von Daniel Kaiser
In den letzten Jahren ist die Weltöffentlichkeit Zeuge vieler sozialer Proteste und auch einiger neuen Protestformen geworden: Sei es die revoltierende Jugend im sogenannten Arabischen Frühling, die Indignados in Spanien, die 99% der Occupy-Bewegung oder lokale Proteste gegen Staudammprojekte im Amazonas und Stadtentwicklungspolitik in Berlin und Hamburg - überall versammeln und organisieren sich in zunehmendem Maße Menschen, um gemeinsam zu protestieren und Widerstand zu leisten. Der gemeinsame Nenner all dieser spezifisch doch recht unterschiedlichen Bewegungen ist, dass sie durch die neuen Kommunikationstechnologien ganz neue Formen des kollektiven Protests hervorgebracht haben.
In diesem Zusammenhang werden zahlreiche Fragen aufgeworfen, z. B. nach ihrem Entstehen, den neuen Ausdrucksformen, der transnationalen Vernetzung und nicht zuletzt ihrer politischen Veränderungskraft. Zudem werden dabei stets gesellschaftlich relevante (Sicherheits-)Diskurse und Dispositive (re-)produziert. Dies bedeutet wiederum eine große Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Forschung. Häufig kommen Forscher_innen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, aus dem näheren oder weiteren Umfeld der Bewegungen, haben ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse und greifen auf partizipative Methoden zurück (und auch hier im Sicherheitskultur-Projekt haben wir das schon praktiziert). Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltete deshalb am vergangenen Wochenende die Tagung Research Transformation – Transforming Research. Emanzipatorische Perspektiven auf Protest, Widerstand und Subjekte. Dabei ging es vor allem um die Frage der Potenziale emanzipatorischer Bewegungsforschung und die Positionierung der Wissenschaftler_innen zwischen den antagonistischen Positionen einer bewussten Parteilichkeit auf der einen und wissenschaftlicher Neutralität auf der anderen Seite.
Im Anschluss an die Konferenz traf ich mich mit einem Konferenzteilnehmer aus Madrid zum Gespräch, um über partizipative Bewegungsforschung und seine persönlichen Erfahrungen zu diskutieren. Javi ist Politikwissenschaftler und erforscht die Bedeutung virtueller Netzwerke wie Twitter und Facebook für die Entstehung realer Organisationsstrukturen der Protestbewegung in Spanien. Gleichzeitig war er selbst aktiv in die Proteste involviert und sieht sich als Teil der Bewegung.
Während unseres Gesprächs wurde deutlich, dass auch ein klares Bekenntnis zur emanzipatorischen Forschung eine reflektierte Positionierung nötig macht. Wie auch Dieter Rucht in seinem Vortrag erläuterte, kann es zunächst als allgemein geteilte Annahme in der Bewegungsforschung gelten, dass eine radikal wertfreie (Sozial-)Wissenschaft praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Allein schon die Wahl des Untersuchungsgegenstands und das verfolgte Erkenntnisinteresse lassen sich nicht objektiv begründen. Ohne die detaillierten Kenntnisse der sozialen Kommunikations- und Organisationsstrukturen, so bestätigte mein Gesprächspartner, wäre es ihm unmöglich gewesen, überhaupt die Idee für sein Forschungsvorhaben zu entwickeln. Ohne die aktive Teilnahme bei der Entwicklung der fluiden und wenig institutionalisierten Strukturen wäre seine Untersuchung nicht realisierbar gewesen. Durch die aktive Teilnahme sei es zudem möglich, die Integration der Forschung in gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu garantieren und somit authentischere und validere Ergebnisse zu erzielen. Darüber hinaus wird eine Objekitivierung des protestierenden Subjekts vermieden und marginalisiertes Wissen zu Tage gefördert. Gerade bei Protesten wie denen in Spanien sei es entscheidend, dem meist außenstehenden "publizistischen Mainstream" die "Stimme der Marginalisierten" entgegenzusetzen.
Nichtsdestotrotz musste er klar eingestehen, dass eine parteinehmende Wissenschaft und dementsprechend starke Identifikation mit dem Gegenstand gewisse Probleme mit sich bringt. So stellt sich zum Beispiel die etwas überspitzte Frage, ob ausschließlich Rechtsradikale über Rechtsradikale forschen sollten. Hier wird das Problem der Repräsentativität und Reliabilität deutlich, das ein Mindestmaß an Distanz und kritischer Reflektion erfordert. Wie Beispiele aus der anthropologischen Forschung zeigen, kann zudem eine zu starke Partizipation seitens der Forscher_innen zu einer kritischen oder gar ablehnenden Haltung seitens der handelnden Subjekte führen. Javi berichtete davon, dass das Ansehen von Anwält_innen, die einen erheblichen persönlichen Vorteil aus der Übernahme der juristischen Vertretung der Aktivist_innen ziehen, im Vergleich zu forschenden Sozialwissenschaftler_innen deutlich höher sei. Teilweise seien Letztere sogar regelrechten Anfeindungen ausgesetzt gewesen ("intellektuelle Quacksalber").
Ohne die Diskussion an dieser Stelle bis ins letzte Detail abbilden zu wollen, kann festgehalten werden, dass weder der Anspruch einer wertfreien Wissenschaft noch eine maximale Parteilichkeit und Identifikation dem Anspruch emanzipatorischer Wissenschaft gerecht werden können. Zum Einen kann Wissenschaft nicht neutral sein. Besonders wenn sie von Finanzierung durch die Gesellschaft abhängt und einen aufklärerischen Anspruch erhebt, ist eine gewisse Parteinahme unvermeidbar. Vielmehr ist die Bereitschaft zu "organized scepticism" (Robert Merton) entscheidend, sich auf eine konfliktive Argumentation einzulassen und eigene Positionen zunächst hinterfragen und notfalls auch revidieren zu können. Grundlage sollte stets die Orientierung an gewissen wissenschaftlichen Qualitätsmaßstäben wie Verallgemeinerungsfähigkeit, Offenlegung aller(!) Ergebnisse und Nachvollziehbarkeit der verfolgten Interessen bleiben. Die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe muss im Forschungsprozess immer wieder neu bestimmt werden: Im emanzipatorischen Interesse der sozialen Bewegungen wie auch im Sinne von guter wissenschaftlicher Praxis.
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