von Julian Junk
Spätestens seit einem vielbeachteten Artikel von Außenministerin Clinton in Foreign Policy (November 2011) mit dem Titel „America's Pacific Century“ rauscht und raunt es im sicherheitspolitischen Blätterwald. Ist Europa nun endgültig der Aufmerksamkeit der USA entzogen? Wird die NATO nur noch zu einem strategisch hohlen Relikt transatlantischer Zuneigungsbekundung und spielt die sicherheitspolitische Musik nun neuerdings im Pazifik? Nein, denn, wie dieser Beitrag argumentiert, handelt es sich bei der aktuellen Politik der Obama-Administration weder um ein Nullsummenspiel noch um einen Bruch mit historischen Kontinuitäten.
Welcher hohe Stellenwert der Frage, ob im Moment ein fundamentaler Wendepunkt in Amerikas Sicherheitsstrategie zu beobachten ist, in den berühmten „sicherheitspolitischen Kreisen“ zukommt, lässt sich auch daran ablesen, dass sich ein ambitioniertes neues Konferenzformat gleich diesem Thema widmete. Mit der ersten „Tiergarten Conference“ (Webseite) am 13. September 2012 versucht die Friedrich-Ebert-Stiftung ein Berliner Pendant zur Münchner Sicherheitskonferenz zu etablieren - wobei eine klarere thematische Schwerpunktsetzung und der stärkere Austausch mit der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft sie von dieser unterscheiden soll. Zumindest die Rednerliste von Kevin Rudd über Frank-Walter Steinmeier und Julianne Smith bis hin zu John Agnew machte deutlich, dass es der Friedrich-Ebert-Stiftung ernst mit diesem Anspruch ist.
Es ist unstrittig, dass der asiatisch-pazifische Raum nach allen klassischen Kennziffern zu einem großen, wenn nicht gar zum größten Kraftzentrum der globalen Wirtschaft geworden ist. Untrennbar ist dies mit dem ökonomischen und politischen Aufstieg Chinas verbunden, der, so waren sich alle Konferenzteilnehmer einig, nachhaltig ist. Schon zu Beginn seiner Amtszeit, machte Obama klar, dass er dieser Region eine stärkere Aufmerksamkeit schenken wolle. Jedoch bekam die Debatte in den letzten Jahren semantisch eine eigentümliche Wendung. In ihrem Artikel verwendete Clinton den Begriff „pivot point“, um die Hinwendung der amerikanischen Sicherheitspolitik gen Westen zu umschreiben. „Pivoting“, also in etwas ein „Umschwenken“ und „Umdrehen“, wurde somit zum geflügelten Schlagwort, welches die Kommentare bestimmte.
Wie John Agnew deutlich machte, wird aber oft vergessen, auf was sich Clinton damit eigentlich bezog: nämlich auf einen Wendepunkt nach den Kriegen im Irak und Afghanistan und dem Freiwerden der dort gebundenen Mittel und Aufmerksamkeit. Der Bezugspunkt war nicht das transatlantische Bündnis. Laut Agnew ist zwar nicht zu bestreiten, dass es eine zunehmende strategische Rivalität mit China gibt - angeheizt nicht zuletzt durch den republikanischen Wahlkampf und die neue Asienstrategie des US Verteidigungsministeriums, das sie „AirSea Battle“ taufte und damit natürlich bewusst Assoziationen zur Europastrategie in den 1980er Jahren mit dem Namen „AirLand Battle“ zuließ. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine radikal neue Entwicklung: die USA waren schon immer auch eine pazifische Macht. Im Pazifik begann der Zweite Weltkrieg für die Amerikaner. Viele Stellvertreterkriege im Kalten Krieg wurden im asiatisch pazifischen Raum geführt (man denke nur an Korea und Vietnam). Die ökonomische Herausforderung durch Japan dominierte die 1980er Jahre und schon die W. Bush-Regierung widmete sich intensiv Chinas Aufstieg.
Neu ist lediglich, wie aktiv sich die Obama Administration zumindest mit diplomatischen Mitteln wieder Chinas Nachbarn widmet und dies durchaus mit einigen Anklängen an eine Eindämmungsstrategie - militärisch hingegen sind die Veränderungen bislang eher kosmetisch (siehe die Truppenstationierung in Australien). Wie Offizielle aus der US Administration während der Tiergartenkonferenz betonten, ist „pivoting" auch nicht der offizielle Sprachgebrauch. Lieber spricht man von „rebalancing" und „recalibration", macht damit zwar Veränderungen deutlich, aber eben auch eine Anknüpfung an sicherheitspolitische Traditionslinien. Auch wiesen sie darauf hin, dass man ja bewusst von „Asia-Pacific“ spreche und die in der öffentlichen Debatte geführte Überidentifikation mit China nicht der Realität entspreche. Indien, Japan, Australien und viele andere Staaten sind damit genauso einbezogen.
Was bedeutet dies für Europa? Wie viele Konferenzteilnehmer betonten, ist die Angst vor einem Rückzug der Amerikaner aus Europa nichts Neues. Auch sie war schon immer präsent. Natürlich gebe es nun die Schließung von einigen US-Truppenstandorten, die eventuell durch die gerade diskutierte Abberufung von General Mark Hertling als Oberkommandierendem amerikanischer Streitkräfte in Europa beschleunigt wird. Aber auch in den USA selbst werden Standorte geschlossen und zusammengelegt. Der Raketenabwehrschirm, die zusätzliche Kooperation bei der Ausbildung und Entsendung von Sondereinsatzkräften sowie der Stellenwert der NATO-Gipfel zeigten hingegen, dass es den USA mit ihrem transatlantischen Engagement ernst ist und das wachsende trans-pazifische Engagement nicht vollumfänglich zu dessen Lasten ginge. Es handelt sich also einerseits um eine bisherige Überhöhung der transatlantischen Achse im sicherheitspolitischen Diskurs, der so nicht der Realität amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik entsprach, zum anderen eine Übertreibung der aktuellen Entwicklung als Neuorientierung und Wendepunkt. Vielmehr ist es schlicht so, dass das strategische Verhältnis zwischen China und den USA noch die richtige Balance zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit finden muss. Neues erweckt mehr Ängste und Neugier - und mithin Aufmerksamkeit.
Aus europäischer Sicht sollte es einem eher zu Denken geben, dass man bei den strategischen Entwicklungen de facto nicht mitgestaltet, auch wenn sich Deutschland durch strategische Dialoge mit China und Indien darum bemüht. Wie einige asiatisch-pazifische Teilnehmer betonten: eine einheitliche und kraftvolle europäische Stimme wäre sehr gewünscht, aber sie ist nicht vernehmbar. Ein Problem, das durch die Nabelschau im Zuge der Eurokrise noch verschärft wird. Während also hinter der Asien-Pazifik-Strategie der Obama-Administration mehr eine Ergänzung und Rückbesinnung denn eine Neuausrichtung des bisherigen strategischen Rahmens vermutet werden kann, wäre eine Ergänzung der europäischen Strategie dringend angebracht.
Vielen Dank für deinen Beitrag, Julian! Prinzipiell stimme ich dir zu. Ich teile die Ansicht, dass die Aufregung über den “pivot” ein wenig übertrieben ist – nicht zuletzt, weil häufig übersehen wird, dass wesentliche Kennzahlen (wirtschaftlicher Austausch, FDI, Rüstungsausgaben etc.) die These von der “Machtverschiebung” vom Atlantik zum Pazifik zumindest weniger dramatisch erscheinen lassen.
Viel interessanter finde ich gegenwärtig die – dann potentiell doch weitreichenden – Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft und der Wahrnehmung von Europa. Hier ist doch ein Generationenwandel zu erahnen, dessen Auswirkungen die transatlantischen Beziehungen massiv beeinflussen werden. Zum Teil ist es schon jetzt deutlich, dass die aktuelle Führungsriege (gerade nach dem Abgang von Bob Gates) längst nicht mehr so von der “guten alten Zeit” der klassischen Transatlantiker geprägt wurde wie ihre Vorgänger. Und der Trend, dass Europa für die Amerikaner weniger wichtig wird, scheint sich fortzusetzen. Unter anderem sieht man dies an den Zielländern amerikanischer Austausch-Studenten. Letzte Woche hat der Chicago Council seine jährliche Umfrage zur öffentlichen Meinung in Bezug auf Außenpolitik vorgestellt. Dort heißt es auf den Seiten 33-34:
“For the first time in Chicago Council Surveys going back to 1994, when asked which continent is more important to the United States—Asia or Europe—slightly more Americans (52%) say that Asia is more important than say Europe is more important (47%). This is a 10-point increase from 2010 in those seeing Asia as more important (see Figure 4.1). The percentage seeing Asia as more important than Europe has been steadily rising over the nearly two decades since this question was first asked. […]
Millennials (as well as those under the age of forty-five) are more inclined to feel that Asia is more important to the United States than Europe (58% Asia to 40% Europe), while those sixty or older (along with those over forty-five more generally) most often name Europe (54% Europe to 46% Asia).”
Das sind sicher Entwicklungen, die man in Europa zum Teil noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Umso wünschenswerter wäre es, wenn sich die Europäer tatsächlich stärker in der strategischen Debatte einbringen würde. Ob sie das aber tun werden? Kevin Rudd machte zu dieser Frage auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine sehr deutliche Bemerkung: “The danger that I see is Europe progressively becoming so introspective and so preoccupied with its internal problems on the economy and on the eurozone in particular that Europe runs the risk of talking itself into an early economic and therefore globally political grave.”
Quellen/Links:
Chicago Council: Foreign Policy in the new Millennium. Results of the 2012 Chicago Council Survey of American Public Opinion and U.S. Foreign Policy, http://www.thechicagocouncil.org/files/Studies_Publications/POS/Public_Opinion.aspx
Kevin Rudd: Beitrag auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Video: http://www.securityconference.de/Kevin-Rudd.837+M52087573ab0.0.html
Konferenzbericht (mit Abschnitt zur Debatte über “The United States, Europe, and the Rise of Asia”): http://www.securityconference.de/Top-News-Detail.55+M5db6783070a.0.html (dort Link zum PDF-Dokument)