Rudolf Arnheim

Film als Kunst (1932)

Wiedergabe in Auszügen aus: Rudolf Arnheim, Film als Kunst, München 1974. Für eine Übersicht der Schriften Arnheims (Schwerpunkt Medien) siehe die instruktive Zusammenstellung von Helmut H. Diederichs [Link].

Einleitung

[D]ies Buch [möchte] zeigen, daß die Filmkunst nicht vom Himmel gefallen ist sondern nach denselben uralten Gesetzen und Prinzipien arbeitet wie alle andern Künste auch; […] daß beim Film mit denselben Mitteln weitergearbeitet wird oder werden kann, wie sie sie von den anerkannten Künsten her gewohnt sind, und daß man wie über Tizian, Cézanne, Barock und Pleinairismus auch sehr ernsthaft über Charlie Chaplin, Greta Garbo, Schnittechnik und Schwenkstativ sprechen kann.

(…)

Allen denjenigen, die zwar ein Buch aber kein Kinobillett in die Hand nehmen, und denjenigen, die Gedrucktes vorläufig noch besser verstehen als Filmbilder, möchte mit dem Folgenden ein wenig geholfen werden. Sie sollen erkennen, daß es nicht erst des Wortes bedarf, um tiefe, geistvolle Inhalte zu geben, sondern daß Bilder und Geräusche dasselbe vermögen. Und sie sollen sehen, daß es vorläufig wenig auf die (kitschige oder vernünftige) »Handlung« ankommt, sondern daß es zu betrachten gilt, wie das einzelne Bild, die einzelne Szene gestellt, photographiert, gespielt, geschnitten ist […].

Mancher wird, mindestens bevor er das Buch zu Ende gelesen hat, bemängeln, daß keine Illustrationen beigegeben sind. Ein Filmbuch ohne Bilder – das erscheint geradezu als eine contradictio in adjecto. Damit steht es so, daß an gewissen, nicht allzuvielen Punkten unsrer Untersuchung eine Demonstration durch Bilder angenehm gewesen wäre.

Dazu aber wäre es nötig gewesen, ganz bestimmte Einzelbilder aus bestimmten Filmen herauszunehmen und zu vergrößern. Die Beschaffung solcher Bilder stößt aber auf die größten Schwierigkeiten. Was von den betreffenden Firmen zu beschaffen ist, das sind in der Regel die sogenannten Standphotos, die natürlich fast niemals grade diejenige Bildeinstellung enthalten, die man abbilden wollte, und die im übrigen fast durchweg schon in allen Magazinen zur Genüge abgebildet worden sind. Bilder ohne viel Beziehung zum Text zu bringen, einfach um ein primitives Schaubedürfnis zu befriedigen, das ging uns gegen den Strich. Allzusehr schon ist es üblich geworden, dort, wo die Begriffe fehlen, ein Bild zu bieten. Unsere Zeit krankt geradezu an einer Bildepidemie, und man darf sagen, daß die allgemeine Denkfaulheit dadurch nur noch bestärkt wird. Auch in Werken über den Film, die nicht nur Bilderbücher sondern theoretische Abhandlungen sein wollen, findet man allzuoft zwischen einem Wust von Bildern sparsame, dekorativ gesetzte Textzeilen als einzige geistige Beisteuer, und eben dieser Manier, Wißbegierige mit unverbindlichen Aphorismen und viel nichtssagender Anschauung abzuspeisen, möchten wir uns gern entgegenstellen.

(…)

Neben einer speziellen »Vorbildung«, die darin bestand, immer wieder Filme anzusehen, oft mit intelligenten Filmleuten über konkrete Detailfragen ihres Faches zu sprechen, manchmal auch bei der Arbeit im Atelier zuzusehen und schließlich selbst einmal eine Filmkamera zu handhaben und einen Film zu schneiden – neben dieser Bekanntschaft mit dem Film und seinen Herstellern halfen für dies Buch gewisse Vorkenntnisse aus der modernen Experimentalpsychologie.

II. WELTBILD UND FILMBILD

Aber viele wertvolle, gebildete Menschen leugnen bis heute, daß der Film auch nur die Möglichkeit habe, Kunst zu sein. Sie sagen etwa: Film kann nicht Kunst sein, denn er tut ja nichts als einfach mechanisch die Wirklichkeit zu reproduzieren.

Es lohnt die Mühe, den Einwand, Photographie und Film seien nur mechanisch reproduzierte Wirklichkeit und hätten daher nichts mit Kunst zu tun, gründlich und systematisch zu widerlegen. […] Zu diesem Zwecke sollen hier die elementarsten Materialeigenschaften des Filmbildes einzeln charakterisiert und mit den entsprechenden Eigenschaften des Wirklichkeitssehbildes vergleichen werden. Es wird sich dabei ergeben, wir grundverschieden beide sind und daß eben gerade aus diesen Verschiedenheiten der Film seine Kunstmittel schöpft. Wir werden so also zugleich die Kunstmittel des Films kennen lernen!

PROJEKTION VON KÖRPERN IN DIE FLÄCHE

Wir wollen von der optischen Wirklichkeit irgend eines ganz bestimmten Gegenstandes sprechen, zum Beispiel von der eines Würfels. Steht dieser Würfel vor mir auf dem Tisch, so hängt, ob ich seine Gestalt gut erkennen kann, sehr stark davon ab, wie er grade aufgestellt ist. Sehe ich

so kann ich daraus auf keine Weise entnehmen, daß da ein Würfel vor mir steht. Ich sehe nur eine viereckige Fläche. Denn unser Auge, und ebenso jede Photolinse, hat ja einen bestimmten Standort und nimmt von dort aus nur diejenigen Teile des optischen Raums auf, die nicht durch davorliegende verdeckt sind. So wie der Würfel jetzt liegt, sind fünf seiner Flächen durch die sechste verdeckt, und darum sieht man nur diese. Da aber eine solche Fläche ebensogut ganz andre Dinge verdecken könnte – sie könnte die Grundseite einer Pyramide, die eine Seite eines flachen Papierblättchens etc. sein – so ist unsre Ansicht von dem Würfel nicht charakteristisch gewählt.

Das ist schon eine recht merkwürdige und wichtige Sache. Wenn ich einen Würfel photographieren will, genügt es nicht, daß ich den realen Gegenstand »Würfel« in den Bereich meiner Kamera hineingebracht habe. Es kommt vielmehr darauf an, welchen Standpunkt ich zu ihm einnehme, resp. welche Stellung ich ihm gebe. Die Ansicht, die wir oben wählten, gibt die Wirklichkeit des Würfels schlecht wieder;

ist gut: sie zeigt drei Flächen des Würfels und deren Verhältnis zueinander, sie zeigt genug, um uns ziemlich eindeutig klarzumachen, welcher Gegenstand gemeint ist. Weil unsre Gesichtswelt voll von räumlichen Gegenständen ist, unser Auge (ebenso wie die Kamera) diesen Gesichtsraum aber in jedem Augenblick nur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus sieht und weil es noch dazu die Lichtreize, die von den Gegenständen zu ihm gelangen, nur aufnehmen kann, indem es sie in eine Fläche, die Netzhautfläche, projiziert – darum geschieht es, daß schon bei der Abbildung eines ganz einfachen Gegenstandes der Prozeß nicht mechanisch ist sondern gut oder schlecht angesetzt werden kann! Man darf den Leuten, die den Film geringschätzig ein mechanisches Abbildeverfahren nennen, also zunächst entgegenhalten, daß schon im allereinfachsten Fall, schon bei der photographischen Abbildung eines ganz einfachen Gegenstandes, ein Gefühl für dessen Wirklichkeit verlangt wird, das ganz außerhalb einer mechanischen Beschäftigung liegt!

[…]

Übrigens wird sich später zeigen, daß bei der künstlerischen Behandlung der Photographie (resp. des Filmbildes) durchaus nicht immer solche »Einstellungen« gewählt werden, die das Charakteristische des betreffenden Gegenstandes am besten zeigen, sondern häufig bewußt andre, zur Erzielung besondrer Wirkungen.

Kommentar: Arnheim lehnt die Annahme ab, der Film sei nur eine mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit. Er stellt fest, dass sich das Filmbild von der Wahrnehmung des Auges unterscheidet. Am Beispiel des Würfels wird klar, dass es der Ansicht mehrerer Seiten eines Gegenstandes braucht, um festzustellen, dass es sich nicht bloß um eine Fläche handelt. Dies ist für Arnheim der Beweis, dass der Film nicht einfach nur eine mechanische Wiedergabe ist. Einen Gegenstand filmisch zu zeigen, erfordert gestalterische Eingriffe, die häufig ebenso unsichtbar sind wie die physiologischen Zwischenschritte des menschlichen Auges. Sieht das Auge – „ebenso wie die Kamera“ – stets nur aus einem Blickwinkel, entsteht der räumliche Seheindruck erst aus der Synthese beider Seheindrücke im Hirn. (LM) Siehe hierzu Harun Farockis Verweis auf die zwei Monitore am Schnittplatz: „In der Dialektik der ‚weichen Montage‘ geht es demnach darum, dass Blicke von mindestens zwei Standpunkten notwendig sind, um sich von einem realen Geschehen ein Bild machen zu können.“ (Justus Vogel über Farocki [Link]). Vgl. außerdem das Phänomen des binokularen Doppelsehens in Stereoskopie und 3D-Film [Link]. (TH)

III. WIE GEFILMT WIRD

Die Kunstmittel der Kamera und des Bildstreifens

 Die technische Möglichkeit ist die wirksamste Inspiration. Der Apparat ist die Muse.

Béla Balázs

Wir haben auseinandergesetzt, wie sich Wirklichkeitsbild und Filmbild in ihren einzelnen Eigenschaften voneinander unterscheiden. […] Es hat sich dabei herausgestellt, daß die Behauptung, Film sei weiter nichts als mechanischer Abklatsch der Wirklichkeit, sehr vorschnell ist; daß vielmehr die Kamera völlig andre Eindrücke liefert als das Auge.

Im Menschen schlummert von Urzeiten her ein tiefes Bedürfnis, die Dinge seiner Umgebung neu zu schaffen, sie abzubilden. Für den Primitiven, den Naturmenschen, steckt im Abbild der Abgebildete selbst, so daß wer sich ein Abbild seines Feindes macht, damit diesen Feind selbst unter seine Finger, in seine Macht bekommt.

Für den Durchschnittsmenschen ist heute wie vor dreitausend Jahren darstellende Kunst gleich Gegenstandsreproduktion: er sieht am Kunstwerk nur das Inhaltliche, beurteilt es nur nach seiner Naturähnlichkeit. Zwischen den Farbtafeln im Zoologielehrbuch und den Tierbildern eines Rubens oder Delacroix gibt es für den Durchschnittsmenschen nur einen terminologischen, keinen sachlichen Unterschied.

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Was an einer Federzeichnung van Goghs erfreut, ist nicht das Ackerfeld, das er festgehalten hat – denn Ackerfelder sind nichts Bemerkenswertes – sondern daß es gelungen ist, mit Federstrichen etwas von dem optischen Eindruck eines realen Ackerfeldes festzuhalten. Niemand glaubt, ein wirkliches Ackerfeld zu sehen; jedermann bemerkt die klobigen Rohrfederstriche – aber gerade dies ist es, was die Sensation einer solchen Kunstarbeit ausmacht.

(…)

Kunstgenuß ist Vergnügen über das Gelingen einer bestimmt gearteten Aufgabe. Dies Vergnügen ist nicht möglich, wenn die Mittel verwischt sind und nur der Gegenstand sichtbar ist. »Nur bewußte Täuschung ist Kunst«, bat Max Liebermann einmal gesagt.

Zum Kunstwerk jedoch gehört, daß die verwendeten Mittel im Werk selbst sichtbar seien, es genügt nicht, daß man wisse, es handele sich um ein Abbild. Im Werk selbst muß sich das Gegeneinanderspiel von Gegenstand und Darstellungsmaterial zeigen. Gerade im großen Kunstwerk pflegen sich die Materialeigenschaften sehr deutlich aufzudrängen, und das Formenornament, was sie bilden, pflegt eindringlich und klar zu sein.

Voraussetzung für Kunstarbeit ist also, daß das verwendete Material »charaktervoll« genug sei, um seine Eigenart zur Geltung zu bringen. Pastell und Bleistift zum Beispiel sind gefährliche Materialien, denn sie verführen den Künstler allzuleicht zu einer weichlichen, unpräzisen Wischerei, deren Formeigenschaften sich nicht deutlich überschauen lassen. […] Noch viel gefährlicher – wenn auch nicht aus genau dem selben Grunde – ist das Material des Filmkünstlers.

Er stellt seine Kamera auf und kurbelt und erhält ohne alles Zutun ein Abbild des Gegenstandes. Die Gefahr, daß er sich damit begnügt, liegt äußerst nahe. Für den Filmkünstler kommt, damit er Kunst schaffen kann, viel darauf an, daß er die Charaktereigenschaften seines Materials bewußt unterstreiche, und das nun wiederum so, daß dadurch der Charakter des dargestellten Objekts nicht zerstört sondern im Gegenteil verstärkt, konzentriert, gedeutet wird.

Kommentar: Arnheims Beharren auf der Sichtbarkeit des „verwendeten Materials“ sowie dem formalen Einbezug seiner Eigenschaften („Materialeigenschaften“) und Charakteristik lässt bereits an die Debatten zur Medienspezifik denken, wie sie von Clement Greenberg und Rosalind Krauss vorgebracht wurden. Vgl. auch Manovich, der aus Sicht des digitalen Kinos den künstlichen Charakter des Filmbildes betont, der jedoch überwiegend verschleiert bleibt: „Der Film hingegen versucht mit allen Mitteln, jede Spur seines Produktionsprozesses und auch jeden Hinweis zu verwischen, daß die Bilder, die wir sehen, konstruiert und nicht aufgenommen sein könnten.“ [Link] (TH)

Das Kino erfreut sich zwar eines riesigen Publikums, aber das Vergnügen, das sich die Mehrzahl der Leute, selbst wenn künstlerisch wertvolle Filme gezeigt werden, dort holt, hat mit Kunstgenuß nichts zu tun sondern geht allein auf das Gegenständliche, auf Handlung und Milieu.

Perspektivische Projektion

In den Anfängen der Filmkunst machte man sich über diese Dinge noch nicht viel Kopfschmerzen. Man stellte den Apparat schön mitten vor die Leute, so daß deren Gesicht und agierende Glieder gut zu sehen waren. Sollte ein Haus gezeigt werden, so postierte sich der Kameramann in gehöriger Entfernung mitten davor auf der Straße, damit alles gut ins Bild kam. Erst allmählich kam man auf die besondern Effekte, die sich mit Hilfe der perspektivischen Projektion erzielen lassen.

In dem nun schon fünfzehn Jahre alten Film »Chaplin als Auswanderer« wird zu Anfang ein entsetzlich schwankendes Schiff gezeigt, auf dem alle Passagiere seekrank sind: die Hände an den Mund gepreßt, taumeln sie zur Reeling. Dann kommt Chaplins Auftrittsszene: Man sieht ihn über der Reeling hängen, mit dem Rücken zum Publikum, den Kopf weit nach vorn gebeugt, die Beine strampeln – jedermann, der das sieht, meint, der Arme zahle dem Ozean Schmerzensgeld.

Charlie Chaplin, The Immigrant (1917), Filmausschnitt (sowie eine Erläuterung zur Kameraarbeit)

Plötzlich aber rappelt Charlie sich hoch, dreht sich um, und man sieht, daß er mit seinem Spazierstock einen großen Fisch aus dem Wasser geangelt hat.

Dieser Überraschungseffekt ist erzielt unter Ausnutzung der Projektion, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Zuschauer die Situation von einem ganz bestimmten Ort aus betrachtet. […] [W]äre sie vom Wasser her aufgenommen, so hätte jedermann von Anfang an gesehen, daß Chaplin sich gar nicht erbricht sondern angelt, man wäre also erst gar nicht auf den falschen Gedanken gekommen. Die Erfindung ist nicht mehr rein gegenständlich sondern schon filmisch, weil eine besondre Eigenschaft der Filmaufnahmetechnik als Mittel zum Effekt benutzt ist.

Diese Szene ist aber gerade nicht so aufgenommen, daß man den Vorgang am besten erkennen kann, sondern im Gegenteil: man sieht keine Spur von dem, was Chaplin treibt, und so kommt die beabsichtigte Täuschung zustande.

Der Künstler handelt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, dem Prinzip der charakteristischsten Abbildung gerade entgegen.

In dem Film »Entreacte« von Rene Clair findet sich die Aufnahme einer Balletteuse, die auf einer Glasscheibe tanzt und von unten her, durch diese Scheibe hindurch, photographiert ist. Man sieht, bei den Sprüngen, die die Tänzerin ausführt, das Gazeröckchen sich wie einen Blütenkelch öffnen und wieder schließen, und im Zentrum dieses Kelchs die seltsame Mimik der Beine. Das Vergnügen an einer so merkwürdigen Aufnahme ist zunächst rein formal und ohne irgendwelchen Sinn: es entsteht allein durch die bildmäßige Überraschung. Enthielte sie nun auch noch Sinn, ihr Wert wäre umso größer.

(…)

Allzuoft bemerkt man in Filmen Einstellungen, die nur formales, kein inhaltliches Interesse haben. Der Regisseur hat irgendeinen raffinierten Blickpunkt gefunden, und den verwendet er nun, auch wenn er nichts bedeutet.

Kommentar: In Arnheims Kunstverständnis ist darstellende Kunst auf zwei grundlegend menschliche Triebe zurückzuführen: den Darstellungstrieb (verarbeitende Abbildung bzw. Wiederholung von Erfahrungen, Erlebnissen etc.) und den Ornamentiertieb (ästhetisches Bedürfnis, z.B. nach Symmetrie) (vgl. Arnheim 1974, S. 51–53). Kunstgenuss bedeutet die Freude darüber, dass es gelungen ist, „etwas vom Charakter der Wirklichkeit in einem ganz anderen Material einzufangen“ sowie die Anordnung dieses Materials in „schönen Mustern“ (Arnheim 1974, S. 54–55). Dazu muss das Medium sichtbar bleiben, damit die Bewältigung der Aufgabe (Einfangen der Wirklichkeit in diesem Medium) transparent bleibt. In seinen Anfängen bediente der Film zunächst den Darstellungstrieb, die Faszination der „Masse“ (Arnheim 1974, S. 53) richtete sich inhaltlich auf die naturgetreue Abbildung der sich bewegenden Dinge. Eine Filmkunst entwickelte sich, als die besonderen Materialbedingungen der Kameratechnik im Film herausgearbeitet wurden und diese zu künstlerischen Effekten benutzt wurden. Arnheim spricht hier von einem „doppelte[n] Effekt“ (Arnheim 1974, S. 60): eine künstlerische Kameraeinstellung tut beides, sie befriedigt den Darstellungs– und den Ornamentiertrieb. Arnheims Kritik an der Balletteuse-Einstellung aus Entr’acte bezieht sich darauf, dass diese lediglich ein formales Interesse verfolge, also nur den Ornamentiertrieb bediene. Eine erzählerische oder charakterisierende Befriedigung des Darstellungstriebs würde zum gesteigerten Kunstgenuss dieser Szene führen. Vgl. hierzu den Dialog zwischen Alfred Hitchcock und François Truffaut zu einem ganz ähnlichen Effekt in Hitchcocks Film The Lodger (1927). [Link] (RL)

In dem schönen »Johanna«-Film von Charles Dreyer finden lange Diskussionen zwischen Priestern und der Jungfrau statt – ein für die Kamera wenig ergiebiges Thema, weil natürlich das eigentlich Interessierende hier im gesprochnen Wort läge, während rein optisch aus dem Gegeneinander der endlos miteinander verhandelnden Sprecher wenig Abwechslung herauszuholen ist. Der richtige Ausweg aus einer solchen Schwierigkeit lautet, daß man Szenen dieser Art nicht in einen stummen Film hineinnehmen darf. Charles Dreyer hat einen falschen gewählt. Er hat versucht, das filmisch Reizlose dieser Motive durch formale Variation zu beleben: die Kamera zeigt sich rege, sie photographiert den Kopf der Jungfrau schief von oben, zielt ihm schräg auf das Kinn, blickt dem Kirchenrichter in die Nasenlöcher, fährt ihm auf Schienen eilig gegen die Stirn, nimmt ihn bei der einen Verhörsfrage von vorn, bei der zweiten von der Seite auf, herrliche Porträts in bestürzender Anzahl – aber ohne jeden künstlerischen Sinn. Denn es wird durch diese Zwischenspiele nichts zum Verständnis des Verhörs beigetragen, vielmehr wird der Zuschauer auf eine unlautere, unsachliche Art unterhalten, damit ihm nicht das langweilig erscheine, was packend zu gestalten Aufgabe des Regisseurs gewesen wäre!

GEHALT UND EINFALL

Es wird oft behauptet, Filme hätten keinen geistigen Gehalt und könnten auch keinen haben, weil nämlich das Wort in ihnen eine zu geringe Rolle spiele.

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Die Literatur schildert durch Worte, der Film durch Bilder. In beiden wird der gedankliche Gehalt nicht in abstracto sondern eingekleidet in konkrete Vorgänge dargeboten.

Daß dem Film Tiefe nicht versagt ist, dafür zeugen viele Meisterwerke. Chaplins »Goldrausch«, dieser schönste und tiefste Film, liefert uns eindringliche Beispiele. Jedermann erinnert sich der Szene, wo Charlie als hungernder Goldgräber seinen schmutzigen Transtiefel kocht und verspeist. Kunstvoll und mit vollendet eleganten Tischmanieren tranchiert er die seltsame Speise: er hebt das Oberteil ab, so daß die Sohle mit dem Nägelgerippe liegen bleibt, wie das Rückgrat eines Fisches, von dem man das Fleisch abgetrennt hat; er lutscht die Nägel sorglich ab wie Geflügelknochen, wickelt die Schnürsenkel um die Gabel wie Spaghetti.

Zeigte die Chaplinszene einfach einen Hungerleider, der einen gekochten Stiefel auffrißt, so wäre das nichts als eine groteske Karikierung der Armut. Das Elegante und Eindringliche der Goldrausch-Szene besteht aber darin, daß in der Schilderung des Elends zugleich der Kontrast des Reichtums mitgegeben ist. Und zwar durch die höchst originelle und unmittelbar einleuchtende optische Ähnlichkeit des Hungermahls mit der Speise der Reichen:

 Schuhgerippe = Fischgerippe

Nägel = Geflügelknochen

Schnürsenkel = Spaghetti

Durch die Aufzeigung der optisch-formalen Kongruenz inhaltlich-sachlich so kontrastierender Dinge wird eben dieser Kontrast mit schmerzhafter Deutlichkeit vor die Augen des Zuschauers geführt. Und die große Kunst dieser Erfindung liegt darin, daß ein so elementares, tiefmenschliches Motiv wie: »Hunger contra Wohlleben« durch so sinnliche, so filmische Mittel verbildlicht wird. Denn man kann sich nichts elementarer Optisches denken als dies Assoziieren bloßer Gegenstandsformen. Indem Chaplin das erbärmlichste Nahrungsmittel, das sich erdenken läßt, als ein vornehmes Gericht und mit entsprechend vornehmen Allüren verspeist, zeigt er nicht nur Armut als solche sondern sozusagen Armut als eine niedrige Stufe des Reichtums, als eine Verzerrung des Wohllebens, und indem er diese Relation schafft, macht er die Ärmlichkeit doppelt ärmlich – so wie es kein Kleines gibt ohne Großes, kein Schwarz ohne Weiß.

Kommentare: Lisa Mühlstädt und Ruth Lindner

Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig