Jg. 44, H. 1 – Themenheft: Poetische Taxonomien. Literarische (Un-)Ordnungen der Natur, hg. von Felix Lempp, Antje Schmidt und Jule Thiemann. Mit Beiträgen von Ludwig Fischer, Laura Isengard, Andrea Schütte, Anna Staab und Yvonne Pauly

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Inhaltsverzeichnis

Felix Lempp / Antje Schmidt / Jule Thiemann
Poetische Taxonomien. Eine Einführung mit Christian Morgenstern, S. 1-10

Ludwig Fischer
Poesie des Benennens. Über den Gebrauch von Namen und Zuschreibungen
in Nature Writing
, S. 11-30

Abstract
Wer über Natur – genauer: von seinen Naturwahrnehmungen schreiben will, muss die wahrgenommenen ‚Dinge‘ benennen. Zutreffend benennen. Für sehr viele Naturerscheinungen, denen wir begegnen können, halten die verschiedenen Sprachen und Kulturen Namen bereit, die hunderte oder tausende von Jahren alt sind. Aber nicht nur die Taxonomie operiert mit neuen ‚Kunstnamen‘. Wenn man von der naturwissenschaftlichen Taxonomie absieht, gerät man auch im Hochdeutschen in ein Wirrwarr alter und junger, gültiger oder bezweifelter Benennungen.
Noch unübersichtlicher wird es für das ‚richtige Benennen‘, wenn man die dialektalen Namen einbezieht. Für die Brennnessel haben die Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen im deutschen Sprachraum vor gut 80 Jahren über 1100 Namen gesammelt. Wie geht mit einem solchen Befund um, wer NaturLiteratur
schreibt? Was ergibt ein genauer Blick auf Texte eines New Nature Writing? Über literarästhetische Strategien des Benennens, mit Beispielen.

Laura Isengard
„Dinge[ ], die niemand kennt.“ – Adalbert Stifters Kazensilber (1853) und die Kunst der Unterscheidung, S. 31-48

Abstract
Vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels von der klassischen Naturgeschichte zu deutlich dynamisierten Wissensordnungen von Biologie und Lebenswissenschaften profiliert der folgende Beitrag Adalbert Stifters Erzählung
Kazensilber (1853) vor dem diskursiven Hintergrund der Taxonomie als statischem Ordnungssystem der Natur. Ausgehend von der rätselhaften Gestalt des braunen Mädchens soll der Text auf klassifikatorische Unschärfen und Mehrdeutigkeiten befragt werden, auf jenes von Marion Poschmann der Dichtung zugeschriebene subversive Potential einer genuin poetischen Taxonomie. Das Mädchen erweist sich nicht nur als zweifache Retterin, indem es einen das Oberflächliche transzendierenden Naturzugang in die Erzählung einführt. Dieses wird zugleich selbst zum Objekt umfassender Klassifikations- und Integrationsbemühungen. Während Stifters Text zwar ein Bewusstsein für die eigene restriktive und exkludierende Verfahrensweise beweist, ringt auch die Wahrnehmungs- und Sprachordnung der Erzählung letztlich um den Anspruch unbedingter Eindeutigkeit.

Andrea Schütte
Das Pflanzenreich ordnen. Paul Scheerbart im Botanischen Garten, S. 49-66

Abstract
Die Taxonomie vor 1800 ordnet botanisches Wissen auf der Grundlage von Ähnlichkeiten in der äußeren Form und des inneren Aufbaus von Pflanzen in beschreibenden Tableaus. Die Zunahme der bekannten Pflanzen und das Beobachten von Ähnlichkeiten über große räumliche und zeitliche Differenzen hinweg macht es nötig, das botanische Ordnungssystem zu erweitern: Pflanzengeografische und pflanzengeschichtliche Erkenntnisse ermöglichen im Jahrhundert die Konstruktion neuer Ähnlichkeitsbezüge und Abstammungsverhältnisse, die die systematisch beschriebenen Pflanzen in geografische Kontexte und historische Entwicklungslinien stellt. Dieses Wissen um botanische Ordnungsmodelle materialisiert sich in den historischen Botanischen Gärten, an deren Anlage sich oft dieser Teil der Wissenschaftsgeschichte ablesen lässt. Der Dichter Paul Scheerbart, Besucher des Botanischen Gartens in Berlin-Dahlem, deutet in Flora Mohr. Eine Glasblumennovelle (1912) einen Gang durch einen Botanischen Garten an. Indem er botanische Ordnungsmodelle zitiert und zugleich konterkariert, öffnet sich sein Text einerseits für eine wissenschaftsgeschichtliche Lesart und stellt andererseits die Frage, welche Rolle Poiesis/Kunst für die Organisation der Natur spielt.

Anna Staab
Ordnungen im Nebel: Alexander Giesches Inszenierung von Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän am Schauspielhaus Zürich (2020), S. 67-86

Abstract
Der Beitrag diskutiert poetische Taxonomien als Klassifizierungsformen, die die allen Taxonomien inhärente Spannung zwischen empirischer Beobachtung und fiktiver Klassifikation selbst unter Beobachtung setzen. Am Beispiel der von ihrem Regisseur Alexander Giesche als visual poem bezeichneten Inszenierung von Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän am Schauspielhaus Zürich wird gezeigt, wie auf dieser Beobachterebene Ordnungen kollabieren und neue Ordnungsversuche auftreten, in denen nicht Materialität, Beständigkeit und Kohärenz, sondern Virtualität, Flüchtigkeit und Fragmentiertheit Wirklichkeitsbezug erlauben. Weil diese in der Inszenierung vorwiegend in nichtsprachlicher Form auftreten, wird zudem deutlich, dass poetische Taxonomien nicht notwendigerweise die Form von Nomenklaturen oder überhaupt sprachlichen Ordnungen voraussetzen oder annehmen.

Yvonne Pauly
Philologische Taxonomien: Literaturwissenschaftliche (Un-)Ordnungen zeitgenössischer Naturlyrik. Ein Werkstattbericht, S. 87-103

Abstract
Die hier resümierte Veranstaltungsreihe, die im Sommer 2022 im Rahmen des Schülerlabors Geisteswissenschaften an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand, unternahm den Versuch, etablierte literaturwissenschaftliche Praktiken durch Verfremdung ihrer Selbstverständlichkeit zu entkleiden und so der Reflexion zugänglich zu machen. Im Zentrum stand eine Übung, bei der die Teilnehmer:innen, Deutsch-Leistungskurse der 11. Jahrgangsstufe, mit „philologischen Taxonomien“ experimentierten: Nach dem Muster einer Sammlung naturkundlicher Präparate ordneten und klassifizierten sie ein Korpus zeitgenössischer deutschsprachiger Naturgedichte auf Tafeln, wobei die 35 Texte durch Kärtchen mit Autor:innennamen und Titel repräsentiert wurden. Auf diese Weise für das taxonomische Paradigma sensibilisiert, konnten sie Marion
Poschmanns Gedichtpaar der deutsche Nadelbaum/der deutsche Laubbaum, das auf dem poetischen Spiel mit diesem Paradigma beruht, umso kompetenter erschließen.

Jg. 43, H. 1 – Sammelheft – Mit Beiträgen von Felix Lempp, Antje Schmid, Jule Thiemann, Jörg Petersen, Justin Mohler, Carsten Jakobi sowie einer Vorstellung des neuen Herausgeber:innen-Teams der Zeitschrift und einer Retrospektive auf die Geschichte von lfl von Bernhard Spies

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In eigener Sache, S. 1
Vorstellung des neuen lfl Herausgeber:innen-Teams, S. 3-11
Unser Selbstverständnis, S. 11

Bernhard Spies (Mainz/Deutschland)
Warum und wozu es literatur für leser:innen gab und immer noch gibt. Ein Blick in die Historie eines literaturwissenschaftlichen Periodikums, S. 13-16.

Felix Lempp/Antje Schmidt/Jule Thiemann (Hamburg/Deutschland)
Un/Geordnete Begegnungen zwischen Pflanzen, Menschen und Tieren in Lyrik und Prosa der Gegenwart, S. 17-37.

Abstract
Der Beitrag umreißt an Beispielen aus den Schriften Carl von Linnés und Michel Foucaults theoretische Konzeptualisierungen taxonomischer Klassifikationen zwischen Ordnungsanspruch und systeminhärenten Widersprüchen und konturiert so die spezifisch poetischen Potenziale der Taxonomie als literarischer Form und Verfahrensweise. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen beschreibt er sodann am Beispiel von Lola Randls Roman Der große Garten (2019) und Mara-Daria Cojocarus Lyrikband Buch der Bestimmungen (2021) die Spezifika einer Poetik der Taxonomie: Durch Aneignung und Subversion naturwissenschaftlicher Schreibformen inszenieren poetische Taxonomien in der Gegenwartsliteratur am Rand der Ordnungen und im Kollabieren etablierter Kategorien enthierarchisierte Begegnungen zwischen Pflanze, Mensch und Tier.

Jörg Petersen (Hamburg/Deutschland)
„Ergebt euch doch, ergebt euch einander“. Thomas Harlans Hiob-Rezeption, S. 39-56.

Abstract
In der Vielzahl der literarischen Bearbeitungen des Hiob-Themas, die vor allem nach dem Holocaust Konjunktur haben, ist die Thomas Harlans besonders originell. Gleichwohl hat sie in der Literaturwissenschaft keine Beachtung gefunden. Die vorliegende Untersuchung versucht, das nachzuholen. Dazu richtet sie sich nicht nur auf den zentralen Hiob-Text in Harlans Prosaband, sondern auch auf Harlans beide Romane, in denen Hiob ebenfalls, wenn auch nicht so ausführlich wie im Prosaband thematisiert wird. Es zeigt sich mit Blick auf die Jahrhunderte währende und bis in die Gegenwart sich erstreckende und an Hiob entzündende theologische und philosophische Theodizee-Debatte, dass Harlans Hiob-Figur den Hiob der Bibel unter performativem Aspekt in neuem Licht erscheinen lässt.

Justin Mohler (Manchester/New Hampshire, US)
Contagious Becomings: Carmen Stephan’s Mal Aria, S. 57-71.

Abstract
Abstract
Carmen Stephan’s debut novel, Mal Aria (2012), is notable not least of all for its surprising narrator: the much-maligned mosquito. Given our shared history, this perspective could easily devolve into misanthropy. However, the narrator’s relationship with Carmen, her malaria-stricken victim, is in fact deeply ambiguous. Although gifted with the power of self-reflection, she struggles in vain to save Carmen as doctors repeatedly fail to recognize the disease ravaging her body. This article argues that the physicians’ failure, read through the lens of Deleuze and Guattari’s notion of becoming-animal, stems from the blind application of their expertise and subsequent refusal to engage meaningfully with the world on which that knowledge is predicated. Entranced by a hierarchical epistemology based
on chimeric individuality and thus unable to unite theory with an openness to the world, they are rendered at best ineffectual, and at worst, complicit in Carmen’s eventual death.

Carsten Jakobi (Mainz/Deutschland)
„Einem Blutbade entgiengen sie, um in ein andres zu gerathen“ – Zirkuläres Erzählen in Voltaires Candide und in Johann Carl Wezels Belphegor, S. 73-86.

Abstract
Abstract
Johann Carl Wezel, einer der wichtigsten Autoren der deutschen Spätaufklärung, legte 1776 mit seinem Belphegor einen Roman vor, der in der zeitgenössischen und der späteren Rezeption als ‚deutscher Candide‘ bezeichnet und verstanden wurde. Der Aufsatz geht der Frage nach, inwiefern die von Wezel formulierte Kritik über Voltaires Skepsis am Vernunftidealismus hinausgeht und welcher erzählerischen Formen er dazu entwickelt. Die Bedeutung Wezels im deutschen und europäischen literarischen Kontext soll so unter einer erzähltheoretischen Perspektive transparent gemacht werden: Die doppelte Zirkularität (der Ereignis- und der ideelle Zirkel) stiftetet als Modus der Kritik eine weitgehend traditionslos gebliebene satirische Form der Sinnverweigerung.