von Valentin Rauer
Kürzlich hat Thomas Steinfeld das Pamphlet des Osloer Attentäters analysiert und festgestellt, dass es vor allem von zwei stets wiederkehrenden Feindbildern durchsetzt ist: "Multikulturalisten" und "Kulturmarxisten" (SZ vom 27.07.2011). Augenfällig enthalten beide Begriffe das Wort Kultur. Für Steinfeld ist es diesem semantischen Additiv geschuldet, dass es dem rechtsextremen und fundamentalistischen Milieu so leicht gelingt, aus Einwanderern 'Islamisten' und aus Sozialdemokraten 'Stalinisten' zu machen. Wer zustimmend von Multikulturalismus spricht, befürworte zwar Vielfalt, der Begriff kann aber ebenso leicht zur Konstruktion von unverrückbar erscheinenden "kulturellen Anderen" dienen. Ähnlich diffus subsumierend operiere die Rhetorik von Kulturmarxisten. Aufgrund dieses Missbrauchspotentials sei eine starke Zurückhaltung gegenüber dem Kulturbegriff geboten. Man solle besser, so Steinfeld "auf das Wort verzichten"(ebd.).
Dieser Vorschlag ist unrealistisch. Sprache ist zu komplex, als dass wir einfach beschließen könnten, einzelne Begriffe wie Kultur auf den Index zu stellen. Allerdings ist Steinfeld insofern zuzustimmen, dass man sich mit der potentiellen Mobilisierbarkeit von bestimmten Kulturverständnissen auseinanderzusetzen sollte. Beispielsweise wird in den Sozialwissenschaften einerseits in einen vereinheitlichenden Kulturbegriff und andererseits in einen prozessualen bedeutungsorientierten Kulturbegriff unterschieden (vgl. Reckwitz 2006). Ersterer geht von kulturell homogenen Einheiten aus, die sich jeweils als Inkommensurables gegenüber stehen. Ein solches Begriffsverständnis teilt die Welt in ein unverrückbares Wir/Sie ein und legitimiert apokalyptisch fundamentalistische Politiken.
Leider haben die Gesellschaftswissenschaften lange Zeit selbst zu diesem Kulturbegriff beigetragen. Der aktuelle neue Kulturbegriff versteht unter Kultur hingegen Netzwerke von sich stets wandelnden Bedeutungsprozessen. Wenn von "Kulturen" in diesem Sinne gesprochen wird, so sind nicht mehr ahistorische Einheiten im Sinne eines Containerraumes gemeint, sondern sich permanent transformierende Praktiken der Bedeutungsproduktion und Interpretation (vgl. Barth 1969, Latour 1998, Wimmer 2010). Im Gegensatz zu den fiktiven ahistorischen Kultureinheiten beschreibt dieses prozessuale Kulturverständnis die gesellschaftliche Realität. Die Konstruktionen radikaler Ausgrenzungspolitik oder Bedrohungsphantasien vom "ewigen Anderen" können sich auf dieses Kulturverständnis nicht berufen.