Alfred Hitchcock

Das Kino nach Hitchcock (1962)

Wiedergabe in Auszügen aus: François Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 2003.

Truffauts Interviewband ist die verschriftlichte Wiedergabe eines Interviews, das der französische Filmkritiker und Regisseur mit dem Filmregisseur Alfred Hitchcock im August 1962 im dessen Büro auf dem Gelände der Universal Studios geführt hat. Hitchcock, Truffaut und Helen Scott, die französisch-englisch übersetzte und in Vor- und Nachbearbeitung editorisch mitwirkte, sprachen über mehrere Tage jeweils neun Stunden am Stück miteinander – auch während der Essenspausen unterbrachen sie laut Truffaut das Gespräch nicht. Das von Truffaut als 50-Stunden-Interview bezeichnete und über Tonband aufgezeichnete Gespräch ergab ca. 26 Stunden Aufnahmematerial, das inzwischen auf einer Website einsehbar ist [Link].

Zu dem Zeitpunkt der Aufnahme beendete Hitchcock gerade die Postproduktion an The Birds (1963). Die Transkription und Übersetzung sowie die Auswahl und Zusammenstellung des begleitenden Bildmaterials nahmen vier weitere Jahre in Anspruch, sodass das Werk erst Ende 1966 unter dem französischen Originaltitel „Le Cinéma selon Hitchcock“ (wörtlich: Das Kino nach Hitchcock) erschien. In der Zwischenzeit befragte Truffaut den Filmkünstler „bei jedem Zusammentreffen erneut“ (Truffaut 2003, S. XI.), um das Werk aktuell zu halten. Späteren Ausgaben fügte Truffaut weitere Kapitel hinzu.

Beginnend mit der Stummfilmzeit besprechen Hitchcock und Truffaut detailliert und in chronologischer Reihenfolge die Filme Hitchcocks. Unter der Fragestellung „Wie drückt man sich auf eine rein visuelle Weise aus?“ (Truffaut 2003, S. 10) diskutieren sie a) Entstehung des Filmes b) Ausarbeitung und Aufbau des Drehbuches c) technische Herausforderungen und d) Hitchcocks eigene Bewertung der jeweiligen Produktionen (vgl. Truffaut 2003, S. 10). 

„Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ wird als ein bedeutendes Werk der Filmliteratur rezipiert, da es sowohl eine detaillierte Studie über Hitchcocks Werk enthält als auch als Leitfaden für das Handwerk des Filmemachens verstanden wird.

Ausgangspunkt: „Allzuoft bemerkt man in Filmen Einstellungen, die nur formales, kein inhaltliches Interesse haben. Der Regisseur hat irgendeinen raffinierten Blickpunkt gefunden, und den verwendet er nun, auch wenn er nichts bedeutet. In einem Spielfilm muß jede Einstellung dem Sinn der Handlung dienen.“ (Arnheim 1974, S. 61).

Mit diesen Worten charakterisiert Arnheim den Balanceakt zwischen Darstellungs- und Ornamentiertrieb, der Voraussetzung eines gelungenen Kunstwerks sei. Sein Beispiel ist eine Szene aus dem dadaistischen Kurzfilm Entr’acte (René Clair, 1924) und der „Aufnahme einer Balletteuse, die auf einer Glasscheibe tanzt und von unten her, durch diese Scheibe hindurch, photographiert ist.“ Nach dem Urteil Arnheims wäre hierin lediglich eine formale (d.h. ornamentale) Spielerei auszumachen, die jedoch keinerlei Sinn mehr enthielte (ausführlicher dazu im Text von Arnheim [Link]). Arnheims Bemerkungen laden dazu ein, die formal ähnliche Glasboden-Einstellung in Alfred Hitchcocks Film The Lodger (1927) in den Blick zu nehmen.

Verfolgt auch diese Einstellung ein lediglich formales Interesse oder führt sie die Handlung weiter und hat einen über das Ornamentale hinausgehenden Sinn und trägt somit zum Kunstgenuss nach Arnheim bei? 

HITCHCOCK: „Der Mieter richtet sich in seinem Zimmer ein. Kurz darauf geht er im Zimmer auf und ab, wodurch der Leuchter hin- und herschaukelt. Da wir ja noch keinen Ton hatten, habe ich einen Boden aus sehr dickem Glas machen lassen, durch das hindurch man den Mieter sehen konnte. Natürlich wären heute einige dieser Effekte überflüssig und durch Lauteffekte, das Geräusch von Schritten, zu ersetzen.“ (S. 40f.)

TRUFFAUT „Man sieht häufig Filme, in denen der Regisseur glaubt, etwas wie Hitchcock zu machen, indem er die Kamera in möglichst ausgefallenen Ecken stellt. Ich denke da zum Beispiel an einen englischen Regisseur, Lee Thompson. In einem seiner „hitchcockschen“ Filme nimmt sein Hauptdarsteller etwas aus dem Eisschrank, und wie zufällig befindet sich die Kamera in dessen Innerem, anstelle der Rückwand. So etwas würden Sie doch nie machen?

HITCHCOCK Bestimmt nicht. Oder eine Kamera in den Kamin setzten, hinter die Flammen.“ (S. 41)

TRUFFAUT „Jedenfalls gibt es heute in Ihren Filmen sehr viel weniger Tricks. Heute verwenden Sie sie nur, wenn Sie damit Emotionen hervorrufen können. Damals machte Sie sie häufig nur zum Spaß. Ich glaube, heute würden Sie niemand mehr durch einen Glasboden filmen.

HITCHCOCK Der Stil hat sich geändert. Heute würde ich mich mit dem schaukelnden Leuchter begnügen.

TRUFFAUT Ich habe nur darauf hingewiesen, weil manche Leute behaupten, Ihre Filme seien voller überflüssiger Tricks. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß Ihre Kameraarbeit immer unsichtbarer wird.“ (S. 41)

Kommentar: Hitchcock konstatiert eine Stiländerung in seinen Filmen, die Truffaut als eine Entwicklung hin zur unsichtbaren Kameraarbeit versteht. Diese Kameraarbeit ist charakteristisch für die durch Hollywood geprägte Ära der 1930er bis 1960er Jahre. Die nicht spürbare Kamera soll „allein der Präsenz des Bildes […] dienen“ (Prümm 2020, S. 7–16). Letztendlich ist eine unsichtbare Kameraarbeit jedoch genau das, wovor Arnheim warnt: Filmproduzierende, die das – nach Arnheim falsche – Kunstideal der Naturnachahmung vor Augen haben, ließen sich dazu verleiten, sich allein mit einer bloßen Abbildung zu begnügen. Stattdessen sollten sie den Unterschied zwischen Filmbild und Wirklichkeit anerkennen und künstlerisch-produktiv („formend und deutend“, Arnheim 1974, S. 17–18) damit umgehen. Die „Charaktereigenschaften des Materials“ (Arnheim 1974, S. 56) sollen dabei bewusst unterstrichen werden. Genau das passiert in der Glasboden-Einstellung aus The Lodger: die Überblendung arbeitet mit den technischen Möglichkeiten der Filmbearbeitung in der Postproduktion und das darauffolgende Zeigen der laufenden Person von unten verweist auf Kameraposition und Filmset.

Literatur:

Rudolf Arnheim, Film als Kunst, München 1974.

Karl Prümm, Zur Analyse der Kameraarbeit. Zwischen Technik und Ästhetik, in: Malte Hagener und Volker Pantenburg (Hg.), Handbuch Filmanalyse, Wiesbaden 2020, S. 7–16.

Kommentare: Ruth Lindner, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig