist so unsinnig wie die Verdammung der Oper im Namen von Theater und Musik.

Kommentar:

Doch es stimmt, das Phänomen enthält etwas radikal Modernes, was in diesem traditionellen Vergleich nicht zum Ausdruck kommt. Der Malerei-Film ist kein Zeichentrickfilm. Sein Paradoxon besteht darin, daß er ein bereits vollkommen ausgeformtes Werk verwendet, das sich selbst genügt. Doch gerade weil er es durch ein Werk zweiten Grades ersetzt, das von einem ästhetisch ausgearbeiteten Material ausgeht, wirft er auf dieses ein neues Licht. Vielleicht dient der Film der Malerei sogar gerade dann am entschiedensten, wenn er ganz und gar selbst ein Werk ist, sie also am meisten zu verraten scheint. Mir sind VAN GOGH oder GUERNICA weit lieber als RUBENS oder Haesaeres‘ VAN RENOIR TOT PICASSO, die nur belehren und interpretieren wollen.

Kommentar: Die genannten Filme sind: Paul Haesaerts, Van Renoir tot Picasso, BE 1948, S/W, 32 Min.; Henri Storck/Paul Haesaerts, Rubens, BE 1948, S/W, 62 Min. Vergleicht man VAN GOGH mit RUBENS, fallen dem Betrachtenden sicher schnell Ähnlichkeiten auf. Die Filme sind in schwarz weiß gehalten, mit klassischer Musik hinterlegt, eine Erzählstimme führt durch den Film. Die Herangehensweisen unterscheiden sich jedoch stark voneinander. In Resnais Film werden wir durch Van Goghs Leben geführt, wobei die verschiedenen Orte durch seine Gemälde dargestellt werden. Auch wenn diese Werke in Wahrheit andere Orte darstellen als im Film suggeriert, so bieten sie uns doch einen Einblick, wie das Leben durch Van Goghs Augen hätte erscheinen können.
In RUBENS liegt der Fokus weniger auf dem Innenleben des Künstlers und viel mehr auf dessen Maltechnik. Die Herangehensweise ist akademisch und analytisch, nicht emotional. So gesehen ist Resnais Film viel mehr ein Werk, welches die Malerei im Film als Vehikel nutzt, um eine Biografie zu erzählen, wobei die Gemälde aber nicht der Fokus, sondern mehr eine Untermalung sind. Resnais bringt dem Publikum durch seine spannende Narrative den Künstler als Menschen näher und rückt seine Bilder damit in ein neues Licht. Wer sich vorher nicht für Van Gogh interessierte, dessen Interesse kann dieser Film wecken. Wer sich nicht für Rubens interessiert, wird der Analyse seiner Gemälde nicht viel abgewinnen können. [CB]

Das liegt nicht nur daran, daß die Freiheiten, die sich Alain Resnais herausnimmt, die Zwiespältigkeit, die Mehrdeutigkeit aller echten Schöpfung bewahren, während die interpretatorische Absicht von Storck und Haesaeres meinen Zugang zum Werk begrenzt, indem sie ihn eröffnet; es liegt vor allem daran, daß die Schöpfung hier die beste Interpretation ist. Indem er das Werk entstellt, seine Rahmen zerbricht, sogar seine Essenz angreift, [er]zwingt der Film es, manche seiner geheimen Möglichkeiten zu enthüllen. Haben wir vor Resnais wirklich gewußt, was Van Gogh wäre ohne das Gelb?

Kommentar:

Sicher, das Unternehmen ist riskant, und man ahnt die Gefahren in den weniger gelungenen Filmen von Emmer: eine künstliche, mechanische Dramatisierung, die im äußersten Fall das Gemälde durch die Anekdote ersetzt; doch das zeigt, daß das Gelingen auch vom Rang des Regisseurs abhängt und davon, wie tief sein Verständnis für den Maler ist. Es gibt eine literarische Kunstkritik, die ebenfalls Neuschöpfung ist: Baudelaires Studie über Delacroix, die von Valéry über Baudelaire und von Malraux über EI Greco.

Schieben wir die Schwächen und Sünden des Menschen also nicht aufs Kino. Wenn der Nimbus der Überraschung und Entdeckung einmal vorbei ist, werden die Malerei-Filme so gut sein wie die, die sie machen.

Kommentar: Es handelt sich um Charles Baudelaire, L’œuvre et la vie d’Eugène Delacroix (1863); Paul Valéry, Situation de Baudelaire (1924). Welchen Text von Malraux Bazin hier meint ist unklar. Unter anderem in Les Voix de silénce (1951) geht der Kunstschriftsteller auf die Malerei El Grecos ein. Vgl. André Malraux, Les Voix du Silence, Paris 1951, S. 419-422.

Filmtitel:

Luciano Emmer, Disastri della guerra: dalle pitture e dalle incisioni di Francisco Goya, IT 1950, S/W, 17 Min.

Luciano Emmer/Enrico Gras, Guerrieri, IT 1942, S/W, 11 Min.

Paul Haesaerts, Van Renoir tot Picasso, BE 1948, S/W, 32 Min.

Pierre Kast, Les Désastres de la guerre, F 1951, S/W, 20 Min.

Alain Resnais, Guernica, F 1950, S/W, 14 Min.

Alain Resnais, Van Gogh, F 1948, S/W, 18 Min.

Henri Storck/Paul Haesaerts, Rubens, BE 1948, S/W, 62 Min.

Kommentare: Lisa Eisenlohr, Celine Bergmann, Dennis Bruns, Nicole Jager, Jacqueline Katharina Weiß, Anna-Maria Dergay Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig