Wolfgang Schivelbusch

Geschichte der Eisenbahnreise

Wiedergabe in Auszügen aus: Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995 [EA 1977].

Die Mechanisierung der Triebkräfte

Wie überfällig die mechanische und wie hoffnungslos anachronistisch die animalisch hergestellte Bewegung dem fortschrittsorientierten zeitgenössischen Bewußtsein erschienen sind, illustriert ein Text von 1825, der beide Bewegungsformen einander gegenüberstellt: »Das Tier bewegt sich nicht gleichmäßig und kontinuierlich vorwärts, sondern auf unregelmäßig humpelnde Weise, wobei sich der Körper bei jeder wechselseitigen Bewegung der Glieder anhebt und zurückfällt. Dies ist deutlich spürbar beim Reiten, und es ist dasselbe, wenn ein Pferd eine Wagenladung zieht. Auch wenn wir selber gehen oder laufen, bewegen wir uns nicht regelmäßig vorwärts. Jeder Schritt hebt unseren Körper an und läßt ihn zurückfallen; es ist dieses permanente Anheben unserer Körpermasse, was unsere Bewegung einschränkt und unserer Geschwindigkeit solche engen Grenzen setzt … Eine Maschine kennt derartige Beschränkungen nicht; die Lokomotive fährt gleichmäßig und schnell auf den Schienen, nicht im geringsten eingeschränkt durch die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen; dies stellt, abgesehen von ihrer Wirtschaftlichkeit, einen der großen Vorteile dar, die sie der Tierkraft überlegen machen.« (14f.)

Jean Michelson; M. G. Macpherson, »OIL«. A Symphony in Motion, 1933, S/W, 8 Min, Filmausschnitt.

Kommentar: Der Kurzfilm »OIL«. A Symphony in Motion (1933) ist eine hymnische Demonstration industrieller Produktion, die in eine audiovisuelle Komposition (Symphonie) überführt wird. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf den technischen Aspekten der Industrie, sondern auch in ihrer ästhetischen und symbolischen Dimension. Der Wechsel von der animalischen zur mechanischen Bewegungen bedeutet nicht nur eine Evolution der Technologie, sondern auch eine Steigerung wirtschaftlicher Effizienz. Die Eisenbahn wird als Taktgeber dieses technischen Fortschritts in Szene gesetzt. Während die alten Fuhrwerke als überkommene und allenfalls antiquarische Reliquien gezeigt werden, erscheint »Oil« als das neue und selbstbewusste Subjekt einer Geschichte der Mobilität: »I drive your machines – as I drive you.« (AD)

Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu, 1922, Filmausschnitt.

Kommentar: In einer Szene aus Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) wird die authentische, analoge Erfahrung der Kutschfahrt gezeigt. Alle Sinne sind involviert. Die Fahrt ist lang und beschwerlich, da sie von der Topographie der Landschaft und dem Wetter beeinflusst wird. Schließlich verweigert der Fahrer abrupt die Weiterfahrt, sodass der Reisende zu Fuß gehen muss. Auf der ‚anderen Seite‘ des Passes begegnet ihm ein unheimlich wirkender Kutschfahrer, dessen unnatürliche Fahrt filmisch durch eine beschleunigte Bildfrequenz sowie durch eine Umkehr der Tonwerte dargestellt wird.

Jim Jarmusch, Dead Man, US/D/JPN 1995, S/W, 121 Min., Filmausschnitt.

Zu Beginn von Dead Man (1996) von Jim Jarmusch wird dagegen das Erlebnis der Eisenbahnfahrt zur Schau gestellt. Die gleichmäßige Fahrt, welche nicht von Bergen oder der Nacht eingeschränkt wird, verkürzt das Reisen und ermöglicht weitere Wege. Von der Außenwelt erblickt man während der Reise nur verwischte Bilder (darunter ein verfallenes Fuhrwerk). Vordergründiger ist die Gegenwart der Fremden, mit dem sich der Protagonist einen Waggon teilt. Verlegene Blicke und etwas Konversation bestimmen die Szene, die bis auf die plötzlich einsetzenden Gewehrsalven auf eine zufällig ins Ziel- und Sichtfeld geratene Büffelherde ereignislos bleibt. Das Totschlagen der Zeit wird durch die Parallelmontage der sich stetig vorwärts bewegenden Eisenbahn und der beklemmenden Reglosigkeit des Reisenden in Szene gesetzt, die sich selbst nach größeren Zeitsprüngen, d.h. Schnitten, kaum verändert. (CM)

[…]

Die durch Dampfkraft hergestellte mechanische Bewegung ist gekennzeichnet durch Gleichförmigkeit, Regelmäßigkeit, beliebige Dauer und Steigerung (Unermüdbarkeit). »Keine tierische Kraft«, heißt es bei [Thomas] Gray, »vermag unserem geschäftlichen Verkehr eine so gleichmäßige und regelmäßige Beschleunigung zu bieten, wie sie mit der Eisenbahn zu erzielen ist.« Indem die Verkehrsbewegung durch die Dampfkraft aus ihrer organischen Bindung gelöst wird, verändert sich ihr Verhältnis zum Raum, den sie bewältigt, grundlegend. Vorindustrielle Verkehrsbewegung ist Mimesis an die äußere Natur. Schiffe treiben mit Wasser- und Windströmungen, Bewegung zu Lande folgt den natürlichen Unebenheiten der Landschaft und ist eingebunden in die physische Leistungskraft der Zugtiere. »Wir nutzen lediglich Körper im Zustand der Bewegung«, charakterisiert Charles Babbage die eotechnische Nutzung von Wind- und Wasserkraft, »wir ändern die Richtung der Bewegung, um sie für unsere Zwecke dienstbar zu machen, aber die Quantität der vorhandenen Bewegung wird von uns weder vermehrt noch vermindert.« (15)

[…]

Die Dampfkraft erscheint hier als eine Gewalt, die, unabhängig von der äußeren Natur, sich gegen diese durchsetzt – künstliche Energie gegen Naturgewalt. Wird dies in der Dampfschiffahrt zuerst wahrgenommen, so wenig später bei der Ersetzung der animalischen durch die mechanische Kraft noch um so deutlicher. Solange die Raumbewältigung an die animalische Energie gebunden war, bewegte sie sich in den Grenzen von deren physischer Leistungsfähigkeit. Das Maß an zurückgelegter Entfernung war u.a. unmittelbar sinnlich erfahrbar an der Erschöpfung der Zugtiere. Wurde ihnen zu viel zugemutet, erschien das als »Vernichtung von Tierkraft«. Die Dampfkraft, die unerschöpflich und unendlich zu steigern ist, kehrt das Verhältnis von widerständiger Natur (d. h. räumlicher Entfernung) und Bewegungsapparat um. Die Natur, d. h. die räumliche Entfernung, an der die animalischen Bewegungsapparate sieb bis zur Erschöpfung abarbeiteten, wird nun selber zum Opfer des neuen mechanischen Bewegungsapparats Eisenbahn, welche – so eine oft verwendete Metapher – mit der Gewalt eines Projektils durch sie hindurchschießt. Vernichtung von Raum und Zeit (annihilation of time and space) lautet der Topos, mit dem das frühe 19. Jahrhundert beschreibt, wie die Eisenbahn in den bis dahin unumschränkt herrschenden natürlichen Raum einbricht. Ob und wie und welche Bewegung stattfindet, das hängt von nun an nicht mehr ab von der Natur dieses Raumes, sondern von der mechanischen Kraft, die sich ihre eigene neue Räumlichkeit schafft. (15f.)

[…] 

Die Schrumpfung der natürlichen Welt durch die mechanischen Verkehrsmittel wird auf verschiedene Weise wahrgenommen und beurteilt, je nach der ökonomischen und ideologischen Position des Urteilenden. Die Emanzipation von der Natur, an die bis dahin der Verkehr gebunden war, erscheint den Repräsentanten von Industrie und Freihandel als Gewinn, weil die Natur, in Form schwer zu bewältigender Entfernungen sowie erschöpfbarer und unberechenbarer Energiequellen, der Entfaltung des Welthandels hinderlich im Weg stand. Die mechanische Energie macht alle Verkehrsakte kalkulierbar. In der Ersetzung der animalischen Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit sehen die Eisenbahnpromoter die wesentlichste Qualität der Dampfkraft […]. (16f.)

[…]

Die Gegenposition zu dieser rational-fortschrittsorientierten Einschätzung sieht den Verlust der organischen Natur nicht als Beseitigung von Störfaktoren, die den reibungslosen Ablauf des Geschäftsverkehrs bislang hinderten, sondern erlebt dies als Verlust eines lebendigen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. So z. B. Thomas de Quincey über die durch die Mechanisierung verlorengegangene Erfahrung des Reisens in der Kutsche: »Wenn wir in der alten Postkutsche saßen, brauchten wir zur Feststellung der Geschwindigkeit keinen Beleg außer uns selbst … Die lebendige Erfahrung unserer Sinne ließ keinen Zweifel über unsere Geschwindigkeit zu; wir hörten die Geschwindigkeit, wir sahen sie, wir spürten sie als Erregungszustand (thrilling); diese Geschwindigkeit war nicht das Produkt blinder und empfindungsloser Kräfte, die in keinem Einklang mit uns standen, sondern sie lebte in den feurigen Augen des edelsten Tieres, in seinen erweiterten Nüstern, seinem Muskelspiel, seinen donnernden Hufen.« Diese Beschreibung einer vergangenen Form des Reisens darf nicht einfach als romantisch-reaktionäre Stellungnahme gegen die neue Technik beurteilt werden. Beschrieben wird zunächst nichts weiter als die Desorientierung, die eintritt, als die überlieferte ›natürliche‹ Form des Reisens, d. h. des Reisens auf der Basis der überlieferten Technik, durch eine neue Reisetechnik aufgelöst wird. (17)

[…]

Doch so glatt die Industrialisierung des Reisens zu funktionieren scheint, es bleibt ein Rest. Eine Ahnung davon, was das sein könnte gibt der Bericht des liberalen Politikers Thomas Creevy von einer Fahrt auf der Lokomotive Stephensons 1829: »Es ist wirklich ein Flug, und es ist unmöglich, sich von der Vorstellung eines sofortigen Todes aller bei dem geringsten Unfall zu lösen.« (20)

Eisenbahnraum und Eisenbahnzeit

Der Topos, daß die Eisenbahn den Raum und die Zeit vernichte, bezieht sich nicht auf diese Raumerweiterung durch Einbeziehung immer neuer Räume in den Verkehr. Als vernichtet erlebt wird das überlieferte Raum-Zeit-Kontinuum. Es ist geprägt von der organisch in die Natur eingebundenen alten Verkehrstechnik. Deren mimetisches Verhältnis zum durchreisten Raum läßt diesem dem Bewußtsein als lebendige Einheit erscheinen. Die, mit Bergson zu sprechen, durée des Weges von einem Ort zum anderen ist keine objektive mathematische Größe, sondern hängt von der Verkehrstechnik so ab, wie die Raum-Zeit-Wahrnehmung einer Gesellschaft nach Durkheim eine Funktion ihres sozialen Rhythmus und ihres Territoriums ist. (37)

[…]

Zwar brandet das Mittelmeer nicht direkt vor den Pariser Haustüren, wohl aber ist es in einer so verkürzten Zeit zu erreichen, daß die Reise dahin nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Die Pariser, die im Winter nach Süden aufbrechen, haben nur den blauen Himmel und das Meer vor Augen. Es handelt sich, wie Mallarmé im Winter 1874/75 in der von ihm redigierten Zeitschrift »La dernière mode« schreibt, um ein »schweigendes, eingemummtes, fröstelndes Volk, das keinen Blick hat für die unsichtbare Landschaft der Reise. Sie träumen einzig davon, Paris zu verlassen und anzukommen, wo der Himmel klar ist.« Nicht Reisende sind dies mehr, sondern, mit einem Wort Ruskins, menschliche Pakete, die sich per Eisenbahn selber an ihren Bestimmungsort schicken, an dem sie so ankommen wie sie Paris verließen, unberührt vom durchquerten Raum.

Wenn die entfernten Landschaften auch nicht durch die Eisenbahn physisch nach Paris gebracht werden, so entwickelt sich doch aufgrund ihrer raschen und bequemen Zugänglichkeit ein Entfernungsbewußtsein, das der Heineschen Raumvision nahekommt. Die Landschaft, die von Paris aus mit der Bahn zu erreichen ist, realisiert sich für die Pariser durch die Bahn. Sie erscheint als deren Produkt bzw. Appendix, so etwa in einer Formulierung in Stephane Mallarmés Zeitschrift: »Die Normandie, die ebenso wie die Bretagne zur Ligne de l’Ouest gehört.«

Wenn aber Normandie und Bretagne zur Ligne de l’Ouest als deren Endpunkt gehören, dann erscheint der Anfangspunkt derselben Linie, der Bahnhof in Paris, als Eingangsvestibül in diese Landschaften. Das ist eine Vorstellung die dem 19. Jahrhundert geläufig ist. Sie findet sich in jedem Baedeker, der für jede Exkursion den entsprechenden Bahnhof empfiehlt. Sie findet zugespitzten Ausdruck bei Mallarmé, der in seiner Zeitschrift unter der Rubrik »Gazette et programme de la quinzaine« als gleichberechtigte Vergnügungsinstitutionen aufführt: Buchhandlungen, Theater, Bahnhöfe (in mehreren Ausgaben statt Bahnhöfe: Reisen). Die Reise in eine mit der Eisenbahn erreichbare Gegend erscheint als nichts anderes denn der Besuch eines Theaters oder einer Bibliothek. Der Kauf eines Eisenbahnbillets bedeutet dasselbe wie der Erwerb einer Theaterkarte. Die Landschaft, die man mit dem Billet erwirbt, wird zur Vorstellung. Sie gehört zur Eisenbahnlinie wie die Bühne zum Theater. (40)

[…]

Den Landschaften, die durch die Eisenbahn zusammengeschlossen bzw. an die Hauptstadt angeschlossen, und den Waren, die durch den modernen Transport aus ihrer lokalen Verbundenheit gerissen werden, ist gemeinsam, daß sie ihren angestammten Platz, ihr überliefertes Hier und Jetzt, mit einem begriff Walter Benjamins, ihre Aura verlieren. (42)

Kommentar: Walter Benjamin führt in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)“ den Begriff der „Aura“ eines Kunstwerkes ein und definiert deren Verlust in Folge der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes. Die Frage „Was ist eigentlich Aura?“ beantwortet Benjamin folgendermaßen: „Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ (Benjamin 1989, S. 440). Die Aura des Kunstwerkes konstituiert sich unter anderem über das „Hier und Jetzt“ des Originals, d. h. „sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“ (Benjamin 1989, S. 437). Damit einher geht der Begriff der „Echtheit“ des Kunstwerkes, also die Vorstellung der räumlich-zeitlichen Einmaligkeit des Originals. Die technische Reproduktion vervielfältigt das Reproduzierte und setzt damit „an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises“ (Benjamin 1989, S. 438), greift also die Einmaligkeit an. Zudem bringt die technische Reproduktion das Original an „andere Orte“ (Benjamin 1989, S. 438), beispielsweise lässt sich die Aufnahme eines Konzertes im eigenen Zimmer anhören. Schivelbusch überträgt Benjamins Begriffe auf das veränderte Verhältnis zu Landschaft und Entfernungen in Folge des Eisenbahnausbaus im 19. und 20. Jahrhundert. Landschaften und Waren verlieren laut Schivelbusch durch die Erschließung des Landes mittels der Eisenbahn ihre Aura. Das Hier und Jetzt von Waren und Landschaft wird durch die erleichterte Zugänglichkeit angetastet und entwertet. Landschaften stehen mit der Eisenbahnreise nicht mehr isoliert und abgeschlossen (also räumlich-zeitlich einmalig), sondern lassen sich „massentouristisch“ erschließen (Schivelbusch 1995, S. 43). Diese Landschaften werden den Massen des 19. Jahrhunderts „näher“ gebracht:

Die Dinge sich »näherzubringen« ist nämlich ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt.

(Benjamin 1989, S. 440)

Dieses Näherbringen der Landschaften durch die Eisenbahn begreift Schivelbusch als Vorstufe der Verfügbarmachung von Einzigartigkeit durch Reproduktion. Zudem begreift Schivelbusch die Auflösung von räumlichen Distanzen ebenfalls als Vorbereitung der Auflösung der Unterschiede zwischen Original und Abbild. Auch der Warentransport versetzt Waren als Produkte physisch an andere Orte, entfernt sie aus ihrer „lokalen Verbundenheit“ und macht sie verfügbar, so wie die technische Reproduktion eine Zugänglichkeit zum Kunstwerk schafft, die nicht an Lokalitäten gebunden ist.            
Benjamin selbst geht auf die Entwertung des Hier und Jetzt von Landschaften durch die Reproduktionstechnik des Films ein. Allerdings spricht er der Natur eine andere Form der Echtheit zu, eine, die nicht so verletzbar ist, wie die der Kunst:

Diese veränderten Umstände [Selbständigkeit gegenüber dem Original und Entlokalisierung; Anm. d. Verf.] mögen im übrigen den Bestand des Kunstwerkes unangetastet lassen – sie entwerten auf jeden Fall das Hier und Jetzt. Wenn das auch keineswegs vom Kunstwerk allein gilt sondern entsprechend zum Beispiel von einer Landschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht, so wird durch diesen Vorgang am Kunstwerk doch ein empfindlichster Kern berührt, den so ein Gegenstand der Natur nicht aufweist. Das ist seine Echtheit.

(Benjamin 1989, S. 438)

(RL)

[…]

Der Verlust der Aura durch Reproduktion, den Benjamin beschreibt, ist Ausdruck derselben Bewegung, die im 19. Jahrhundert den Massen die Landschaften »näher« brachte: »Die Dinge räumlich und zeitlich >näher< zu bringen ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme der Reproduktion ist.« (a.a.O., S. 54). Die Verfügbarmachung von Landschaften durch den Tourismus ist eine Vorstufe, Vorbereitung der Verfügbarmachung jeglicher Einzigartigkeit durch die Reproduktion. Der Ausfall der Erfahrung räumlicher Entfernung ebnet die Unterschiede zwischen Original und Abbild zunehmend ein. In der filmischen Wahrnehmung – d.h. der Wahrnehmung montierter Einstellungen verschiedenster Bilder als Einheit – findet die neue Wirklichkeit der vernichteten Zwischenräume wohl ihren deutlichsten Ausdruck. Die Filmmontage bringt die Dinge sowohl dem Zuschauer wie einander näher. (43)

[…]

Exkurs: Der Raum der Glasarchitektur

Eine ähnliche Neuordnung des Raumes wie durch die Eisenbahn bringt in der Architektur die Verwendung der neuen Baumaterialien Eisen und Glas. Durch das Ensemble von Schiene und Dampfmaschine wird Geschwindigkeit und Kapazität des Verkehrs multipliziert. Eisen und Glas als Baumaterial vervielfachen die Kapazität überdachter Räume. Beide, die Eisenbahn und die Gebäude der Glasarchitektur, sind direkter Ausdruck der multiplizierten Produktivität der industriellen Revolution. Die Bahn bringt die neuen Warenmengen in Zirkulation, die Glasarchitektur – Bahnhöfe, Markthallen, Ausstellungshallen, Passagen – dient als Durchgangsstation und Warenlager. Die Raumkapazität der Glasarchitektur verhält sich zu derjenigen der traditionellen Bauweise wie die Verkehrskapazität der Eisenbahn zum vorindustriellen Verkehr. (45)

[…]

Der Crystal Palace der Londoner Weltausstellung von 1851, das erste konsequent und im großen Stil ausgeführte Glas-Eisen-Gebäude, und das Palais de l’Industrie der Pariser Ausstellung von 1855 stellten architektonisch einen ähnlichen Wahrnehmungsschock her wie die ersten Eisenbahnreisen. »Die ungeheuren Glasflächen der Überdachung«, so gibt Giedion die zeitgenössische Reaktion wieder, »blendeten die damaligen Besucher, die an diese überraschende Lichtfülle nicht gewöhnt waren.« (46)

[…]

Die Wahrnehmung des Raumes des Crystal Palace durch Bucher und Lucae möchte man aufgrund der Verselbständigung des Lichtes sowie der Auflösung der Gegenständlichkeit, die sie charakterisieren, impressionistisch nennen. Die Charakterisierung der impressionistischen Malerei, die Max Raphael gibt, trifft bis in Einzelheiten die Wahrnehmung des Innenraums des Crystal Palace – »eine Auflösung des Gegenstandes sowohl in seiner geschlossenen Form wie in seiner Eigenbedeutung in der Atmosphäre, die Aufhebung der Materialbegriffe z.B. der Lokalfarbe, der Linie der dreidimensionalen Form in eine Relation zum Licht, ein Betonen der Erscheinung und ein Fortrücken derselben in die Ferne, die Beseitigung des Raumes als einer anschaulichen Kategorie.« In dem impressionistischen Effekt, den der Raum des Crystal Palace auf die Zeitgenossen ausübt, sieht Giedion so etwas wie eine objektive impressionistische Intention und leitet daraus eine Verbindung der malerischen Intention Turners mit der des Crystal Palace her. (48)

Das panoramatische Reisen

[…]

Mit dieser Intensität des Reisens, die im 18. Jahrhundert ihren kulturellen Höhepunkt erlebt und im literarischen Genre des Reiseromans ein bleibendes Denkmal erhalten hat, macht die Eisenbahn Schluß. Die Geschwindigkeit und mathematische Geradlinigkeit, mit der sie durch die Landschaft schießt, zerstören das innige Verhältnis zwischen Reisendem und durchreistem Raum. […] Für diesen Verlust des als lebendige Kontinuität erfahrenen Reiseraums hat das 19. Jahrhundert eine bezeichnende Metapher entwickelt. Die Eisenbahn, die als Raum und Zeit vernichtende Kraft auftritt, wird immer wieder als Projektil beschrieben. (52)

[…]

Der Reisende, der in diesem Projektil sitzt, hört auf, Reisender zu sein, und wird, wie ein Topos des Jahrhunderts besagt, zum Paket. Ruskin bemerkt: »Es ist gleichgültig. ob Sie Augen im Kopf haben oder blind sind oder schlafen, ob Sie intelligent sind oder dumm; was Sie über das Land, durch das Sie fahren, bestenfalls erfahren können, das ist seine geologische Struktur und seine allgemeine Oberfläche.« Dieser Verlust der Landschaft betrifft alle Sinne. So wie die Eisenbahn die Newtonsche Mechanik im Verkehrswesen realisiert, schafft sie die Bedingung dafür, daß die Wahrnehmung der in ihr Reisenden sich >mechanisiert<. »Größe, Form, Menge und Bewegung« sind nach Newton die einzigen Eigenschaften, die sie an einer durchreisten Landschaft festzustellen in der Lage sind. Gerüche, Geräusche, Synästhesien gar, wie sie für die Reisenden der Goethezeit zum Weg gehörten, entfallen. (53)

[…]

Die Schwierigkeit, überhaupt noch etwas in der durchreisten Landschaft zu erkennen außer den gröbsten Umrissen, spricht aus allen frühen Beschreibungen von Bahnreisen. Jacob Burckhardt 1840: »Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei.« (54)

[…]

Es bleibt ihm nur übrig, die nähergelegenen Objekte und Landschaftsteile zu übersehen und seinen Blick auf die weiter entfernt und d.h. langsamer passierenden Gegenstände zu richten. Nimmt er diese Einschränkung seiner durchs traditionelle Reisen ausgebildeten Sehweise nicht vor, d.h. versucht er nach wie vor, Nähe und Ferne gleichermaßen zu erfassen, so ist, wie die medizinische Zeitschrift »Lancet« 1862 feststellt, Ermüdung die Folge: » Die Geschwindigkeit und Verschiedenartigkeit der Eindrücke ermüden notwendigerweise sowohl das Auge wie das Gehirn. Die andauernd sich ändernde Entfernung der Gegenstände erfordert eine unablässige Anpassungsarbeit des Apparats, durch den sie scharf auf die Retina eingestellt werden; und die geistige Anstrengung des Gehirns, sie aufzunehmen, ist kaum weniger ermüdend dadurch, daß sie unbewußt geleistet wird; denn keine Tatsache im Bereich der Physiologie ist unumstrittener als die, daß eine übermäßig funktionelle Aktivität stets materiellen Zerfall und organische Veränderung der Substanz im Gefolge hat.« (54f.)

[…]

Victor Hugo in einem Brief vom 22. August 1837: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote oder weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner« (zit. nach Baroli, Le train dans la littérature française, Paris 1964, S. 58) (54)

Die Verflüchtigung der Gegenstandswelt im Zeitalter der Dynamisierung des Sehens. Karikatur auf den reisenden Landschaftsmaler, Holzstich, in: Fliegende Blätter, Bd. 1, Nr. 10, 1845 [Link] sowie eine Demonstration desselben Problems im Zeitalter der Eisenbahn aus dem Film ›Top Secret!‹ (Jim Abrahams, David Zucker und Jerry Zucker, USA 1984), Filmausschnitt.

[…]

Dieser Effekt der Eisenbahn erweist sich damit als Moment jenes Vorgangs der Moderne, den Georg Simmel als Herausbildung der großstädtischen Wahrnehmung beschrieben hat. Diese Wahrnehmung charakterisiert Simmel als »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht« (hervorh. im Original). »Beharrende Eindrücke«, fährt Simmel fort, »Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.« (55)

Die […] Feststellung, daß Reisen im exakten Verhältnis zur Geschwindigkeit stumpfsinnig werde, gilt für die Einschätzung des Eisenbahnreisens durch alle jene Angehörigen des 19. Jahrhunderts, die noch am vorindustriellen Reisen orientiert sind, die nicht mal fähig sind, eine dem neuen Transport entsprechende Wahrnehmung zu entwickeln. […] »Ich langweile mich derart in der Eisenbahn«, schreibt Flaubert 1864 an einen Freund, »daß ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.« Er verbringt die Nacht vor einer Bahnreise schlaflos, um die Reise hindurch, die für ihn keine ist, schlafen zu können, so wenig kann er mit dem Blick aus dem Abteilfenster anfangen. (56f.)

[…]

Während das aufs traditionelle Reisen fixierte Bewußtsein zunehmend in die Krise gerät, entwickelt sich gleichzeitig eine Wahrnehmung, die sich nicht gegen die Effekte der neuen Reisetechnik sträubt, sondern diese ganz in sich aufnimmt. Für diesen Blick aus dem Abteilfenster wird all das Bereicherung, was dem am alten Reisen hängenden Bewußtsein als Verlust erscheint. Die Geschwindigkeit und Geradlinigkeit, mit der der Zug die Landschaft durchquert, vernichtet diese nicht, sondern bringt sie erst richtig zur Entfaltung. So in einem Bericht über eine Fahrt auf der Strecke Manchester-Liverpool 1830: »Der Reisende fährt auf dieser neuen Strecke durch die tiefsten Einschnitte, im Verhältnis zu denen das natürliche Bodenniveau das höchste ist; und wenn er über hohe Kammlinien und Aufschüttungen fährt, bewegt er sich über den Baumwipfeln und sieht von oben her das umliegende Land, dessen natürliches Niveau nun das tiefste ist. […] (57f.)

[…]

Bei Benjamin Gastineau, Verfasser eines 1861 in Buchform erschienenen Reisefeuilletons »La vie en chemin de fer«, erscheint die Bewegung des Zuges durch die Landschaft als Bewegung der Landschaft selber. Die Eisenbahn bringt sie zum Tanzen. Ihre Geschwindigkeit, den Raum verkleinernd, läßt Gegenstände und Szenen in einer unmittelbaren Folge erscheinen, die ihrem ursprünglichen Hier und Jetzt gemäß den verschiedensten Bereichen angehören. Der Blick aus dem Abteilfenster, der solche Szenenfolgen aufnimmt, ist durch eine neuartige Fähigkeit gekennzeichnet, die Gastineau als »die synthetische Philosophie des Auges« bezeichnet. Es ist die Fähigkeit, das Unterschiedene, wie es jenseits des Abteilfensters abrollt, unterschiedslos aufzunehmen. Die Szenerie, die die Eisenbahn in Gastineaus Text in schneller Bewegung herstellt, erscheint, ohne ausdrücklich genannt zu werden, als Panorama: »Die Dampfkraft, dieser machtvolle Maschinist, verschlingt einen Raum von 15 Meilen pro Stunde und reißt dabei die Kulissen und Dekorationen mit sich; sie verändert in jedem Augenblick den Blickpunkt, sie konfrontiert den verblüfften Reisenden hintereinander mit fröhlich und traurigen Szenen, burlesken Zwischenspielen, mit Blumen, die wie Feuerwerk erscheinen, mit Ausblicken, die, kaum daß sie erschienen sind, schon wieder verschwinden; sie setzt die Natur in Bewegung, so daß diese nacheinander dunkel und hell erscheint, sie zeigt uns Skelette und junge Liebende, Sonnenschein und Wolken, heitere und düstere Anblicke, Hochzeiten, Taufen und Friedhöfe.« (59)

[…]

Betrachten wir genauer, was diese neue Wahrnehmung, die wir panoramatisch genannt haben, konstituiert. Dolf Sternberger verwendet den Begriff des Panorama und des Panoramatischen, um die europäische Wahrnehmung im 19. Jahrhundert zu beschreiben, ihre Tendenz, das Unterschiedliche unterschiedslos zu sehen. »Die Ausblicke aus den europäischen Fenstern«, sagt Sternberger, »haben ihre Tiefendimension vollends verloren, sind nur Teile einer und derselben Panoramenwelt geworden, die sich ringsumher zieht und überall nur bemalte Fläche ist.« Für Sternberger ist das moderne Verkehrswesen, mit der Eisenbahn an erster Stelle, wesentlich verantwortlich für die Panoramatisierung der Welt: »Die Eisenbahn bildet die neu erfahrbare Welt der Länder und Meere selber zum Panorama aus. Sie verband nicht bloß zuvor entfernte Orte miteinander, indem sie den überwundenen Weg von allem Widerstand, Unterschied und Abenteuer befreite, sie wendete vielmehr die Blicke der Reisenden, da das Reisen selbst so bequem und allgemein wurde, nach außen und bot ihnen die reiche Nahrung welchselnder Bilder dar, welche während der Fahrt die einzige mögliche Erfahrung ausmachten.« (60)

[…]

Sternbergers Bemerkung, die Ausblicke aus den europäischen Fenstern hätten ihre Tiefendimension verloren, läßt sich dahingehend konkretisieren, daß dies zuerst mit dem Blick aus den Fenstern der Eisenbahnabteile geschehen ist. Die Tiefenschärfe der vorindustriellen Wahrnehmung geht hier ganz wörtlich verloren, indem durch die Geschwindigkeit die nahegelegenen Objekte sich verflüchtigen. Dies bedeutet das Ende des Vordergrundes, jener Raumdimension, die die wesentliche Erfahrung vorindustriellen Reisens ausmacht. Über den Vordergrund bezog sich der Reisende auf die Landschaft, durch die er sich bewegte. Er wußte sich selber als Teil dieses Vordergrundes, und dies Bewußtsein verband ihn mit der Landschaft, band ihn in sie ein, so weit in die Ferne sie sich erstrecken mochte. Indem durch die Geschwindigkeit der Vordergrund aufgelöst wird, geht diese Raumdimension dem Reisenden verloren. […] wie das Glas den Innenraum des Crystal Palace vom natürlichen Außenraum abtrennt, ohne eigentlich seine atmosphärische Qualität sichtbar zu verändern, so trennt die Geschwindigkeit der Eisenbahn den Reisenden vom Raum, dessen Teil er bis dahin gewesen war. Der Raum, aus dem der Reisende heraustritt, wird diesem zum Tableau (bzw., indem die Geschwindigkeit ihn in dauernd sich verändernde Perspektiven bringt, zur Bilder- oder Szenenfolge). Der panoramatische Blick gehört, im Unterschied zum traditionellen Sehen à la Ruskin, nicht mehr dem gleichen Raum an wie die wahrgenommenen Gegenstände. Er sieht die Gegenstände, Landschaften usw. durch die Apparatur hindurch, mit der er sich durch die Welt bewegt. Diese Apparatur, d.h. die Bewegung, die sie herstellt, geht ein in den Blick, der folglich nur noch mobil sehen kann. (61f.)

Literatur:

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Erste Fassung], in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften / Walter Benjamin. Unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1989, S. 435 – 467.

Kommentare: Clara Matesiu, Adeline Dethleffsen, Ruth Lindner Bearbeitung: Yunus Emrah Fazlioglu, Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig