Jg. 43, H. 2 – Themenheft „Praktiken der Kanonisierung“, hg. von Martina Wernli. Mit Beiträgen von Oliver Völker, Maren Scheurer, Peter C. Pohl, Martina Wernli, Natalie Moser, Sandra Vlasta

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Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Editorial, S. 87-88

Oliver Völker (Frankfurt a. M./Deutschland)
„Auskehricht“: Figuren des Globalen und des Randständigen in Johann Carl Wezels Belphegor und Jonathan Swifts Gulliver’s Travels, S. 89-102

Abstract
Kurz nach seiner Veröffentlichung verschwand Johann Carl Wezels Roman Belphegor (1776) aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem etablierten Feld der deutschen Literatur. Bisherige Lektüren haben dafür dessen Misanthropie und Skeptizismus angeführt. In diesem Artikel lenke ich den Blick hingegen auf die Bedeutung von Marginalisierten und Entrechteten für den Roman selbst, indem ich dessen Darstellung des atlantischen Sklavenhandels und somit seine Situiertheit in den Widersprüchen der Spätaufklärung hervorhebe. Die monotone Zeit- und Raumstruktur des Romans, so die These, macht den Handel und die Zirkulation von in Dinge verwandelten Menschen abbildbar, die im Schatten von normativen Modellen des Kosmopolitismus und universeller Rechte stehen. Aus dieser Perspektive wird Belphegor im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte lesbar, was durch einen abschließenden Bezug zu Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) verdeutlicht wird.

Maren Scheurer (Frankfurt a.M./Deutschland)
„Ruhmdurst“: Weibliche Künstlerschaft in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof, S. 103 -116

Abstract
Das Motiv des „Ruhmdurstes“ der jungen Malerin Olga Kovalski in Helene Böhlaus Der Rangierbahnhof (1896) dient diesem Artikel als Ausgangspunkt, um wichtige Prämissen des Kanonbegriffs aus der Sicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Böhlaus Roman nimmt nicht nur die Kritik an genderspezifischen Ausschlussprozessen vorweg und thematisiert die Strukturen, die Frauen insbesondere aus der ästhetischen Avantgarde und dem Zugang zu künstlerischer Wahrheit ausklammerten, sondern formuliert auch ein relationales Gegenmodell, in dem sich das Streben der Protagonistin ausdrücklich an andere Künstlerinnen richtet. Im Kontext des zeitgenössischen Ruhmdiskurses zeigt sich das utopische Potential des Romans: Statt einer reinen Wettbewerbslogik fordert er Kunst für Frauen, die sie als Rezipientinnen wie als Künstlerinnen ermächtigt und die Dynamiken der Kanonisierung hinterfragt.

Peter C. Pohl (Innsbruck/Österreich)
Praktiken mit K-. Ein terminologischer Vorschlag zur Kanonforschung am Beispiel von Gerhard Henschels Martin-Schlosser-Romanen, S. 117-132

Abstract
Gerhard Henschels autofiktionaler Romanzyklus um Martin Schlosser stellt ein besonders geeignetes Objekt für die kulturwissenschaftliche Kanonforschung dar. Die neun Romane erzählen die Geschichte Martin Schlossers von seiner Geburt bis zu seiner Etablierung als Satiriker und Schriftsteller, wobei sie nicht nur das deutsche literarische Feld in der Art von Literaturbetriebsromanen skizzieren und karikieren; sie verwenden auch literarische Verfahren, die den Präferenzen Schlossers entsprechen – und von Autoren wie Walter Kempowski stammen. Der Beitrag orientiert sich an Pierre Bourdieus Kultursoziologie und Andreas Reckwitz’ Studien zur Akademikerklasse und entwickelt anhand von Henschels Romanen einen terminologischen Vorschlag für die Kanonforschung. Er differenziert vier Praktiken aus ethologischen, kultursoziologischen, literaturwissenschaftlichen, theologischen Provenienzen – Kooperieren, Kuratieren, Kritisieren, Konsekrieren – und zeigt, dass sie Bestandteile kultureller Präferenzbildung und damit auch des Kanonisierens sind.

Martina Wernli (Frankfurt a. M./Deutschland)
Und wer liest Adelheid Duvanel? Zu Mehrfachmarginalisierungen und Kanonisierungsfragen am Beispiel einer wiederzuentdeckenden Autorin, S. 133-146

Abstract
Adelheid Duvanel (1936–1996) gilt vielen noch als ‚Geheimtipp‘. Nachdem ihre Texte größtenteils vergriffen waren, erschien 2021 ein Band mit den gesammelten Erzählungen, weitere Editionen sind geplant. An diesem Band, den Rezensionen und der Editionslage können Prozesse der Kanonisierungen verfolgt werden, Prozesse, die sich gerade in einer Umbruchssituation befinden. Der Beitrag nimmt die Lektüre eines Tagebucheintrages der Autorin vor, um Einblick in das poetische Potenzial von Duvanels Schaffen zu geben. Psychiatrieerfahrung, weibliche Autorschaft sowie lokale versus internationale Rezeption sind Aspekte, die der Beitrag als mögliche Gründe für den Verbleib in einem Schwellenraum der Kanonisierung diskutiert.

Natalie Moser (Potsdam/Deutschland)
Kitsch oder Kanon? Zur reflexiven Funktion weiblicher Skripte in Emma Braslavskys Zukunftstexten, S. 147-162

Abstract
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Interferenzen der Konzepte Genre, Gender und Kanon in Near Future-Texten von Emma Braslavsky. Im Zentrum der Untersuchung stehen ihr Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019) und ihre verfilmte Erzählung Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied (2019). Gezeigt werden soll, dass Weiblichkeit in diesen Texten u.a. mittels einer programmierenden Hubot als Hauptfigur als subversives Skript inszeniert wird. Zum einen werden anhand weiblicher Skripte textintern heteronormative Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster sowie Wertungsdiskurse (z.B. in der Form des Kitsch-Vorwurfes) und Ausschlussmechanismen u.a. im Literaturbetrieb sichtbar gemacht. Anknüpfend an die Tradition der feministischen Science-Fiction wird zum anderen ein bestehende Dualismen wie Natur vs. Kultur, Natur vs. Technik oder Mensch vs. Maschine unterwanderndes, mit kanonischen Narrationen, Diskursen und Figuren spielendes Erzählen von der nahen Zukunft etabliert.

Sandra Vlasta (Genua/Italien)
Dürfen Schwarze Blumen malen? (Sharon Dodua Otoo). Heterogenität im Kanon und/trotz Literaturpreise(n), S. 163-174

Abstract
Literaturpreise werden von der (literarischen) Öffentlichkeit als klassisches Kanonisierungsinstrument aufgefasst, das Aufmerksamkeit schafft und mitbestimmt, welche Bücher und Autor:innen in den Kanon aufgenommen werden. Genau diese Möglichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten von Preisen wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis eingesetzt, um möglichen Ausschlüssen von eingewanderten Autor:innen entgegenzuwirken und einen breiteren Kanon zu propagieren. Literaturpreise wie der Deutsche oder der Österreichische Buchpreis verbreitern den Kanon allerdings nur bedingt. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Schnittstelle von und den Wechselwirkungen zwischen Literaturpreisen, Kanon(bildung) und der Heterogenität im Literaturbetrieb der Gegenwart. Der Zusammenhang zwischen Literaturpreisen und Aufmerksamkeit wird erläutert sowie die Gratwanderung zwischen Preisen für marginalisierte Gruppen und der gleichzeitigen Gefahr der Schubladisierung, gegen die sich nicht zuletzt die Autor:innen wehren.

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