Jg. 44, H. 2 – Themenheft: Verbriefte Frühromantik, weiblich gewendet, hg. von Frederike Middelhoff. Mit Beiträgen von Nicholas Saul, Alexander Knopf, Yvonne Al-Taie, Cosima Jungk, Antonia Villinger und Claudia Bamberg

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Inhaltverzeichnis

Frederike Middelhoff
Editorial: Verbriefte Frühromantik, weiblich gewendet. Korrespondentinnen im Gespräch
mit Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg
, S. 105-111

Nicholas Saul
„Die Frau des gebildeten Standes, ist der Ungebildete“. Zum Verhältnis von Weiblichkeit
und Sprache im Briefwechsel zwischen Friedrich von Hardenbergs und Caroline Schlegel
, S. 113-123

Abstract
Die Frühromantiker haben sich in der unmittelbar postrevolutionären Epoche redlich um die Gleichstellung der Frau bemüht, speziell um die Autonomie und Leistungskraft der Frau als gleichberechtigter Akteurin in der Sphäre der Öffentlichkeit. Im Folgenden wird unter diesem Blickpunkt die utopische Korrespondenz zwischen Friedrich von Hardenberg und Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling untersucht. Nach einer kurzen Darstellung der Zusammenarbeit Caroline Schlegels mit den Brüdern Schlegel wird im Kontext der bevorstehenden, noch geheimen Verlobung Hardenbergs mit Julie von Charpentier Hardenbergs vitalistisch-kreativ orientierte Rhetorik in den Briefen zum Thema Utopie in Ehe und Staat analysiert und in Bezug zu Judith Butlers Gender-Theorie gesetzt.

Alexander Knopf
Am Rande des Gesprächs. Untersuchungen zur epistolaren Kommunikation im Schlegel-Kreis (Friedrich Schlegel, Caroline Schlegel, Friedrich von Hardenberg/Novalis, Dorothea Veit), S. 125-139

Abstract
Der Beitrag untersucht an einer Auswahl von Briefen aus dem Schlegel-Kreis, inwiefern die von Luhmann untersuchte Codierung von Intimität (Liebe) sich auf andere soziale Beziehungen übertragen lässt. Unterstellt wird dabei, dass die unwahrscheinliche Kommunikation, der laut Luhmann im Fall der Liebe ein symbolisch generiertes Kommunikationsmedium zum Erfolg verhelfen soll, gerade für die Frühromantiker:innen ein allgemeines Problem darstellte. Auf dieses Problem wurde mit der Entwicklung komplexer kommunikativer Strategien reagiert. Das zeigt sich an Briefen – als Zeugnissen höchstpersönlicher, aber nicht zwangsläufig intimer Kommunikation – besonders deutlich. Die rhetorischen, stilistischen, theoretischen und metasprachlichen Merkmale, die in diesem Aufsatz zusammengetragen und systematisch differenziert werden, geben zu erkennen, dass sich in diesen Briefen ein Metadiskurs herausbildet, der die Funktion hat, Kommunikationsschwellen sichtbar zu machen. Insofern liefert der Beitrag Anhaltspunkte für die Existenz eines Codes, der – diesseits des Sonderfalls Liebe – auch andere höchstpersönliche Beziehungen (freundschaftlich, verwandtschaftlich etc.) determiniert und reguliert.

Yvonne Al-Taie
Der Brief als soziales Medium. Körperlichkeit, gegenwärtiges Erleben
und epistolare Vermittlung in den Briefen des Grüninger Kreises an Novalis
, S. 141-159

Abstract
Der Beitrag liest die Briefe der Korrespondentinnen des Grüninger Kreises – Jeannette Danscour, Friederike von Mandelsloh, Caroline von Kühn, Sophie von Kühn – an Friedrich von Hardenberg aus einer praxeologischen Perspektive und fragt danach, wie sich diskursive, soziale und materiale Praktiken in den Briefen spiegeln, die sich als Versuche körperlich-räumlicher Distanzüberwindung darbieten. Drei Aspekte werden dabei unterschieden und näher untersucht: Die Situierung des Schreibens in der Bezugnahme auf Schreiborte und Schreibgegenwarten (1), Formen und Funktionen kollaborativen Schreibens (2) und die Simulation körperlicher Nähe in Gesten der Stellvertretung und durch materielle Briefbeigaben (3). Dabei erweist sich der Brief als soziales Medium, das Konfigurationen verbaler und non-verbaler Distanzkommunikation ausbildet, die sich unter technisch veränderten Vorzeichen in ähnlicher Weise in den Sozialen Medien der digitalen Gegenwart wiederfinden.

Cosima Jungk
„Fühlen ist gewiß mehr als Sehen“ – Formen und Funktionen der Intimität in den Briefen
von Friedrich Schlegel und Dorothea Veit an Karoline Paulus und Rahel Levin
, S. 161-175

Abstract
Am Beispiel der Korrespondenzen Friedrich Schlegels und Dorothea Veits mit Karoline Paulus werden Formen und Funktionen der Intimität in der Briefkommunikation untersucht. Friedrich Schlegel umwarb Karoline Paulus mit Billets, die er als intellektuelle Spielform und Türöffner nutzte. Dorothea Veit fand in Karoline Paulus gleichzeitig eine Vertraute. Die Dreiecksbeziehung erhielt neben der emotionalen, auch gleichzeitig eine taktische Bedeutung. Für das Paar stand gesellschaftlicher Anschluss in Jena im Mittelpunkt. Friedrich Schlegels frühe Briefe an Rahel Levin haben einen deutlich anderen Charakter. Während es Schlegel in seinen Schreiben an Karoline Paulus auch um ein Spiel mit der körperlichen Anziehung ging, ersetzte Rahel Levin als kluge und selbstbewusste Briefpartnerin die
mittlerweile entfremdete Schwägerin Karoline Schlegel. Deutlich werden unterschiedliche Formen und Funktionen epistolar inszenierter Intimität, die Aufschluss über die Komplexität der Regulierung von Nähe und Distanz liefern.

Antonia Villinger
Dorothea Schlegel als Reiseliteratin. Briefe aus Italien im Mai 1818 an Friedrich Schlegel, S. 177-192

Abstract
Von ihrer Reise nach und durch Italien berichtet Dorothea Schlegel dem in Frankfurt verbleibenden Friedrich Schlegel in verschiedenen Briefen im Mai 1818. In den Briefen aus Mailand beschreibt sie ausführlich ihre Eindrücke
und Erlebnisse; dabei nimmt Napoleons Einfluss auf die Landschaft, Kultur und Architektur Italiens eine besondere Stellung ein. Italien wird von Schlegel zwar als romantischer Sehnsuchtsort präsentiert, dient aber auch als Aushandlungsort, um die eigene politische, religiöse und gesellschaftliche Position zu reevaluieren und zu festigen. In den Briefen entwickelt Schlegel ihre eigene Perspektive auf Italien, die im Rahmen des Artikels im Anschluss an Forschungsbeiträge zur Gattung der Reiseliteratur als Reisebriefe perspektiviert werden. Die Art und Weise, wie sie
sich das Land über eine Verbindung von Kunst, Religion, Identität, Herkunft und Politik erschreibt, rückt Dorothea Schlegel in der Rolle einer Reiseschriftstellerin in den Blick.

Claudia Bamberg
Mein „Sorgenkind“ – mein „geliebter Bruder“: Friedrich Schlegel in den Briefen der Schwestern Charlotte und Henriette Ernst sowie der Mutter Johanna Christiane Erdmuthe Schlegel, S. 193-208

Abstract
Die Korrespondenzen aus dem weiblichen familiären Umfeld der Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel sind bislang kaum beachtet worden; gemeint sind die Briefe der Schwestern Charlotte (1759–1826) und Henriette (1761–1801) Schlegel sowie der Mutter Johanna Christiane Erdmuthe Schlegel (1735–1811) an August Wilhelm Schlegel. Die 168 Schreiben, die überwiegend erstmals in der Digitalen Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels veröffentlicht wurden, kommentieren vielstimmig den persönlichen und künstlerischen Entwicklungsgang
Friedrich Schlegels und eröffnen so auch neue Perspektiven auf die Konstitution der Frühromantik sowie Friedrich und Dorothea Schlegels Entwicklung nach der Konversion 1808. Im Folgenden werden diese Briefe im Hinblick auf die Thematisierung Friedrich Schlegels – die von der Auseinandersetzung mit Dorothea Schlegel nicht zu trennen ist, denn von beiden entwerfen die Briefe Psychogramme – sowie im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb des Familienbriefnetzwerks und auf Ihre Kontexte untersucht, die auch Praktiken der (Früh-)Romantik berühren.

Jg. 43, H. 2 – Themenheft „Praktiken der Kanonisierung“, hg. von Martina Wernli. Mit Beiträgen von Oliver Völker, Maren Scheurer, Peter C. Pohl, Martina Wernli, Natalie Moser, Sandra Vlasta

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Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Editorial, S. 87-88

Oliver Völker (Frankfurt a. M./Deutschland)
„Auskehricht“: Figuren des Globalen und des Randständigen in Johann Carl Wezels Belphegor und Jonathan Swifts Gulliver’s Travels, S. 89-102

Abstract
Kurz nach seiner Veröffentlichung verschwand Johann Carl Wezels Roman Belphegor (1776) aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem etablierten Feld der deutschen Literatur. Bisherige Lektüren haben dafür dessen Misanthropie und Skeptizismus angeführt. In diesem Artikel lenke ich den Blick hingegen auf die Bedeutung von Marginalisierten und Entrechteten für den Roman selbst, indem ich dessen Darstellung des atlantischen Sklavenhandels und somit seine Situiertheit in den Widersprüchen der Spätaufklärung hervorhebe. Die monotone Zeit- und Raumstruktur des Romans, so die These, macht den Handel und die Zirkulation von in Dinge verwandelten Menschen abbildbar, die im Schatten von normativen Modellen des Kosmopolitismus und universeller Rechte stehen. Aus dieser Perspektive wird Belphegor im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte lesbar, was durch einen abschließenden Bezug zu Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) verdeutlicht wird.

Maren Scheurer (Frankfurt a.M./Deutschland)
„Ruhmdurst“: Weibliche Künstlerschaft in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof, S. 103 -116

Abstract
Das Motiv des „Ruhmdurstes“ der jungen Malerin Olga Kovalski in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof (1896) dient diesem Artikel als Ausgangspunkt, um wichtige Prämissen des Kanonbegriffs aus der Sicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Böhlaus Roman nimmt nicht nur die Kritik an genderspezifischen Ausschlussprozessen vorweg und thematisiert die Strukturen, die Frauen insbesondere aus der ästhetischen Avantgarde und dem Zugang zu künstlerischer Wahrheit ausklammerten, sondern formuliert auch ein relationales Gegenmodell, in dem sich das Streben der Protagonistin ausdrücklich an andere Künstlerinnen richtet. Im Kontext des zeitgenössischen Ruhmdiskurses zeigt sich das utopische Potential des Romans: Statt einer reinen Wettbewerbslogik fordert er Kunst für Frauen, die sie als Rezipientinnen wie als Künstlerinnen ermächtigt und die Dynamiken der Kanonisierung hinterfragt.

Peter C. Pohl (Innsbruck/Österreich)
Praktiken mit K-. Ein terminologischer Vorschlag zur Kanonforschung am Beispiel von Gerhard Henschels Martin-Schlosser-Romanen, S. 117-132

Abstract
Gerhard Henschels autofiktionaler Romanzyklus um Martin Schlosser stellt ein besonders geeignetes Objekt für die kulturwissenschaftliche Kanonforschung dar. Die neun Romane erzählen die Geschichte Martin Schlossers von seiner Geburt bis zu seiner Etablierung als Satiriker und Schriftsteller, wobei sie nicht nur das deutsche literarische Feld in der Art von Literaturbetriebsromanen skizzieren und karikieren; sie verwenden auch literarische Verfahren, die den Präferenzen Schlossers entsprechen – und von Autoren wie Walter Kempowski stammen. Der Beitrag orientiert sich an Pierre Bourdieus Kultursoziologie und Andreas Reckwitz’ Studien zur Akademikerklasse und entwickelt anhand von Henschels Romanen einen terminologischen Vorschlag für die Kanonforschung. Er differenziert vier Praktiken aus ethologischen, kultursoziologischen, literaturwissenschaftlichen, theologischen Provenienzen – Kooperieren, Kuratieren, Kritisieren, Konsekrieren – und zeigt, dass sie Bestandteile kultureller Präferenzbildung und damit auch des Kanonisierens sind.

Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Und wer liest Adelheid Duvanel? Zu Mehrfachmarginalisierungen und Kanonisierungsfragen am Beispiel einer wiederzuentdeckenden Autorin, S. 133-146

Abstract
Adelheid Duvanel (1936–1996) gilt vielen noch als ‚Geheimtipp‘. Nachdem ihre Texte größtenteils vergriffen waren, erschien 2021 ein Band mit den gesammelten Erzählungen, weitere Editionen sind geplant. An diesem Band, den Rezensionen und der Editionslage können Prozesse der Kanonisierungen verfolgt werden, Prozesse, die sich gerade in einer Umbruchssituation befinden. Der Beitrag nimmt die Lektüre eines Tagebucheintrages der Autorin vor, um Einblick in das poetische Potenzial von Duvanels Schaffen zu geben. Psychiatrieerfahrung, weibliche Autorschaft sowie lokale versus internationale Rezeption sind Aspekte, die der Beitrag als mögliche Gründe für den Verbleib in einem Schwellenraum der Kanonisierung diskutiert.

Natalie Moser (Potsdam/Deutschland)
Kitsch oder Kanon? Zur reflexiven Funktion weiblicher Skripte in Emma Braslavskys Zukunftstexten, S. 147-162

Abstract
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Interferenzen der Konzepte Genre, Gender und Kanon in Near Future-Texten von Emma Braslavsky. Im Zentrum der Untersuchung stehen ihr Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019) und ihre verfilmte Erzählung Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied (2019). Gezeigt werden soll, dass Weiblichkeit in diesen Texten u.a. mittels einer programmierenden Hubot als Hauptfigur als subversives Skript inszeniert wird. Zum einen werden anhand weiblicher Skripte textintern heteronormative Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster sowie Wertungsdiskurse (z.B. in der Form des Kitsch-Vorwurfes) und Ausschlussmechanismen u.a. im Literaturbetrieb sichtbar gemacht. Anknüpfend an die Tradition der feministischen Science-Fiction wird zum anderen ein bestehende Dualismen wie Natur vs. Kultur, Natur vs. Technik oder Mensch vs. Maschine unterwanderndes, mit kanonischen Narrationen, Diskursen und Figuren spielendes Erzählen von der nahen Zukunft etabliert.

Sandra Vlasta (Genua/Italien)
Dürfen Schwarze Blumen malen? (Sharon Dodua Otoo). Heterogenität im Kanon und/trotz Literaturpreise(n), S. 163-174

Abstract
Literaturpreise werden von der (literarischen) Öffentlichkeit als klassisches Kanonisierungsinstrument aufgefasst, das Aufmerksamkeit schafft und mitbestimmt, welche Bücher und Autor:innen in den Kanon aufgenommen werden. Genau diese Möglichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten von Preisen wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis eingesetzt, um möglichen Ausschlüssen von eingewanderten Autor:innen entgegenzuwirken und einen breiteren Kanon zu propagieren. Literaturpreise wie der Deutsche oder der Österreichische Buchpreis verbreitern den Kanon allerdings nur bedingt. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Schnittstelle von und den Wechselwirkungen zwischen Literaturpreisen, Kanon(bildung) und der Heterogenität im Literaturbetrieb der Gegenwart. Der Zusammenhang zwischen Literaturpreisen und Aufmerksamkeit wird erläutert sowie die Gratwanderung zwischen Preisen für marginalisierte Gruppen und der gleichzeitigen Gefahr der Schubladisierung, gegen die sich nicht zuletzt die Autor:innen wehren.