André Malraux

Versuch einer Psychologie des Films (1939)

Wiedergabe in Auszügen aus: André Malraux, Versuch einer Psychologie des Films, in: Joseph Rovan (Hg.), DOK 50, Sondernummer Film und Kultur, Stuttgart 1950, S. 2−7; vgl. die historisch kritische Ausgabe: Esquisse d’une psychologie du cinéma, hg. v. François Albera und Jean-Paul Morel, in: 1895. Revue de l’association française de recherche sur l’histoire du cinéma, 76, 2015, S. 136−154, https://journals.openedition.org/1895/5020.

André Malraux (1901-1976), war ein französischer Schriftsteller, Filmregisseur und Politiker. Seine bekanntesten Romane veröffentlichte er zwischen 1928 und 1937. Darunter Le Conquérants (1928), La Voie royale (1930), La Condition humaine (1933) und L’Espoir (1937). Zudem verfasste er reich bebilderte Abhandlungen, die sich der Kunst widmeten, wie La Psychologie de l’art (3 Bde., 1947–50), Les Voix de silénce (1951) und La Métamorphose des dieux (3 Bde., 1957–76). Der Aufsatz Ein Versuch einer Psychologie des Filmes wurde erstmals 1939 in der Kunst- und Literaturzeitschrift Verve veröffentlicht. Teile des Aufsatzes hat Malraux später in seine Schriften Le Musée imaginaire (La Psychologie de l’art, Bd. 1) und Les Voix de silénce (1951) integriert. Malraux verfasste den Aufsatz nach Erfahrungen aus der Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg sowie den Dreharbeiten zu seinem Film L’Espoir. Sierra de Teruel (1939), der den Bürgerkrieg aus dem Jahr 1938/39 zum Gegenstand hat und der seinerseits auf dem Roman L’Espoir (1937) beruht (siehe unten). Ein Versuch einer Psychologie des Filmes teilt sich in sechs Abschnitte auf, in denen historische Entwicklungsstufen des Films dargestellt werden. Parallel dazu hinterfragt Malraux die Stellung des Films unter den anderen Künsten sowie die Verbindung zwischen Film, Literatur und Theater.

1. Malerei und die Entdeckung der Bewegung

[Z]u Ende des barocken Zeitalters vollzieht sich ein ganz neues Ereignis in der Geschichte der Malerei: diese hört auf, neue Mittel zu entdecken, um die Welt darzustellen. Sie wird das, was wir heute Malerei nennen, eine Angelegenheit der Künstler. Keine Menschenmenge defiliert mehr hingerissen vor einem Gemälde. Linien und Farben werden immer mehr der Ausdruck einer inneren Welt. Während die heimliche Blüte der modernen Malerei sich erschließt, versteinern sich die Bemühungen um die Kunst der Darstellung in einer verwirrenden Hetzjagd nach Darstellung der Bewegung.

Es war keine „künstlerische” Entdeckung, die schließlich dazu führte, die Bewegungsdarstellung einzufangen. Was die untergehende barocke Welt so nachdrücklich forderte, war keine Veränderung des Bildes selbst, sondern eine Folge von Bildern. Es ist daher nicht erstaunlich, daß eine Kunst voll Handlung und Gefühl, besessen vom Geist des Theaters, schließlich zum Film führen mußte. (3f.)

Die Kunst drängt zur Bewegung. André Malraux, Stimmen der Stille, übers. von Jan Lauts, Baden-Baden 1956, S. 120f.

2. Fotografie und Film

In ihrem Bemühen, das Leben wiederzugeben, durchläuft die Photographie dreißig Jahre Entwicklung von starrer Primitivität bis zu mehr oder weniger ausschweifendem Barock und erfährt nun nacheinander die alten Probleme der Malerei. […] 

Die Bemühungen von vier Jahrhunderten, sich der Bewegung zu bemächtigen, endigte also bei der Photographie genau an dem gleichen Punkt, wo auch die Malerei aufgeben mußte, und der Kinematograph, der zwar nunmehr die Photographie der Bewegung gestattete, ersetzte lediglich die unbewegliche Gebärde durch die bewegliche. Um die starken Bestrebungen in der Vervollkommnung der Darstellungsweise, die im Barock versunken waren, fortsetzen zu können, mußte man die Kamera von der dargestellten Szene unabhängig machen. Das Problem lag nicht in der Bewegung der Personen im Bild, sondern in der Aufeinanderfolge der Bilder. Es konnte nicht technisch gelöst werden durch eine Veränderung der Apparatur, sondern mußte auf künstlerische Art durch Erfindung der Montage gefunden werden. 

Solange das Kino nur ein Mittel war zur Wiedergabe von in Bewegung befindlichen Personen, war es nicht mehr und nicht weniger eine Kunst als auch die Photographie oder die Bildkopie. In einem festgelegten Raum, gewöhnlich der einer wirklichen oder gedachten Theaterbühne, entwickelten oder zeigten die Darsteller ein Schauspiel oder einen Schwank, und der Apparat beschränkte sich darauf, diesen Vorgang aufzuzeichnen. Die Geburt des Filmes als Ausdrucksmittel (und nicht als Reproduktionsmittel) datiert von der Preisgabe dieses festgelegten Raumes; nun fügt der Filmgestalter seine Erzählung aus bildlichen Einheiten zusammen und dreht nicht mehr ein Stück, sondern eine Folge von Augenblicksszenen; er fährt mit seinem Apparat näher heran, um die Personen seines Filmes größer erscheinen zu lassen oder geht mit ihm nach Bedarf zurück. Er ersetzt die Theaterbühne durch den Spielraum, der nur durch die Größe der Leinwand beschränkt ist. In diesem Spielraum geht der Darsteller aus und ein, und statt dem Regisseur durch seine Begrenztheit Fesseln aufzuerlegen, wird der Raum von ihm nach seinem Ermessen ausgewählt. Das Produktionsmittel des Filmes ist die bewegliche Photographie, aber das Ausdrucksmittel ist die Montage, der Aufbau der Szenen. (3f.)

Kommentar: Ohne die Montage ist der Film ebenso unfähig Bewegung auszudrücken wie Malerei oder Photographie. Die Erfindung der Großaufnahme stellt dabei einen wichtigen Fortschritt dar. Es wird deutlich, dass die Kunst beim Film nicht lediglich darin besteht, das Spiel des Schauspielers wiederzugeben, sondern durch die Kameraführung eine besondere Beziehung zwischen dem Dargestellten und den Betrachtern zu erzeugen. Erwin Panofsky formuliert eine ähnliche Beobachtung. Im Theater sei der Raum statisch, da sich das Bühnenbild während einer Szene nicht verändern könne:  „sowohl der dargestellte Raum auf der Bühne als auch die räumliche Beziehung zwischen Betrachter und Schauspiel ist unveränderlich Beim Film ist die Situation umgekehrt. […]. Ästhetisch ist [der Zuschauer] in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert.“ [Link]

3. Vom Stummfilm zum Tonfilm

Der Tonfilm ist so wenig eine Vervollkommnung des Stummfilmes wie der Aufzug eine Vervollkommnung des Wolkenkratzers ist. Der Wolkenkratzer erstand aus der Erfindung des Eisenbetons und des Aufzuges. Der moderne Film wurde nicht geboren aus der Möglichkeit, die Worte hörbar zu machen, die die Personen des Stummfilmes sprachen, sondern aus den vereinigten Möglichkeiten des Ausdrucks von Bild und Ton. Solange dieser Ton nur photographische Kopie ist, bleibt er ebenso lächerlich wie der Stummfilm als bewegliche Photographie. Er wird zur Kunst, wenn die Regisseure begreifen, daß der Stammvater des Filmtones nicht die Schallplatte ist, sondern das Hörspiel. […] (S. 4) 

Aber weder Zeichnungen noch Gemälde wurden gemacht, um vervielfältigt zu werden. Sie sind Selbstzweck in sich. Die primitive Auffassung, eine Theaterszene zu filmen, ist daher von vornherein zu verwerfen; eine derartige Reproduktion hat weniger Wert als die abgenutzte Platte eines Kupferstechers.“ (S. 5)

Kommentar: Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm bedeutet für Malraux nicht nur eine Veränderung technischer Parameter, sondern einen Zugewinn filmischer Ausdrucksmöglichkeiten. Der Ton müsse allerdings in einem engen Zusammenhang zum Bild stehen, sonst werde der Zweck verfehlt. Um den Mehrwert des Tons als Ausdrucksmittel im Film hervorzuheben, erläutert Malraux, dass der Filmton erst dann zum künstlerischen Ausdruck (Hörspiel) finden könne, wenn er nicht mehr als bloße Reproduktion (Schallplatte) verstanden wird. Vgl. auch Panofskys Bemerkungen zum Tonfilm [Link].

4. Theater, Literatur und Film

Der Umstand, daß das Theater für den Ausdruck seiner Gefühle keine anderen Darstellungsmittel hat als das Wort und die Gebärde, machte aus ihm fast ebensosehr wie aus dem Stummfilm angesichts des heraufziehenden Tonfilmes eine amputierte Kunst. Ein Theaterschauspieler ist ein kleiner Kopf in einem großen Saal, ein Filmschauspieler ein großer Kopf in einem kleinen Saal. Ein ganz gewaltiger Vorteil; denn schon der Stummfilm hatte manche Szene, die das Theater nur durch Schweigen zum Ausdruck bringen konnte, mit der unendlichen Ausdrucksmöglichkeit des menschlichen Gesichtes wirksam machen können.

Die Pause ist einer der großen Vorteile des Theaters. Die Handlung geht weiter, auch wenn der Vorhang geschlossen ist. Der Verfasser des Dramas deutet dies in geschickter Weise an. Der Roman schaltet für solche toten, zu übergehenden Zeiten, ein weißes Blatt ein, welches die Kapitel trennt, das Theater die Pause, das Kino hat aber nichts besonderes in dieser Beziehung aufzuweisen.

[…] Im Gegensatz zur Pause, die eine mit Handlungen ausgefüllte Zeit sein kann, wird der Bildübergang des Filmes kaum andeuten können, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat […]. Der Film bringt dies fertig, mit einiger Schwierigkeit, aber es gelingt ihm. Alles zusammengenommen kann man sagen, daß die Sequenz (Handlungseinheit) dem Kapitel im Roman entspricht. Der Film kennt nicht die feinere Unterteilung, welche die Abschnitte des Romans und die Auftritte im Theater kennzeichnen. Der Stummfilm unterschied noch zwischen den einzelnen Auftritten, der Tonfilm kann dies nicht mehr, und die Schnittmeister sehen hier eine ihrer Hauptschwierigkeiten; denn der Tonfilm verträgt keine leeren Zwischenräume und die Kontinuität der Erzählung ist bei ihm oberstes Handlungsprinzip.

Der Schnittmeister ist zum Erzähler geworden; der wirkliche Gegenspieler des Films ist nicht mehr das Theater, sondern der Roman.

Kommentar: Was Theater und Roman dem Film voraus haben, ist die Fähigkeit Zeitsprünge einsetzen zu können. Dies werde im Theater durch die Pause ermöglicht und im Roman durch die leere Seite. Der Film habe dagegen Schwierigkeiten, einen Zeitsprung unmittelbar verständlich zu machen, da die „Kontinuität der Erzählung“ oberstes Prinzip sei. Einzig Schnitt und Montage könnten dies kompensieren. Der „Schnittmeister“ werde daher zum eigentlichen Protagonisten bzw. Autor des Werks. Das ‚Editorische‘ wird hier vom Text auf die ‚Sprache‘ der Montage verlegt. Vgl. auch Alexandre Astruc: “Von heute an ist es möglich, dem Film Werke zu geben, die durch ihre Tiefe und ihre Bedeutung den Romanen von Faulkner, denen von Malraux, den Essays von Sartre oder Camus ebenbürtig sind. Übrigens haben wir ein bezeichnendes Beispiel vor Augen: es ist L’espoir von Malraux, wo vielleicht zum ersten Mal die Filmsprache ein der literarischen Sprache genau entsprechendes Äquivalent bietet.”

Andre Malraux, L’Espoir. Sierra de Teruel (1939), Filmausschnitt

5. Das Geheimnis des menschlichen Gesichtes

Der Romanschriftsteller verfügt über ein weiteres mächtiges Ausdrucksmittel, indem er die entscheidenden Momente seiner Personen mit der umgebenden Atmosphäre oder Natur verknüpft. […] Der Roman scheint […] dem Film gegenüber einen gewaltigen Vorteil voraus zu haben: die Möglichkeit, auf das Innenleben seiner Personen einzugehen. […] Endlich kann das Geheimnis einer schwach gezeichneten Persönlichkeit im Film durch das Geheimnis des menschlichen Gesichtes stärker ausgedrückt werden, und dies mag dann wohl dazu beitragen, jenen Ton zu finden, aus dem einige meisterhafte Träumereien wie die großen Novellen von Tolstoi entstanden sind […].

Kommentar: Vgl. hierzu auch Godards Bemerkungen zu Renoirs Verfilmung von Faulkners Madame Bovary (1856) [Link/Link] sowie Panofskys Bemerkung zum Kino als Projektionsfläche eines Seelenzustandes: “Zudem hat der Film eine Macht, die dem Theater gänzlich versagt ist: die Macht, psychische Erfahrungen mitzuteilen durch ihre unmittelbare Projektion auf die Leinwand, wobei der Zuschauer sozusagen vor Augen hat, was die betreffende Person im Film innerlich wahrnimmt.” (23) [Link]

6. Mythos des Stars

Ein Star ist weder aus der Entfernung noch aus der Nähe ein Schauspieler, der einen Film spielt. Er ist ein mit einem Minimum von dramatischem Talent ausgestattetes Wesen, dessen Gesicht einen Instinkt der Masse ausdrückt, symbolisiert und verkörpert: Marlene Dietrich ist keine Schauspielerin wie Sarah Bernhardt, sie ist eine sagenhafte Gestalt wie Phryne. Das geht so weit, daß der Star sich dunkel selbst des Mythos bewußt ist, den er verkörpert, und daß er daher vom Drehbuch verlangt, daß er diese seine Rolle fortsetzen kann. Das Publikum kennt seine Stars, durch die Großaufnahmen, besser als es je die Schauspieler des Theaters kannte. Und das künstlerische Leben der einen vollzieht sich in umgekehrter Weise wie das der anderen: Eine große Schauspielerin ist eine Frau, die in der Lage ist, eine große Zahl verschiedenartiger Rollen zu verkörpern, und ein Star ist eine Frau, deren Talent die Entstehung vieler gleichartiger Drehbücher fordert. […] Und die Filmbegeisterten wissen sehr gut, daß trotz der Bemühungen der Drehbuchschreiber, die Rollen zu verselbständigen, der Darsteller doch alles beherrscht. So wie man Pierrot als Dieb, Pierrot am Galgen, den betrunkenen und den verliebten Pierrot gesehen hat, so sieht man auch immer wieder die Garbo, mag sie Königin oder Kurtisane sein, Marlene immer nur Marlene, ob Dirne oder Spionin, Stroheim in Gibraltar, Stroheim in Belgrad, Stroheim im Krieg, Gabin und nur Gabin als Legionär oder als Eisenbahner. Das vollkommene Beispiel ist Chaplin. Ich habe in Persien einen Film gesehen, der in Wirklichkeit nie gedreht wurde. Er hieß: Das Leben Charlie’s Die persischen Kinos sind unter freiem Himmel; auf den Mauern, die die Zuschauer umgaben, saßen schwarze Katzen und schauten mit zu. Die armenischen Unternehmer hatten aus allen Charliefilmen auf recht schlaue Art eine Gesamtmontage angefertigt, und das Ergebnis dieses sehr langen Streifens war überraschend. Der Mythos Chaplins erschien im Reinzustand.

Kommentar: Der Star wird hier als bekannte und berühmte Person verstanden, die sich in erster Linie durch ihre charakteristischen Merkmale (Stimme, Aussehen, Gesten) offenbart. Sie verortet sich als manifestierte, konstruierte Gestalt im kollektiven Gedächtnis. Der Status des Schauspielers wird dagegen mit der Fähigkeit in Verbindung gebracht, in fremde Rollen schlüpfen zu können. Vgl. auch Panofskys Charakterisierung filmischer Rollentypen [Link] sowie den Glossar-Eintrag „Star“ [Link].

Kommentare: Flavia Latino und Isabel Maier, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig

Literatur

Alexandre Astruc, Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter, in: Theodor Kotulla (Hg.), Der Film, Manifeste, Gespräche, Dokumente, Bd. 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 111–115