Die parlamentarische Kontrolle der deutschen Streitkräfte in Zeiten von WikiLeaks
von Stefanie Kaller und Andreas Auer
WikiLeaks hat mit der Veröffentlichung der Afghan War Logs im Juli 2010 die Einsätze von U.S.-Spezialeinheiten in Afghanistan in den Fokus der Öffentlichkeit katapultiert: Die U.S.-Task Force 373 (TF-373) jagt in Afghanistan Terroristen und Talibanführer. Ihr Auftrag ist es, diese gefangen zu nehmen oder zu töten. Die ISAF-Staaten führen dazu eine Joint Priority Effects List (JPEL), mit den Spalten Capture und Kill, jedoch unterliegen die U.S.-Einheiten dem Mandat der Operation Enduring Freedom (OEF). Die Einsätze unterliegen stets der Geheimhaltung und finden auch im deutschen Mandatsgebiet in Nordafghanistan statt. Hier greifen U.S.-Einheiten auf deutsche Infrastruktur und auf logistische Unterstützung durch die Bundeswehr zurück.Die veröffentlichten Dokumente enthüllen somit ein Problem der deutschen Afghanistanpolitik: Durch die indirekte Beteiligung der Bundeswehr an diesen Einsätzen drängt sich die Frage auf, inwieweit hier eine demokratische Legitimation und die grundgesetzlich-etablierte parlamentarische Kontrollfunktion gegeben sind. Denn problematisch wird die Unterstützerrolle der Bundeswehr im Regional Command North (RC-North), sobald sie den Bereich des parlamentarischen Mandats verlässt. Das OEF-Mandat für die Bundeswehr – das den Einsatz von bis zu 100 Soldaten des Kommando Spezialkräfte vorsah – wurde Ende 2008 nicht verlängert; das Engagement in Nordafghanistan findet seit dem nur noch im Rahmen der Sicherheits- und Aufbaumission ISAF statt.
Immer wieder wird erwähnt, dass die Enthüllungen von WikiLeaks keinen erheblichen Informationsmehrwert schaffen würden. Dennoch reagierte die deutsche Opposition auf die Veröffentlichungen und auf das darauffolgende mediale Echo. Somit ist zu vermuten, dass die Transformation des Wissens – von Annahmen hin zu einer schriftlichen Grundlage – über klandestine Spezialeinsätze etwas bewirkt hat: Fraglich ist, ob die erhöhte Transparenz, die auf Grund der Wikileaks-Veröffentlichungen geschaffen wurde, zu einer Abnahme der Informationsasymmetrie zwischen Parlament und Regierung geführt hat.
Eine Reduzierung der Informationsasymmetrie zwischen Regierung und Parlament bzgl. des Afghanistaneinsatzes könnte zu einer Stärkung der Opposition führen. So würde Wikileaks im Idealfall – angesichts immer stärkerer Tendenzen zur Geheimhaltung – durch die gezielte Bereitstellung von Informationen ein höheres Maß an politischer Kontrolle ermöglichen.
Auf Grund der unterschiedlichen Mandatierungen sind das Verhalten der ISAF-Streitkräfte während eines Einsatzes der TF-373 sowie die Unterstützungsleistungen durch andere Staaten, wie beispielsweise die Bereitstellung von Luftaufnahmen oder die Nutzung von Militärstützpunkten, juristisch fragwürdig. So unterstützt auch die Bundeswehr die U.S.-Spezialkräfte, wenn diese auf deutschen Flugplätzen im RC-North landen, betankt Hubschrauber und Flugzeuge und bietet logistische Hilfe.
Obwohl in den von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten die bereits erwähnte Joint Priority Effects List nicht enthalten ist, lassen sich anhand von Meldungen über JPEL-Aktionen Rückschlüsse auf die Zielpersonen ziehen: Nach Spiegel-Berichten wurden mindestens sieben Taliban-Kommandeure von der Bundeswehr in die Capture-Spalte der JPEL gesetzt, von denen mindestens zwei durch amerikanische Spezialeinheiten getötet wurden. Das Hinzufügen von Capture-Kandidaten auf die JPEL seitens der Deutschen, ist politisch wie rechtlich nicht weniger problematisch, wenn U.S.-Spezialeinheiten die ausführenden Kräfte sind. So berichtet der Guardian von zahlreichen JPEL-Zielen, die verhaftet und in ein Spezial-Gefängnis in Bagram gebracht wurden und zum Teil seit Jahren ohne Prozess dort festgehalten werden. Auch wenn das Verfahren der JPEL-Nominierung stark reglementiert ist, so unterliegt der Vorgang nicht der parlamentarischen Kontrolle, sondern verbleibt in den Händen des Militärs und des Verteidigungsministeriums: Das RC-North muss einen Kandidaten anhand von Beweismaterial vorschlagen; dieser Antrag wird vom Einsatzführungskommando bei Potsdam geprüft und wird an das Verteidigungsministerium weitergereicht. Nach einem positiven Bescheid durch das Ministerium geht der Antrag zurück nach Afghanistan und muss vom Oberkommandierenden der ISAF-Truppen bestätigt werden.
Fraglich ist demzufolge, inwieweit das Vorgehen der Bundeswehr in Afghanistan unter Abstimmung mit Regierung und Parlament geschieht. In welchem Maße greift die demokratische Kontrolle der deutschen Streitkräfte und welche möglichen Kontrollmaßnahmen werden vom Parlament in Anspruch genommen?
Eine von den Grünen gestellte ‚Kleine Anfrage‘ ergab, dass die Soldaten der Bundeswehr nach Ansicht der Bundesregierung „weder an der Vorbereitung und Planung noch an der Durchführung von national durch die USA geführten Operationen beteiligt sind.“ Die Antwort der Regierung betont, dass keine Veränderung der Informationsweitergabe im Bundestag notwendig sei. An einem Abbau der Informationsasymmetrie im Parlament besteht somit kein Interesse.
Kurz nach den Veröffentlichungen gab es heftige Reaktionen im deutschen Bundestag. So äußerten sich Politiker und Parteivorsitzende öffentlich zu WikiLeaks und den War Logs. Die Mehrheit von ihnen beklagte, nicht ausreichend über den Afghanistaneinsatz informiert worden zu sein. Nach Angaben der Abgeordneten sei die nötige Transparenz im Bundestag nicht gegeben. Auf Grund der vorhandenen Informationsasymmetrie erscheint die parlamentarische Kontrolle von Streitkräften somit schwierig.
Die Mehrheit der Abgeordneten scheint sich – selbst wenn sie sich zum Thema äußerten – nicht direkt mit den veröffentlichten Dokumenten auseinandergesetzt zu haben. Es ist zu vermuten, dass die Informationsbeschaffung der Parlamentarier, auch auf Grund mangelnder Ressourcen, durch die Medien erfolgte. Auch wenn die Inhalte der War Logs in schriftlicher Form bisher nicht vorlagen, so scheint ein Großteil davon Personen bereits bekannt gewesen zu sein, die sich intensiv mit der Thematik des Afghanistaneinsatzes auseinandergesetzt haben. Eine unzureichende Informationspolitik seitens der Regierung ist daher nicht belegbar. Eine Abnahme der vorherrschenden Informationsasymmetrie zwischen Regierung und Parlament ist auf Grund der Veröffentlichungen durch WikiLeaks nicht zu erkennen. Somit bleibt das Informationsgefälle innerhalb des Parlaments bestehen.
Die Opposition hat ihre Handlungsmöglichkeiten der Informationsgewinnung nicht annähernd ausgeschöpft. Die War Logs liefern eine schriftliche Arbeitsgrundlage, die eine aktivere Auseinandersetzung mit dem Auslandseinsatz ermöglichen würde. Zwar wurden einige Anfragen auf Grund der Dokumente formuliert, doch würde es zu weit gehen, dabei von einer Effizienzsteigerung des deutschen Parlamentes zu sprechen. Dies wirft Zweifel auf, ob überhaupt ein ernsthaftes Interesse an einer Veränderung der Politik im Parlament besteht. Transparenz, die notwendig ist für eine möglichst effektive demokratische Kontrolle der Streitkräfte, wurde nicht erhöht.
Festzuhalten ist, dass Anspruch und Wirklichkeit der demokratischen Kontrolle der deutschen Streitkräfte auseinanderklaffen. Besonders die deutschen Restriktionen bei der Auslegung des ISAF-Mandats erscheinen paradox bei Betrachtung der Unterstützung von Spezialeinheiten wie der TF-373. Offen bleibt die rechtliche Beurteilung der geleisteten Unterstützung. Da die Opposition ihre Kontrollfunktion in diesem Fall nicht effektiver genutzt hat, ist zu vermuten, dass es sich bei der logistischen Hilfestellung für operierende U.S.-Einheiten um einen rechtlichen Graubereich handelt. Fraglich ist in jedem Fall der Umgang mit der JPEL-Liste, wenn amerikanische Soldaten außerhalb des ISAF-Mandats die ausführenden Kräfte sind. Dabei wird deutlich, wie schwierig die parlamentarische Kontrolle von Streitkräften eines multinationalen Einsatzes ist, in dem nach zwei gänzlich unterschiedlichen Mandaten sowie länderspezifischen Einsatzbeschränkungen agiert wird. Was die Veröffentlichung der Afghan War Logs zudem deutlich gemacht hat, ist die Kluft zwischen medialer Präsentation und politischer Artikulation des ISAF-Einsatzes und den tatsächlichen Geschehnissen.
Es scheint als wären die Mechanismen der demokratischen Kontrolle bisher nicht ausreichend auf das Phänomen des Leaking ausgerichtet, um eine neue Kontrollfunktion auszuüben. Möglicherweise ist die Informationsasymmetrie bei den Parlamentariern, die Teil des politischen Systems sind, akzeptiert und etabliert. Leaking trägt in diesem Fall nicht zu einer subversiven Demokratisierung bei. Die War Logs hatten demnach nur eine marginale Auswirkung auf die demokratische Kontrolle von Streitkräften und haben diese langfristig nicht verändert.