Karlsruhe erliegt apokalyptischen Szenarien

von Valentin Rauer

Künftig ist eingeschränkt der Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt – und niemand kommentiert. Niemand? Doch: die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh ruft in der Süddeutschen Zeitung ein fassungsloses „Hallo?“ (SZ 01.09.2012, S. 2) in die schweigende Öffentlichkeit. Wie kann es sein, das eine „heilige Kuh“ der deutschen Sicherheits- und Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg geschlachtet werde, ohne dass es zu öffentlichen Protesten oder zu anhaltenden Debatten komme?
Schuld daran sei der Terroranschlag am 11. September 2001. Die Bilder der einstürzenden Türme treten in Konkurrenz zu den Bildern des brennenden Europas der Jahre 1939-1945. Aus dem Nie wieder Krieg! wird ein Nie wieder 9/11! Eine solche Verschiebung sei dem „apokalyptischen Szenario“ der Bilder von New York geschuldet, das „sachliches Denken behindere“. Kein Richter könne sich vorstellen, zuschauen zu müssen, wie Flugzeuge ungehindert in den Reichstag steuern. Zwar sei kein Beschuss erlaubt, nur das Abdrängen und Warnschießen durch Kampflugzeuge (oder durch Drohnen), gleichwohl sei damit ein entscheidendes „Leck“ in eine der wichtigsten Nachkriegserrungenschaft der Bundesrepublik geschlagen worden.

Warum ist der 11. September ein „apokalyptisches Szenario“? Es war ein Terroranschlag, kein die Welt vernichtender Dritter Weltkrieg. Historisch ist die Apokalypse eine biblische Apokryphe, die von den Theologen aufgrund ihrer großen Popularität in der Bevölkerung des Mittelalters akzeptiert wurde. Es ging um nichts weniger als den drohenden Weltuntergang und dem anschließenden Beginn eines neuen, gerechteren Zeitalters. Im Laufe der Jahrhunderte verlor diese „Offenbarung“ an Überzeugungskraft. Erst gegen Mitte des 19. Jh. erlebte sie eine Renaissance im Zuge Verwerfungen der Klassenkämpfe des industriellen Zeitalters. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. war die Apokalypse mit einem Mal in Gestalt des atomaren Overkills wieder vollständig zurückgekehrt. Sie reichte in den Alltag bis hin zu den Jugend- und Kinderbüchern von Gudrun Pausewangs „Die letzten Kinder von Schewenborn“. Die Bücher ließen hinter den Kinderzimmergardinen sprichwörtliche Atompilze in den Himmel aufsteigen. Eine Vernichtung der Menschheit – nun allerdings ohne neues Zeitalter – war nahe. Aber der 11. September? Warum hat dieser terroristische Anschlag apokalyptische Qualitäten die ein über Jahrzehnte für stabil geglaubtes Gleichgewicht der BRD zwischen Erinnerungskultur und Sicherheitskultur ins Wanken bringen sollen? Man könnte meinen, es seien die Bilder, der fallenden Körper, der Staub in den Straßen von New York. Aber diese Bildpräsenz erklärt nicht überzeugend eine solche Zäsur. Apokalyptisch ist das Ereignis nicht im Sinne eines Weltuntergangs, sondern im Sinne einer Ununterscheidbarkeit. Seit 9/11 ist die Ausmalung „katastrophaler Szenarien“ (Tellmann/Opitz 2011) nicht mehr durch Unterscheidbarkeit zwischen dem Sicheren, Guten und Wahren versus dem Bedrohlichen, Bösen und Irrglauben konstituiert, sondern durch den Verlust an Unterscheidbarkeit zwischen Sicherheit und Bedrohung.

Diese Ungewissheit über das Ausmaß unseres Nichtwissens über die Zukunft wird als neues apokalyptoides, d.h. Apokalypse-ähnliches Bedrohungsszenario wahrgenommen. Wenn wir nicht wissen, was wir nicht wissen (Daase/Kessler 2007), dann verlassen wir uns auf die Kraft der Bilder, der Narrationen und Vorstellungen. Nicht das drohende Weltende schürt zu Beginn des 21. Jh. die größte Angst, sondern die apokalyptoide Ungewissheit. Für eine ausführliche Analyse siehe das [Sicherheitskultur-Working Paper #12].

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