Von Oliver Ibert
Logo der Blogreihe: Vulnerability von Daniel Kulinski von Daniel Kulinski unter CC BY-NC-SA 2.0
Es gibt wohl kaum einen zweiten Begriff neben „Resilienz“, der eine ähnlich erfolgreiche Karriere in sehr unterschiedlichen Anwendungsfeldern hinlegen konnte. Wurde Resilienz ursprünglich in der Medizin und der Psychotherapie verwendet, so griffen ihn zunächst die Entwicklungshilfe und Katastrophenvorsorge auf bevor er dann weiter wanderte in die Sozial-, Wirtschafts- und Organisationsentwicklung sowie Sicherheitspolitik. Was eint diese sehr unterschiedlichen Felder?
Erstens sind es sehr dynamische Felder, die durch Wandel dominiert werden. Es herrschen also Bedingungen vor, die Grundfragen jeder Zivilisation dringend werden lassen: Was wird im Angesicht des Wandels bedroht? – also die Frage nach Vulnerabilität! Was ist im Angesicht eines übermächtigen Wandels bewahrenswert? – die Frage nach Resilienz! Beide Aspekte, die Verletzbarkeit und das bewahrende Wertschätzen gehören untrennbar zusammen. Es handelt sich um aufeinander bezogene Leistungen der sozialen Konstruktion, bei denen kollektiv ausgehandelt wird, welche Einheiten aus der unüberschaubar komplexen Realität herausgetrennt und als bewahrenswert hervorgehoben werden, welche bedrohlichen Beziehungen zu anderen Elementen im Sinne des Wortes „wahr“ genommen werden und welche Handlungen ergreifbar erscheinen.
Zweitens sind diese Felder durch eine intensive Verzahnung von einer durch wissenschaftliche Ausbildung professionalisierten Praxis und einer stark anwendungsbezogenen, beratenden Forschung geprägt. Für Akteure, die in dieser Gemengelage agieren, erfüllen die Begriffe Vulnerabilität und Resilienz eine strategisch wichtige Funktion, da sie reflektiertes und wissenschaftlich informiertes Handeln in komplexen Situationen versprechen. Die von Wissenschaft und Praxis gemeinsam vollzogene Konstruktionsleistung reduziert Komplexität, so dass kollektives Handeln hin zu sozio-technischen Lösungen ermöglicht wird. So erfreulich dieses Zusammentreffen von (Sozial-)Wissenschaft und Praxis im Handeln sein mag, es wirft ein Problem auf. Die gemeinsam unternommene Konstruktionsarbeit verschließt den Blick auf die den Konstruktionen zugrundeliegenden Logiken und den damit einhergehenden blinden Flecken und normativen Orientierungen. Diese Blindheit hilft dabei, Handlungssicherheit zu schaffen, aber sie schafft nur eine trügerische Sicherheit, bei der die Folgen des Handelns schnell wieder auf die Handelnden und andere mehr oder weniger Beteiligte unerwartet zurück fallen können.
Paradoxerweise sollte eine anwendungsbezogenen Forschung, möchte sie der Praxis neue Erkenntnisse liefern, einer distanzierten, stärker der Grundlagenforschung entlehnten Perspektive. Am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner haben wir uns dafür entschieden, als Sozialwissenschaftler eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung einzunehmen, um genau diesen Mehrwert für die Praxis zu generieren (Christmann und Ibert 2012): also nicht Mitmachen bei der sozialen Konstruktion von Vulnerabilität und Resilienz, sondern die Akteure beim Konstruieren beobachten und das Beobachtete an die Praxis zurückspiegeln! Diese Perspektive schärft den analytischen Blick dafür, welche Teile der Realität unberücksichtigt bleiben, wenn bewahrenswerte Einheiten abgegrenzt werden, welche Beziehungen unterbelichtet bleiben, wenn Bedrohungen analysiert werden, welche Handlungsmöglichkeiten genau deshalb systematisch unberücksichtigt bleiben und welche un-intendierten Nebenfolgen die nahe liegenden Handlungsmöglichkeiten nach sich ziehen.
Eine so verstandene Sozialwissenschaft entlarvt die Konstruktion von Resilienz als eine Quadratur des Kreises. Zugleich entlastet sie die Praxis vor überhöhten und unrealistischen Erwartungen und schafft erweiterte Handlungsalternativen, indem sie Zweifel streut.