Jg. 46, H. 1 – Themenheft: Lesen (in) der Epidemie, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Mit Beiträgen von Pia Doering, Martina Wagner-Egelhaaf, Nikola Roßbach, Florian Klaeger, Isabelle Stauffer, Christine Huck, Silke Horstkotte und Irene Husser

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Inhaltsverzeichnis

Martina Wagner-Egelhaaf
Einführung: Lesen (in) der Pandemie, S. 1

Abstract
Der Ausbruch der SARS-Cov-2-Pandemie im Jahr 2020 und die damit verbundenen einschneidenden Erfahrungen für die Menschen auf der ganzen Welt haben die Klassiker der Seuchenliteratur wieder aktuell werden lassen. Gleichzeitig entstanden zahlreiche Leseprojekte. Und natürlich wurden auch viele neue Texte zum Thema ,Corona‘ oder ,Epidemie‘ publiziert. Die Einleitung führt in das Themenheft „Lesen (in) der Pandemie“ ein, das sich der Rolle des Lesens und der Literatur in Zeiten von Epidemien widmet, und gibt einen Ausblick auf die versammelten Beiträge.

Pia Doering / Martina Wagner-Egelhaaf
Lektüre in Zeiten von Pest und Corona: das Beispiel des Decameron, S. 9

Abstract
Giovanni Boccaccios Decameron gehört zu den Klassikern der Seuchenliteratur und wurde in der zurückliegenden Corona-Pandemie wieder zur gefragten Lektüre. Die Pestepidemie, die den Ausgangspunkt und Erzählanlass des Decameron bildet, bietet Boccaccio die Möglichkeit, auf den unterschiedlichen Ebenen seiner Novellensammlung ein Plädoyer für die Literatur zu entfalten. Dabei akzentuiert er zum einen die Vorzüge der Literatur gegenüber den gelehrten Diskursen der Theologie und Philosophie. Zum anderen hebt er den Trost hervor, den Lektüre spenden kann, wenn dem Menschen andere Formen geselliger Unterhaltung etwa aufgrund einer Seuche verwehrt sind. Dass weltliche Literatur zu Erbauung und moralischer Unterweisung geeignet ist, setzt eine verantwortungsvolle Rezeption voraus, für die die Erzählergemeinschaft des Decameron als Modell fungiert. Als Corona die Möglichkeiten des sozialen Miteinanders einschränkte, griffen die Menschen wieder zum Decameron, das zudem zum Anlass neuer Leseprojekte wurde.

Nikola Roßbach
Loimologia. Literatur der Krise am Beispiel von Magdeburger Pestschriften von 1681/82, S. 25

Abstract
Krisen, auch epidemische, generieren Texte, beschwören Textproduktion herauf. In der von der Pest geprägten Frühen Neuzeit wird zum einen das Lesen selbst epidemisch, zum anderen entsteht eine Vielfalt neuer, epidemiebezogener Texte und Textgattungen. Der vorliegende Beitrag nimmt die unter den Begriff der ‚Loimologia‘
gefassten frühneuzeitlichen Pestschriften am exemplarischen Fall Magdeburgs in den Jahren 1681/82 in den Blick. An Mahnpredigt und Trostschrift, Anordnung und Verzeichnis überprüft er textliche Ziele, Funktionen und Strategien und kann ein breites Spektrum von Mustern geistlicher und weltlicher Pestbewältigung beobachten, in denen religiöse und weltliche Argumentationsmuster diskursiv verwoben sind und quer durch die Textsorten laufen. Dabei stehen physisch-medizinische Ziele wie körperliches Überleben neben psychisch-mentalen Zielen wie seelisches Überleben und Sinnerhalt. Strategien wie mahnender Moralappell werden ebenso eingesetzt wie intellektueller und emotionaler Trost.

Florian Klaeger
Quarantines: Framing Romantic Narratives of Extinction and Epidemic Experience, S. 43

Abstract
The essay situates Romantic representations of epidemics in the context of ‘last man narratives’ in vogue around 1800. It focuses on their shared use of ‘framings’ of the sort familiar from the works of Caspar David Friedrich, the Rückenfigur. Through this device, the unthinkable is captured and ‘reined in’, as the focus is directed away from the subject itself and towards its human observer. Such framings are employed, in very different fashion, in the two texts discussed centrally: Mary Shelley’s 1826 novel The Last Man and Heinrich Heine’s 1831 letters in Französische Zustände. The framings in these narratives of epidemics are compared to those in narratives of human extinction, including the 1777 cantata by Johann Jakob Walder and Leonhard Meister, Der lezte Mensch; Jean Paul’s “Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei”; and Jean-Baptiste Cousin de Grainville’s novel Le Dernier Homme (1805).

Isabelle Stauffer
Lesen über Epidemie, Despotie und Rassismus bei Friedrich Dürrenmatt, S. 61

Abstract
Friedrich Dürrenmatts Erzählung Die Virusepidemie in Südafrika (1989) erscheint vor dem Hintergrund der Coronapandemie hochaktuell. In der Erzählung wird geschildert, wie in Südafrika eine seltsame Epidemie ausbricht, durch die weiße Menschen schwarz werden. Damit wird die herrschende Apartheid hinfällig und der staatlich gestützte Rassismus bricht zusammen. Die Erzählung zeigt den Zusammenhang von Epidemien mit staatlicher Gewalt und Rassismus. Der Beitrag untersucht, wie Dürrenmatts Erzählung angesichts der Erfahrung mit der Corona-Pandemie von 2020–2023 auf narrative Verflechtungen von Epidemie, Despotie und Rassismus gelesen werden kann.

Cristine Huck
„Ein klares Bild der Lage“– Literatur als Krisenbewältigung am Beispiel von Lola Randls Coronaroman Die Krone der Schöpfung, S. 71

Abstract
Dieser Beitrag befasst sich mit der Darstellung der Coronapandemie in Lola Randls Roman Die Krone der Schöpfung. Der Fokus liegt auf der Schreibweise des Coronaromans, auf thematischen Schwerpunkten in der Darstellung der Pandemie und auf der spezifischen Perspektive der Erzählerin. In Anknüpfung an Bruno Latours Konzept des Faitiche soll das Zusammenspiel von Pandemiewissen und Quarantänediaristik nachvollzogen werden. Weiter soll die Praxis des Lesens in der Erfahrung von Krisensituationen wie der Coronapandemie herausgestellt werden – einerseits hinsichtlich der Leseszenen innerhalb des Textes und anderseits in Bezug auf die Rezeption des Romans durch seine Leser:innen.

Silke Horstkotte
Long Covid-Literatur: Pandemisches Erzählen bei Katharina Hacker und Mareike Fallwickl, S. 81

Abstract
Mit Die Gäste (2022) von Katharina Hacker und Die Wut, die bleibt (2022) von Mareike Fallwickl stehen zwei Romane im Zentrum des Beitrags, die in späteren Phasen der Corona-Pandemie spielen. Sie nehmen den langen Verlauf der Pandemie und deren Langzeitfolgen für die Gesellschaft in den Blick, etwa den Burnout von Müttern, die im Lockdown allein gelassen wurden, wirtschaftliche Folgen für die Gastronomie sowie allgemein neue Verhaltensnormen. Die beiden Romane präsentieren ihre jeweilige Corona-Analyse mit erzählerisch sehr unterschiedlichen Mitteln: Hacker im Modus der literarischen Fantastik und stark verfremdend, Fallwickl realistisch und polyperspektivisch über Frauen aus zwei Generationen. Der Beitrag untersucht diese unterschiedlichen Weisen, Lesende anzusprechen.

Irene Husser
„wütend sind derzeit alle“ – Verschwörungserzählungen und Medienkritik
in Elfriede Jelineks Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! (2021)
, S. 99

Abstract
Der Beitrag untersucht Elfriede Jelineks Auseinandersetzung mit den medialen Corona-Diskursen, vor allem des konspirativen Typus, in ihrem Stück Lärm. Blindes sehen. Blinde sehen! (2021). Es soll gezeigt werden, dass in Jelineks Theatertext zum einen nach den Ursachen für die Konjunktur von Verschwörungserzählungen gefragt und dabei eine epistemische Verunsicherung ausgemacht wird, zum anderen die Möglichkeiten literarischen Engagements im Umgang mit postfaktischen Populismen ergründet werden. Dabei bringt der Text (historische) Abgrenzungsschwierigkeiten der Literatur gegenüber konspirativer Rede zum Ausdruck, um diese auf die Ästhetik der Geheimnislosigkeit sowie die Kritik an den medialen Bedingungen des Pandemie-Diskurses zu verpflichten.